Das Jahr 2000

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Viertes Kapitel

Ich fiel zwar nicht in Ohnmacht, aber durch die Anstrengung, mir ein klares Bild von meiner Lage zu machen, wurde ich ganz schwindlig und ich weiß noch, dass mein Wirt mir seinen starken Arm geben musste, als er mich von dem Dache in ein geräumiges Zimmer im zweiten Stockwerk führte, wo er darauf bestand, dass ich ein paar Gläser guten Weines trank und etwas aß.

»Ich denke, jetzt wird alles vorüber sein«, sagte er heiter. »Ich würde nicht so ein starkes Mittel gewählt haben, Sie von Ihrer Lage zu überzeugen, hätte mich nicht Ihre Auffassung von der Sache, so entschuldbar sie unter den Umständen ist, dazu genötigt. Ich gestehe«, fügte er lachend bei, »einmal fürchtete ich, ich würde einen Faustschlag von Ihnen bekommen, wenn ich nicht rasch handelte. Ich wusste, dass die Bostoner zu Ihrer Zeit berühmte Faustkämpfer waren und hielt es für das Beste, keine Zeit zu verlieren. Ich hoffe, Sie werden mich jetzt von der Anklage, dass ich Sie gefoppt hätte, freisprechen.«

»Wenn Sie mir gesagt hätten«, erwiderte ich ganz überwältigt von dem was ich gesehen, »dass tausend und nicht nur hundert Jahre vergangen wären, seit ich diese Stadt zuletzt gesehen, würde ich es jetzt glauben.«

»Nur ein Jahrhundert ist vergangen«, antwortete er, »aber manches Jahrtausend hat nicht solche wunderbaren Veränderungen in der Welt hervorgebracht.«

»Und nun«, fügte er bei und streckte seine Hand mit unwiderstehlicher Herzlichkeit aus, »lassen Sie mich Sie in dem Boston des 20. Jahrhunderts und in diesem Hause herzlich willkommen heißen. Ich heiße Leete, Dr. Leete nennt man mich.«

Ich schüttelte ihm die Hand und sagte: »Ich heiße Julian West.«

»Ich freue mich sehr, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr West«, antwortete er. »Sie wissen, dass dieses Haus auf der Stelle Ihres eigenen erbaut ist, so hoffe ich, Sie werden sich leicht heimisch darin fühlen.«

Nach einigen Erfrischungen schlug mir Dr. Leete vor, ein Bad zu nehmen und Kleider zu wechseln, wovon ich mit Freuden Gebrauch machte.

Es schien nicht, als hätte eine große Umwälzung in der männlichen Kleidung stattgefunden, denn, einige Kleinigkeiten ausgenommen, waren mir meine neuen Kleider nicht auffällig.

Ich war nun physisch wieder ich selbst. Aber wie es in meinem Inneren aussah, wird der Leser gern wissen wollen. Was waren meine Empfindungen, als ich mich auf einmal gleichsam in eine neue Welt hineingeschneit fand? Wie würde der Leser sich fühlen, wenn er in einem Augenblick von der Erde ins Paradies, oder meinetwegen in die Hölle versetzt wäre? Würden seine Gedanken sofort zur Erde, die er eben verlassen hat, zurückkehren, oder würde er, nach dem ersten Schreck, sein früheres Leben unter den neuen Eindrücken vergessen, und sich erst später desselben wieder erinnern? Alles, was ich aus eigener Erfahrung bei meiner gegenwärtigen Veränderung sagen kann, ist, dass die letzte Hypothese wohl die richtige sein wird. Die Eindrücke des Erstaunens und der Neugierde, welche meine neue Umgebung hervorbrachte, beschäftigten mich, nach dem ersten Schreck, in einer Weise, dass alle anderen Gedanken ausgeschlossen waren. Zur Zeit war die Erinnerung an mein früheres Leben ausgelöscht.

Sobald ich mich durch die Güte meines Wirtes physisch erholt fühlte, war ich begierig, wieder auf das Dach zurückzukehren; und alsbald saßen wir dort in bequemen Stühlen, die Stadt unter und um uns herum. Nachdem mir Dr. Leete zahlreiche Fragen über die alten hervorragenden Gebäude, die ich vermisste, und die an deren Stelle getretenen beantwortet hatte, fragte er mich, was mir beim Vergleich der neuen mit der alten Stadt am meisten auffalle.

»Um zuerst von unbedeutenden Dingen zu sprechen«, antwortete ich, »so fällt mir vor allem auf, dass es keine Schornsteine und keinen Rauch gibt.«

»Ach!« rief mein Begleiter mit dem Ausdruck großen Interesses, »die Schornsteine hatte ich ganz vergessen, sie sind schon so lange abgeschafft. Es sind fast hundert Jahre, seitdem die rohe Methode der Feuerung, an die Sie gewöhnt waren, außer Gebrauch kam.«

»Was im allgemeinen den größten Eindruck auf mich macht«, sagte ich, »ist der materielle Wohlstand der Bevölkerung, auf den ich aus der Pracht der Stadt schließe.«

»Ich würde viel darum geben«, erwiderte Dr. Leete, »wenn ich einen Blick auf das Boston Ihrer Zeit tun könnte. Ohne Zweifel waren die Städte von damals, wie Sie andeuten, recht armselig. Wenn Sie sie hätten glänzend machen wollen, und ich bin nicht so unhöflich dies zu bezweifeln, so würden bei der herrschenden Armut, welche das Resultat Ihres merkwürdigen industriellen Systems war, die Mittel dazu gefehlt haben. Außerdem vertrug sich der weitgehende Individualismus, welcher damals herrschte, nicht mit dem Gemeinsinn. Das bisschen Reichtum, das Sie besaßen, scheint fast lediglich für Privatluxus verschwendet worden zu sein. Heutzutage dagegen ist keine Verwendung des Überschusses an Reichtum so allgemein beliebt als die für Verschönerung der Stadt, die alle gleichmäßig genießen.«

Die Sonne war untergegangen, als wir zu dem Dache zurückgekehrt waren, und während unseres Gespräches hatte sich die Nacht auf die Stadt gesenkt.

»Es wird dunkel«, sagte Dr. Leete. »Lassen Sie uns hinab ins Haus gehen; ich muss Ihnen meine Frau und Tochter vorstellen.«

Diese Worte erinnerten mich an die weiblichen Flüsterstimmen, die ich gehört hatte, als ich wieder zu Bewusstsein kam; und höchst begierig zu erfahren, wie die Damen des Jahres 2000 aussahen, ging ich lebhaft auf den Vorschlag ein. Das Gemach, in dem wir Frau und Tochter meines Wirtes fanden, wie das ganze Innere des Hauses war von einem milden Lichte erfüllt, das ein künstliches sein musste, und doch sah ich die Quelle nicht, von der es ausging. Frau Leete war eine ausnehmend schöne Frau und noch gut konserviert, etwa im Alter ihres Gatten; ihre Tochter, in der ersten Blüte der Jungfräulichkeit, war das reizendste Mädchen, das ich je gesehen hatte. Ihr Gesicht war so bezaubernd, wie tiefblaue Augen, zarte Farben und vollendete Züge es nur machen konnten, hätte aber ihr Antlitz selbst besonderer Reize entbehrt, die untadelhafte Fülle ihrer Figur würde ihr die Stelle einer Schönheit unter den Frauen des 19. Jahrhunderts gesichert haben. Weibliche Zartheit und Weichheit waren in diesem lieblichen Geschöpf reizend mit dem Ausdruck von Gesundheit und übersprudelnder Lebhaftigkeit gepaart, was nur zu oft an den Mädchen, mit denen ich sie allein vergleichen konnte, zu vermissen war. Im Vergleich mit dem Sonderbaren meiner Lage schien es nur ein unbedeutender, aber doch auffallender Zufall, dass Ihr Name auch Edith sein musste.

Die gesellige Unterhaltung, welche nun folgte, war gewiss einzig in ihrer Art, aber annehmen zu wollen, dass sie gezwungen und schleppend gewesen wäre, würde ein großer Irrtum sein. Ich glaube in der Tat, dass man sich in außergewöhnlichen Verhältnissen am natürlichsten und ungezwungensten gibt, weil solche Verhältnisse künstliche Gemachtheit aus dem Kreise verbannen. Jedenfalls weiß ich, dass an diesem Abende mein Verkehr mit diesen Repräsentanten eines anderen Jahrhunderts und einer anderen Welt von einer Offenheit und Freimütigkeit war, wie sie nur selten bei langer Bekanntschaft gefunden werden.

Gewiss hatte der feine Takt meiner Umgebung viel damit zu tun. Natürlich sprachen wir nur von dem sonderbaren Umstände, der mich hierher gebracht hatte, aber sie gaben ihrem Interesse daran so unbefangen und offen Ausdruck, dass der Gegenstand völlig den Charakter des Unnatürlichen und Märchenhaften verlor, das so leicht hätte die Oberhand gewinnen können. Man hätte denken können, sie wären gewohnt, sich alle Tage mit solchen Verirrten aus einem anderen Jahrhundert zu unterhalten, so ausgezeichnet war ihr Takt.

Was mich selbst betrifft, so erinnere ich mich nicht, jemals lebhafter und scharfsinniger gewesen zu sein, als an diesem Abende. Ich will natürlich nicht sagen, dass das Bewusstsein meiner staunenerregenden Lage mich auch nur einen Augenblick verlassen hätte, aber die Hauptwirkung desselben war eine fieberhafte Aufregung, eine Art geistigen Rausches.

Edith beteiligte sich nur wenig an der Unterhaltung, aber wenn hie und da der Magnetismus ihrer Schönheit meine Blicke auf ihr Gesicht zog, fand ich ihre Augen mit tiefer Intensität, fast wie Begeisterung auf mich gerichtet. Es war klar, dass ich ihr Interesse in ungewöhnlichem Grade erregt hatte, was bei einem Mädchen mit Phantasie nicht zu verwundern war. Obgleich ich vermutete, Neugier sei der Hauptgrund ihres Interesses, so musste es doch Eindruck auf mich machen, selbst wenn sie weniger schön gewesen wäre.

Dr. Leete und seine Damen schienen sich sehr für meinen Bericht über die Umstände zu interessieren, unter denen ich in dem unterirdischen Raume eingeschlafen war. Alle sprachen Vermutungen darüber aus, wie es gekommen sein könnte, dass ich dort vergessen wurde, und die Theorie, zu der wir schließlich uns einigten, bot wenigstens eine plausible Erklärung, obgleich wir natürlich niemals wissen werden, ob es die richtige ist. Die Lage von Asche, welche oberhalb der Kammer gefunden worden war, ließ vermuten, dass das Haus niedergebrannt war. Wir wollen annehmen, dass das Feuer in der Nacht, in welcher ich einschlief, ausgebrochen sei. Es bleibt nur noch die Vermutung, dass Sawyer irgendwie bei dem Brande umgekommen wäre, und alles Übrige folgt ganz natürlich. Niemand als er und Dr. Pillsbury wussten von der Existenz der Kammer und meiner Anwesenheit darin, und Dr. Pillsbury, der in jener Nacht nach New Orleans gegangen war, hatte wahrscheinlich nie etwas von dem Brande gehört. Meine Freunde und das Publikum müssen geglaubt haben, ich sei in den Flammen umgekommen. Nur eine gründliche Ausgrabung der Ruinen hätte zur Entdeckung meiner Kammer führen können. Natürlich wenn die Brandstelle sofort wieder bebaut worden wäre, würde eine Ausgrabung notwendig gewesen sein, aber die unruhigen Zeiten und die ungünstige Örtlichkeit werden einen Neubau verhindert haben. Die Größe der Bäume in dem Garten, der jetzt an der Stelle war, ließ nach Dr. Leetes Angabe vermuten, dass sie über ein halbes Jahrhundert offenes Land gewesen sei.

 

Fünftes Kapitel

Als im Verlaufe des Abends die Damen sich zurückgezogen und mich mit Dr. Leete allein gelassen hatten, horchte er mich über mein Bedürfnis nach Schlaf aus und sagte, wenn ich schläfrig wäre, mein Bett sei bereit; aber wenn ich noch munter bleiben wollte, so würde er mir mit Vergnügen Gesellschaft leisten. »Ich gehe spät zu Bett«, sagte er, »und ohne Ihnen schmeicheln zu wollen, kann ich mir keinen interessanteren Gesellschafter als Sie denken. Man hat nicht oft Gelegenheit, sich mit einem Manne aus dem 19. Jahrhundert zu unterhalten.«

Ich hatte nun den ganzen Abend mit Schrecken an die Stunde gedacht, wo ich allein sein würde. Von diesen so sehr freundlichen Fremden umgeben, angeregt und unterstützt von ihrem sympathischen Interesse, war es mir möglich gewesen, im Gleichgewicht zu bleiben. Aber sogar in den Pausen, welche die Unterhaltung mit sich brachte, befiel mich wie ein Blitz das schreckliche Gefühl des Fremdseins, das mir ins Gesicht starren würde, wenn ich keine Zerstreuung mehr hatte. Ich wusste, ich würde diese Nacht nicht schlafen können und es wird mir niemand Feigheit vorwerfen, wenn ich gestehe, dass ich mich fürchtete, mit meinen Gedanken wachzuliegen. Als ich dies meinem Wirte als Antwort auf seine Frage offen sagte, meinte er, es würde auffallend sein, wenn es anders wäre, aber ich brauchte keine Sorge zu haben wegen des Schlafes, wenn ich zu Bette zu gehen wünschte, würde er mir ein Pülverchen geben, das mir unfehlbar einen gesunden Schlaf verschaffen würde. Morgen früh würde ich dann wie ein alter Bürger von Boston aufwachen.

»Ehe ich das kann«, entgegnete ich, »muss ich erst etwas mehr über das Boston wissen, in das ich zurückgekehrt bin. Sie sagten mir vorhin, es hätten sich, obwohl seit meinem Einschlafen ein Jahrhundert vergangen sei, in demselben doch mehr Veränderungen in den Zuständen der Menschheit ereignet, als sonst in einem Jahrtausend. Mit der Stadt zu meinen Füßen konnte ich das wohl glauben, aber ich möchte gern etwas Näheres über die Art dieser Veränderungen erfahren. Um irgendwo anzufangen, denn der Gegenstand ist ein umfassender, so möchte ich fragen, haben Sie eine Lösung für die Arbeiterfrage gefunden und welche? Sie war das Rätsel der Sphinx im 19. Jahrhundert, und als ich abtrat, drohte die Sphinx die Gesellschaft zu verschlingen, da keine Antwort gegeben wurde. Es lohnt sich recht wohl hundert Jahre zu schlafen, um die richtige Antwort zu erfahren, wenn Sie dieselbe gefunden haben.«

»Da wir heutzutage so etwas wie die Arbeiterfrage nicht kennen«, antwortete Dr. Leete, »und ich nicht weiß, auf welche Weise sie auftauchen könnte, so vermute ich, dürften wir uns rühmen, sie gelöst zu haben. In der Tat hätte die Gesellschaft verdient, verschlungen zu werden, wenn es ihr nicht gelungen wäre, ein so einfaches Rätsel zu lösen. Die Gesellschaft brauchte ja das Rätsel gar nicht zu lösen; es löste sich sozusagen selbst. Die Lösung kam als das Resultat eines Prozesses von gewerblicher Evolution, der gar nicht anders enden konnte. Alles, was die Gesellschaft zu tun hatte, war, diese Entwicklung anzuerkennen und mit ihr zu kooperieren, als ihre Tendenz unverkennbar geworden war.«

»Zu der Zeit, als ich einschlief«, sagte ich, »hatte man meines Wissens noch nichts von einer solchen Evolution wahrgenommen.«

»Ich denke Sie sagten, Sie seien 1887 eingeschlafen.«

»Ja, am 30. Mai 1887.«

Der Doktor sah mich ein paar Augenblicke gedankenvoll an, dann sagte er: »Und Sie sagen mir, selbst damals habe man noch nicht die Natur der Krisis erkannt, welcher die Gesellschaft zusteuerte? Ich bezweifle natürlich Ihre Angabe nicht; die sonderbare Blindheit Ihrer Zeitgenossen für die Zeichen der Zeit ist eine Erscheinung, von welcher viele unserer Geschichtsschreiber sprechen, aber für uns ist nichts so schwer zu verstehen als dies, da, wenn wir zurückblicken, die Anzeigen einer bevorstehenden Umgestaltung so klar und unverkennbar waren, dass sie Ihren Blicken nicht entgehen konnten. Es würde mich interessieren, Herr West, wenn Sie mir einen etwas bestimmteren Begriff von der Anschauung geben wollten, welche Sie und Männer Ihres Bildungsgrades von dem Zustande und den Aussichten der Gesellschaft im Jahre 1887 hatten. Sie müssen doch wenigstens gesehen haben, dass die weit verbreiteten gewerblichen und sozialen Störungen, sowie die dahintersteckende Unzufriedenheit aller Klassen mit den Ungleichheiten der Gesellschaft, Vorboten großer Veränderungen irgendwelcher Art waren.«

»Das haben wir allerdings klar genug gesehen«, erwiderte ich. »Wir fühlten, dass die Gesellschaft keinen Ankergrund mehr hatte und in Gefahr war, ein Spiel der Wellen zu werden. Wohin sie treiben würde, konnte niemand sagen, aber alle fürchteten die Klippen.«

»Und dennoch«, sagte Dr. Leete, »die Richtung der Strömung war völlig sichtbar, wenn Sie sich nur Mühe gegeben hätten, sie zu beobachten, und sie führte nicht nach den Klippen, sondern in tieferes Fahrwasser.«

»Ich kann nur sagen«, erwiderte ich, »dass, als ich in den langen Schlaf fiel, die Aussichten derart waren, dass ich mich nicht gewundert haben würde, wenn ich heute von Ihrem Dache aus auf einen Haufen verkohlter und mit Moos bedeckter Ruinen, anstatt auf diese herrliche Stadt geblickt hätte.«

Dr. Leete hatte mir aufmerksam zugehört und nickte gedankenvoll, als ich schwieg. »Was Sie gesagt haben«, bemerkte er, »wird als eine wertvolle Rechtfertigung »Steriots« angesehen werden können, dessen Bericht von Ihrer Zeit allgemein für übertrieben gilt, wenn er die geistige Düsterkeit und Zerfahrenheit der Menschen schildert. Dass eine solche Übergangsperiode voll Aufregung und Erschütterung war, konnte man erwarten, aber wenn man sieht, nach einem wie klaren Ziele die wirkenden Kräfte strebten, so sollte man glauben, dass eher Hoffnung als Furcht die Geister beherrscht hätte.«

»Sie haben mir noch nicht die Auflösung des Rätsels gegeben, die Sie fanden«, sagte ich. »Ich möchte gerne wissen, wie ein Friede und Wohlstand, dessen Sie sich jetzt zu erfreuen scheinen, das Resultat einer Zeit wie der meinigen sein kann.«

»Entschuldigen Sie«, antwortete mein Wirt, »rauchen Sie vielleicht?« Erst nachdem wir Zigarren angezündet hatten, fuhr er fort. »Da Sie, wie ich, lieber plaudern als schlafen wollen, so will ich versuchen, Ihnen einen Begriff von unserem modernen Industriesystem zu geben, um den Eindruck bei Ihnen zu zerstören, als ob in dem Entwicklungsprozess irgendein Geheimnis wäre. Die Leute von Boston standen zu Ihrer Zeit in dem Rufe, dass sie gerne Fragen stellten, und zum Beweis, dass wir es noch immer so machen, will ich damit beginnen, Ihnen eine solche vorzulegen. Was würden Sie als hervorragende Eigentümlichkeit der Arbeiterunruhen Ihrer Zeit bezeichnen?«

»Nun, die Streiks natürlich«, sagte ich.

»Ganz recht; aber was ließ die Streiks so fürchterlich erscheinen?«

»Die großen Arbeiterorganisationen.«

»Und was war der Beweggrund für diese großen Organisationen?«

»Die Arbeiter behaupteten, sie müssten sich vereinigen, um ihre Rechte den großen Korporationen gegenüber sich zu erhalten«, sagte ich.

»Das ist es eben«, sagte Dr. Leete, »die Arbeitervereine und die Streiks waren lediglich die Folge der Konzentration des Kapitals in nie zuvor gekannten Massen. Ehe diese Konzentration begann, wurden Handel und Industrie von unzähligen kleinen Geschäften mit kleinem Kapitel betrieben, anstatt von wenigen großen Geschäften mit großem Kapital, und so war der einzelne Arbeiter verhältnismäßig eine wichtige Persönlichkeit und unabhängig von seinem Arbeitgeber. Wenn nun ein kleines Kapital oder eine neue Idee einem Manne genügte, ein selbständiges Geschäft anzufangen, wurden immer mehr Arbeiter Arbeitgeber und es bestand keine feste Grenze zwischen den beiden Klassen. Arbeitervereine waren da unnötig und allgemeine Streiks waren außer Frage. Als aber die Ära der großen Vereinigungen von Kapital auf diejenige der kleinen Geschäfte folgte, änderte sich alles. Der einzelne Arbeiter, welcher für den kleinen Geschäftsmann von Wichtigkeit war, sank in Unbedeutendheit und Ohnmacht gegenüber der großen Vereinigung, während sich ihm gleichzeitig der Weg zum Arbeitgeber verschloss. Selbsthilfe nötigte ihn, sich mit seinen Genossen zu verbinden.

Die Berichte dieser Periode zeigen, dass die Entrüstung gegen die Verbindung des Kapitals furchtbar war. Man glaubte, dass sie die Gesellschaft mit einer Tyrannei bedrohe, schlimmer als sie je eine erduldet; dass die großen Korporationen ein Sklavenjoch für sie schmiede. Blicken wir zurück, so kann uns die Verzweiflung der Arbeiter nicht wundern, denn die Menschheit hat nie einem traurigeren und schrecklicheren Los entgegengesehen, als ein Bund von Tyrannen, die sie fürchtete, gewesen sein würde.

Inzwischen ging die Aufsaugung des Geschäfts durch immer wachsende Monopole ihren Weg, ohne sich durch das Geschrei dagegen im mindesten aufhalten zu lassen. In den Vereinigten Staaten, wo sich diese Aufsaugung später vollzog als in Europa, gab es, nach Anfang des letzten Viertels des 19. Jahrhunderts, nicht die mindeste Möglichkeit zu einzelnen Unternehmungen auf irgend einem Gebiete der Industrie, das einige Bedeutung hatte, wenn sie nicht von einem großen Kapital unterstützt waren. In den letzten zehn Jahren des Jahrhunderts waren die wenigen übrig gebliebenen kleinen Geschäfte nichts als verschwindende Überbleibsel einer vergangenen Zeit, oder Schmarotzer bei großen Verbindungen, oder sie vegetierten auf Gebieten, die zu geringfügig waren, um große Kapitalisten anzulocken. Was überhaupt noch an kleinen Geschäften bestand, fristete sein Leben wie Ratten und Mäuse in Löchern und Winkeln und rechnete darauf, unbemerkt zu bleiben, um sich des Lebens freuen zu können. Die Eisenbahnen hatten sich konsolidiert, bis einige große Syndikate jede einzelne Schiene im Lande kontrollierten. In Fabriken beherrschte ein Syndikat jede Ware von Bedeutung. Diese Syndikate, Pools, Trusts, oder wie sie hießen, bestimmten Preise und erdrückten alle Konkurrenz, außer wenn Kombinationen von gleicher Stärke erstanden. Dann entstand ein Kampf, der wieder in einer größeren Vereinigung endete. Der große Bazar in der Stadt hungerte durch Zweiggeschäfte seinen Konkurrenten auf dem Lande aus und absorbierte in der Stadt selbst seine kleineren Rivalen, bis das Geschäft eines ganzen Viertels unter einem Dach konzentriert war, wo hundert frühere Ladeninhaber als Ladendiener fungierten. Da der kleine Kapitalist kein eigenes Geschäft hatte, in dem er sein Geld anlegen konnte, trat er in den Dienst der Kombination, legte seine Kapitalien in ihren Papieren an und wurde so doppelt abhängig von ihr.

Die Tatsache, dass der verzweifelte Widerstand des Volkes gegen diese Vereinigung des Geschäfts in wenigen Händen ohnmächtig war, derselben Einhalt zu tun, ist ein Beweis dafür, dass starke wirtschaftliche Gründe dafür gesprochen haben müssen. Die kleinen Kapitalisten mit ihren zahllosen kleinen Geschäften waren den großen Verbindungen von Kapital gewichen, weil sie einer Zeit mit kleinlichen Verhältnissen angehörten und völlig unfähig waren, den Ansprüchen einer Dampf- und Telegraphenära mit riesigen Unternehmungen zu genügen. Zu der alten Ordnung der Dinge zurückzukehren, hätte soviel geheißen, als zu den Tagen zurückkehren, wo wir mit der Post reisten. So drückend und grausam die Herrschaft der großen Kapitalverbindungen war, so mussten selbst ihre Opfer, wenn auch unter Verwünschungen, den wunderbaren Aufschwung, den die nationale Industrie durch sie genommen, die ungeheuren Ersparnisse in Betrieb und Organisation anerkennen und eingestehen, dass seit Einführung des neuen Systems der Reichtum der Welt in einer Weise zugenommen hatte, wie man sich vorher nicht hatte träumen lassen. Zwar ist dadurch nur der Reiche reicher und die Kluft zwischen ihm und dem Armen weiter geworden, aber die Tatsache blieb stehen, dass das Kapital in seiner Vereinigung sich als wirksames Mittel erwiesen hatte, Reichtum zu schaffen. Die Rückkehr zum alten System mit seinen Unterabteilungen des Kapitals würde zwar eine größere Gleichheit in den Verhältnissen mit mehr individueller Geltung und Freiheit zurückgebracht haben, aber um den Preis allgemeiner Verarmung und Rückganges des allgemeinen Fortschrittes.

 

Gab es denn nun kein Mittel, sich der Dienste der allmächtigen, Reichtum erzeugenden Kapitalvereinigung zu versichern, ohne sich vor einer Plutokratie, wie die Karthagos war, zu beugen? Sobald die Menschen anfingen, sich solche Fragen vorzulegen, fanden sie auch leicht die Antwort darauf. Das Streben nach einer Geschäftsführung mit immer wachsenden Kapitalverbindungen, nach Monopolen, das so heftig, aber erfolglos bekämpft worden war, wurde endlich in seiner wahren Bedeutung, als ein Prozess anerkannt, der nur seine logische Entwicklung zu vollenden brauchte, um der Menschheit eine goldene Zukunft zu eröffnen.

Im Anfang dieses Jahrhunderts wurde diese Vollendung vollzogen, indem sich das ganze Kapital der Nation konsolidierte. Die Industrie und der Handel des ganzen Landes hörten auf, von einer Anzahl Korporationen und Syndikaten von Privatpersonen ohne Verantwortlichkeit, nach eigenem Belieben zu eigenem Vorteil geführt zu werden, und wurden der Leitung eines einzigen Syndikats, das die Nation vertrat, anvertraut, um im allgemeinen Interesse und zum allgemeinen Vorteil betrieben zu werden. Die Nation, nämlich die eine große Geschäftskorporation, in welcher alle anderen Korporationen aufgegangen waren, wurde der einzige Kapitalist, der einzige Arbeitgeber, das einzige Monopol, welches alle früheren und kleineren Monopole verschlungen hat, ein Monopol, in dessen Gewinne sich alle Bürger teilen. Mit einem Worte, das Volk der Vereinigten Staaten beschloss, die Führung seines Geschäftes selbst in die Hand zu nehmen, grade wie es vor hundert und mehr Jahren die Leitung seiner Regierung selbst in die Hand genommen hatte, und organisierte die industriellen Verhältnisse nach denselben Grundsätzen als die politischen. Endlich hatte man begriffen - leider etwas spät - dass kein Geschäft so wesentlich Gemeingeschäft ist, als die Industrie und der Handel, von denen der Unterhalt des Volkes abhängt, und dass es eine ebensogroße, wenn nicht größere Torheit ist, sie Privatpersonen zu überlassen, um ihren Privatvorteil daraus zu ziehen, als Königen und Fürsten die Funktionen der Staatsgewalt zu überlassen, zum Zwecke ihrer persönlichen Verherrlichung.«

»Jedenfalls hat aber auch eine solche fabelhafte Veränderung furchtbares Blutvergießen und Revolution verursacht«, sagte ich.

»Im Gegenteil«, erwiderte Dr. Leete, »es fand nicht der geringste Gewaltakt statt. Man hatte den Wechsel lange vorhergesehen. Die öffentliche Meinung war reif dafür und die ganze Masse des Volkes unterstützte ihn. Weder Gewalt noch Gründe konnten ihm widerstehen. Auf der anderen Seite fühlte man keine Bitterkeit mehr gegen die großen Korporationen, da man gelernt hatte, dieselben als notwendige Verbindungsglieder und Übergänge in der Entwicklung des wahren industriellen Systems anzusehen. Die bittersten Feinde der großen privaten Syndikate mussten jetzt anerkennen, wie unschätzbar und unentbehrlich ihre Dienste gewesen waren, um das Volk dafür zu erziehen, sein Geschäft selbst in die Hand zu nehmen. Fünfzig Jahre früher würde die Konsolidation der Industrie unter nationale Kontrolle selbst dem Sanguiniker ein sehr gewagtes Experiment geschienen haben. Aber die großen Korporationen hatten dem Volke durch Anschauung ganz neue Begriffe darüber beigebracht. Es hatte viele Jahre lang gesehen, wie Syndikate über Einkünfte verfügten, größer als die von Staaten, wie sie Hunderttausende von Arbeitern mit einer Geschicklichkeit und Wirtschaftlichkeit regierten, die in kleinen Verhältnissen nicht zu erreichen gewesen wären. Man hatte es als ein Axiom anerkannt, dass je größer das Geschäft, desto einfacher die zur Anwendung kommenden Grundsätze seien; dass das System, welches in einem großen Geschäftsbetrieb dasselbe ist, was in einem kleinen des Meisters Auge, zu besseren Resultaten führt. So kam es, dass als der Vorschlag gemacht wurde, die Nation solle die Funktionen der Korporationen selbst übernehmen, selbst der Furchtsame sich der Sache gewachsen fühlte. Gewiss war es ein großer Schritt, aber die Tatsache, dass die Nation die einzige Korporation wurde, befreite das Unternehmen von vielen Schwierigkeiten, gegen welche die einzelnen Syndikate hatten kämpfen müssen.«

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