Das Geheimnis der gelben Narzissen

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3

Zwei Tage später saß Thornton Lyne in seinem großen Auto, das an der Seite des Fußgängersteiges in der Nähe von Wandsworth Common hielt, und schaute nach dem Tor des Gefängnisses.

Er war Dichter und Schauspieler, eine merkwürdige Mischung für einen Geschäftsmann seines Charakters.

Thornton Lyne war Junggeselle. Er hatte ein Examen auf der Universität gemacht und einen großen wissenschaftlichen Preis erhalten. Er war auch Autor und Herausgeber eines dünnen Gedichtbandes. Die Güte seiner Verse war gerade nicht bedeutend, aber das Buch war zweifellos mit wunderbar schönen Initialen gedruckt und in altertümlicher Art gebunden. Er war Kaufmann, und das war ihm in mancher Beziehung nicht unangenehm. Denn sein Beruf erlaubte ihm, ein luxuriöses Leben zu führen. Er besaß mehrere Autos, einen Landsitz und ein Haus in der Stadt. Die Möblierung und Ausstattung der beiden Wohnungen hatten Summen verschlungen, mit denen er eine große Anzahl kleiner Geschäfte hätte kaufen können.

Joseph Emanuel Lyne hatte die Firma gegründet und das Geschäft in die Höhe gebracht. Er hatte ein Verkaufssystem ausgearbeitet, nach dem jeder Kunde sofort bedient wurde, wenn er den Laden betrat. Diese Methode beruhte auf dem alten Grundsatz, stets genügende Reserven in Bereitschaft zu halten.

Thornton Lyne erhielt die Führung des Geschäftes in dem Augenblick, in dem das Erscheinen seines schmalen Bandes ihn in die Reihe der berühmten Unverstandenen erhob. Bei seinen Gedichten verwendete er eine ungewöhnliche Interpunktion, umgekehrte Kommata, Ausrufungszeichen und Fragezeichen, um seinen Zorn und seine Verachtung gegenüber der Menschheit auszudrücken. Wenngleich der Band auch nur dünn war, gekauft wurde er doch nicht, aber er verschaffte ihm genügend Ansehen bei den Männern und Frauen, die wie er Gedichte und Bücher schrieben; die nicht gelesen wurden.

Nichts in der Welt war diesem berühmten unverstandenen Menschen sicherer, als daß sich höchste Vornehmheit in Verachtung äußerte. Unter anderen Umständen hätte sich Thornton Lyne noch zu weiteren Stufen des Unverstandenseins hinaufarbeiten können – auf eine solche Höhe, wo man erhaben ist über Ehe, Seife, reine Hemden und frische Luft. Nur die Tatsache, daß sein Vater plötzlich starb, war daran schuld, daß er diesen Grad der Vollkommenheit nicht erreichte.

Zuerst hätte er beinahe die ganze Firma verkauft, um sich in eine einsame Villa nach Florenz oder Capri zurückzuziehen. Aber dann lockte ihn das Widerspruchsvolle, ja man möchte sagen, der Humor seiner Lage. Ein gelehrter Mann, ein vornehmer Herr, ein mißverstandener Dichter sollte sich in ein Kaufmannsbüro setzen. Und zum Erstaunen aller Leute nahm er die Arbeit seines Vaters auf, das heißt, er unterschrieb Schecks und profitierte von den Einnahmen. Die eigentliche Leitung der Firma überließ er den Männern, denen der alte Lyne schon vertraut hatte.

Thornton verfaßte einen Aufruf an seine dreitausend Angestellten, den er auf antikem Büttenpapier mit wunderschönen Initialen und breiten Rändern drucken ließ. Er zitierte Seneca, Aristoteles, Marc Aurel und fügte auch einige Verse aus der Ilias ein. Dieser Aufruf wurde durch längere und bessere Kritiken von den Zeitungen begutachtet als sein Buch.

Er hatte nun ein neues Interesse am Leben gewonnen – er kam sich selbst sehr interessant vor, denn seine vielen begeisterten Freunde schlugen die Hände über dem Kopf zusammen und fragten erstaunt und verwundert: »Wie können Sie – ein Mann von solcher Begabung, von solchem Charakter ...!« Das Leben wäre auch weiter für ihn so interessant und schön geblieben, wenn alle Leute, die ihm begegneten, ihn in seiner Gottähnlichkeit gelassen hätten. Aber es gab zum mindesten zwei Menschen, auf die Lynes schöner Charakter und seine Millionen nicht den geringsten Eindruck machten.

In seiner Limousine war es schön warm, denn sie war elektrisch geheizt. Es war ein rauher Aprilmorgen, und draußen war es empfindlich kalt. Die kleine Schar zitternder Frauen, die in einer respektvollen Entfernung vor der Gefängnistür standen, zogen ihre Tücher und Schals dichter um sich, weil einzelne Schneeflocken niederfielen. Bald war die ganze Gegend von einer leichten weißen Decke überzogen, und die ersten Frühlingsblumen schauten in ihrer weißen Umrahmung recht kläglich aus.

Die Gefängnisuhr schlug acht. Eine kleine Tür öffnete sich, und ein Mann trat heraus. Er hatte Jacke und Kragen zugeknöpft und die Mütze tief ins Gesicht gezogen. Lyne ließ die Zeitung sinken, in der er bis jetzt gelesen hatte, öffnete die Wagentür, sprang hinaus und eilte direkt auf den entlassenen Gefangenen zu.

»Nun, Sam«, sagte er liebenswürdig. »Sie haben mich diesmal wohl nicht erwartet?«

Der Mann stand plötzlich still, als ob er vom Blitz getroffen sei, und starrte auf die Gestalt in dem kostbaren Pelz.

»Ach, Mr. Lyne«, erwiderte er mit gebrochener Stimme. »Sie sind es!« Er konnte nicht weitersprechen, die Tränen liefen ihm über die Backen, und er ergriff die ausgestreckte Hand mit seinen beiden Händen.

»Sie haben doch nicht etwa gedacht, daß ich Sie im Stich lasse, Sam!« Lyne war ganz begeistert von seiner eigenen vornehmen Gesinnung.

»Ich dachte, Sie hätten mich jetzt aufgegeben, Mr. Lyne«, entgegnete Sam Stay heiser. »Sie sind wirklich ein edler Herr und haben einen anständigen Charakter. Ich muß mich vor mir selber schämen!«

»Unsinn, Sam, nicht doch! Kommen Sie schnell in meinen Wagen, mein Junge, setzen Sie sich hierher. Jetzt denken die Leute, Sie sind ein Millionär.«

Der Mann schluckte, grinste verständnislos und stieg ein. Mit einem Seufzer sank er in die weichen Polster, die mit kostbarem, braunem Saffianleder bezogen waren.

»Mein Gott, wenn man denkt, daß es Leute wie Sie in der Welt gibt, dann kann man wirklich noch an Engel und Wunder glauben!«

»Reden Sie doch nicht so dummes Zeug, Sam. Sie kommen jetzt zu mir in meine Wohnung, essen sich einmal tüchtig satt, und dann werde ich Ihnen helfen, wieder etwas Neues anzufangen.«

»Ich will jetzt auch wirklich ein ordentliches Leben führen«, sagte Sam mit einem unterdrückten Schluchzen.

Um der Wahrheit die Ehre zu geben, muß gesagt werden, daß sich Mr. Lyne im Grunde sehr wenig darum kümmerte, ob Sam einen ordentlichen Lebenswandel führte oder nicht. Vielleicht wäre er sogar entsetzt gewesen, wenn Sam ein ordentlicher Mensch geworden wäre. Er hielt sich Sam ungefähr so, wie andere Leute sich seltenes Geflügel oder schöne Hunde halten, und war auf ihn nicht weniger stolz als andere Menschen auf ihre Briefmarken oder ihr chinesisches Porzellan. Sam gehörte zu dem Luxus, den er sich gestatten und mit dem er renommieren konnte. In seinem Klub erzählte er gern von seiner Bekanntschaft mit diesem Verbrecher – Sam war ein bekannter und berüchtigter Geldschrankknacker. Seine Anhänglichkeit war ein ungewöhnlicher Nervenkitzel für Lyne.

Die Verehrung, die dieser Verbrecher Lyne entgegenbrachte, war wirklich ungewöhnlich. Sam hätte ohne zu zögern sein Leben für diesen Mann mit dem blassen Gesicht und dem leichtfertigen Mund gegeben. Er hätte sich für seinen Wohltäter in Stücke reißen lassen, wenn er ihm dadurch irgendwie hätte nützen können, denn für ihn war Lyne ein vom Himmel herabgestiegener Gott. Zweimal war Sam zu kurzen Gefängnisstrafen verurteilt worden, und einmal hatte er auch länger gesessen, und jedesmal hatte Thornton ihn mit nach Hause genommen, großartig bewirtet und ihm eine Menge sehr überflüssige Ratschläge gegeben; dann hatte er ihn mit einem Anfangsgehalt von zehn Pfund wieder auf die Mitwelt losgelassen. Diese Summe genügte Sam gerade, um einen neuen Satz von Einbrecherwerkzeugen zu kaufen.

Aber nie zuvor hatte Sam solche Dankbarkeit gezeigt, und nie vorher hatte Thornton Lyne sich so um ihn bemüht. Zunächst war ein heißes Bad vorgesehen, dann folgte ein warmes, luxuriöses Frühstück. Sam erhielt einen neuen Anzug, und in seiner Brusttasche steckten diesmal nicht nur zwei, sondern vier Fünfpfundnoten.

Nach dem Frühstück hielt Lyne seine übliche Ansprache.

»Ach, Mr. Lyne, das ist alles ganz schön und gut, aber für mich paßt es nicht!« sagte Sam offen und schüttelte den Kopf. »Ich habe alles versucht, um ein ehrliches Leben zu führen, aber es kommt mir immer etwas dazwischen. Als ich das letzte Mal herauskam, wurde ich doch Chauffeur und fuhr drei Monate lang ein Mietauto. Dann bekam so ein verdammter Detektiv von Scotland Yard heraus, daß ich keinen Führerschein hatte, und da war es mit dem ordentlichen Leben wieder aus. Es hat keinen Zweck, mir eine Stelle in Ihrem Geschäft zu geben, das würde doch nicht lange dauern. Ich bin nun einmal ein Leben in der frischen Luft gewöhnt und muß mein eigener Herr sein. Ich gehöre nun schon einmal zu den –«

»Zu den Abenteurern«, sagte Lyne und lachte leise. »Ja, da haben Sie recht, Sam. Und ich kann Ihnen diesmal eine etwas abenteuerlichere Aufgabe geben, die so recht nach Ihrem Herzen sein wird.«

Dann erzählte er ihm die Geschichte von der gemeinen Undankbarkeit des Mädchens, dem er geholfen, die er direkt vom Hungertod gerettet und die ihn in der niederträchtigsten Art und Weise betrogen hatte. Thornton Lyne war ein Dichter, aber er war ebenso auch ein Lügner. Er konnte genauso leicht die Unwahrheit wie die Wahrheit sagen. Als er nun von der Bosheit Odette Riders sprach, hörte Sam aufgeregt zu und kniff die Augenlider zusammen. Für eine solche Kreatur war keine Strafe zu schwer, sie verdiente nicht das geringste Mitgefühl.

Thornton Lyne hielt einen Augenblick in seiner Erzählung inne, um zu sehen, welchen Eindruck seine Worte auf Sam gemacht hatten.

»Sagen Sie mir doch nur«, flüsterte Sam mit zitternder Stimme, »wie man mit dieser Kanaille abrechnen kann – und ich gehe durch die Hölle, um Sie an dieser Person zu rächen!«

 

»Das höre ich gerne«, erwiderte Lyne und goss aus einer hohen Flasche einen kräftigen Schluck ein. Es war Sams Lieblingsschnaps. »Nun kann ich Ihnen ja auch sagen, wie ich mir die Sache gedacht habe.«

Sie saßen noch ein paar Stunden zusammen und planten furchtbare Rache an Odette Rider, die Thornton Lynes Eitelkeit so schwer gekränkt und deren aufrechte Haltung den Haß dieses lasterhaften Mannes entflammt hatte.

4

Am Abend desselben Tages, an dem Sam Stay aus dem Gefängnis entlassen wurde, lag Jack Tarling auf seinem harten Bett ausgestreckt. Er hatte eine Zigarette zwischen den Lippen, las ein Buch über chinesische Philosophie und war mit sich und der Welt zufrieden.

Er hatte einer aufregenden Tag hinter sich, denn er hatte den Auftrag erhalten, eine große Unterschlagung bei einer Bank aufzuklären. Diese Sache hätte eigentlich seine ganze Zeit in Anspruch genommen, wenn er nicht noch eine kleine private Nebenbeschäftigung gehabt hätte. Sie brachte ihm zwar nicht das mindeste ein, aber seine Neugierde und sein Interesse waren nun einmal geweckt.

Er legte das Buch flach auf seine Brust, als er hörte, wie sein Assistent leise die Tür öffnete. Ling Chu trat lautlos ein und setzte ein Tablett auf den niederen Tisch neben dem Bett. Tarling sah, daß der Chinese ein blauseidenes Gewand trug.

»Du willst also heute Abend nicht mehr ausgehen, Ling Chu?«

»Nein, Lieh Jen.«

Sie sprachen in der weichen, melodiösen Mundart von Schantung miteinander.

»Warst du bei dem Mann mit dem schlauen Gesicht?«

Als Antwort nahm der Chinese einen Briefumschlag aus seiner inneren Tasche und reichte ihn Tarling, der die Adresse las.

»Dort lebt die junge Dame? Miss Odette Rider. 27, Carrymore Mansions, Edgware Road.«

»Es ist ein Haus, in dem viele Leute wohnen«, sagte Ling Chu. »Ich bin selbst in deinem Auftrag dorthin gegangen und sah, wie die Leute ein und aus gingen, ohne Unterlaß, und niemals habe ich dieselben Menschen zweimal gesehen.«

»Was hat denn aber der Mann mit dem schlauen Gesicht zu meinem Brief gesagt?«

»Herr, er schwieg. Er las ihn immer wieder und machte dann ein Gesicht wie dieses.« Ling Chu ahmte Mr. Milburghs Lächeln nach. »Und dann schrieb er das auf, was du hier siehst.«

Tarling starrte einen Augenblick ins Leere, stützte sich dann auf seinen Ellenbogen und nahm die Teetasse, die Ling Chu gebracht hatte.

»Hast du etwas Neues über den Mann mit dem weichen weißen Gesicht erfahren, Ling? Hast du auch ihn aufgesucht?«

»Jawohl, Herr, ich sah ihn«, antwortete der Chinese ernst. »Er ist ein Mann ohne Himmel.«

Tarling nickte. Denn die Chinesen brauchten das Wort »Himmel« für »Gott«, und er wußte, daß Ling Chu scharf beobachtet hatte und damit sagen wollte, daß Thornton Lyne keine geistigen Fähigkeiten besaß. Er trank den Tee und erhob sich.

»Ling, diese Stadt und dieses Land sind sehr öde und traurig, und ich glaube nicht, daß ich lange hier wohnen werde.«

»Will der Herr wieder nach Schanghai zurückgehen?« fragte der Chinese, ohne auch nur im mindesten über diese Mitteilung erstaunt zu sein.

»Ja, ich denke. Jedenfalls ist dieses Pflaster zu langweilig. Diese paar elenden Fälle von kleinen Gelddiebstählen und Eheaffären – ich mag nichts mehr davon hören.«

»Die sind nur kleine Dinge«, sagte Ling Chu mit philosophischer Ruhe. »Aber der Meister –«, er meinte den großen Philosophen Konfuzius – »hat gesagt, daß alles Große aus kleinen Dingen kommt. Und vielleicht will ein kleiner Mann einem großen den Kopf abschneiden, und dann wird man dich rufen, um den Mörder zu fangen.«

Tarling lachte.

»Du bist ein großer Optimist, Ling. Ich glaube nicht, daß man hier meine Hilfe bei der Entdeckung eines Mörders wünscht. In England werden Privatdetektive dazu nicht zugezogen.«

Ling schüttelte den Kopf.

»Aber mein Herr muß Mörder fangen, oder er wird nicht mehr länger Lieh Jen, der Jäger der Menschen, sein.«

»Du bist blutdürstig«, sagte Tarling plötzlich auf englisch, das Ling nur sehr schlecht verstand, obgleich er lange in hervorragenden Missionsschulen unterrichtet worden war. »Ich werde jetzt ausgehen«, fuhr Tarling wieder auf chinesisch fort, »und werde die kleine Frau besuchen, die das Weißgesicht begehrt.«

»Darf ich dich begleiten, Herr?« fragte Ling.

Tarling zögerte.

»Ja, du kannst mitkommen, aber du mußt hinter mir bleiben und darfst dich nicht sehen lassen.«

Carrymore Mansions ist ein großer Häuserblock, der zwischen zwei vornehmen und noch größeren Gebäuden in der Edgware Road eingeschlossen liegt. Das Erdgeschoß ist an Ladeninhaber vermietet. Wahrscheinlich verbilligen sich dadurch die Mieten der Wohnungen. Trotzdem vermutete Tarling, daß die Mieten doch ziemlich hoch sein müßten, besonders für ein Ladenmädchen, wenn sie nicht etwa bei ihrer Familie wohnte. Aber als er den Portier fragte, erhielt er die Aufklärung. Sie hatte eine kleinere Wohnung im Zwischengeschoß, wo die Räume niedriger waren, und zahlte infolgedessen keine große Miete.

Er stand bald vor einer polierten Mahagonitür und überlegte sich, welche Entschuldigung er vorbringen könnte, daß er eine junge Dame so spät am Abend noch aufsuchte. Daß er ihr eine Erklärung geben mußte, sah er an ihrem Blick, als sie ihm die Tür öffnete.

»Ja, ich bin Miss Rider«, sagte sie.

»Kann ich Sie einige Minuten sprechen?«

»Es tut mir leid, ich bin allein in der Wohnung und kann Sie nicht hereinbitten.«

Das war ein schlechter Anfang.

»Ist es nicht möglich, daß Sie ein wenig mit mir ausgehen?« fragte er besorgt.

Trotz der merkwürdigen Situation mußte sie lächeln.

»Es ist mir ebenso unmöglich, mit jemand auszugehen, den ich früher nie gesehen habe.«

»Ich sehe die Schwierigkeiten ein. Hier ist meine Karte. Ich fürchte, daß ich hier in England nicht genügend bekannt bin – Sie werden meinen Namen nicht kennen.«

Sie nahm die Karte und las.

»Privatdetektiv?« fragte sie erschrocken. »Wer hat Sie zu mir geschickt? Doch nicht etwa Mr. –«

»Nein, nicht Mr. Lyne.«

Sie zögerte einen Augenblick, dann öffnete sie die Tür etwas weiter.

»Bitte, treten Sie näher – wir können ja hier im Vorraum sprechen. Ich habe Sie doch eben richtig verstanden. Mr. Lyne hat Sie nicht zu mir geschickt?«

»Mr. Lyne wünschte allerdings vorher, daß ich Sie aufsuchen sollte, und ich mißbrauche sein Vertrauen in gewisser Weise. Aber ich glaube nicht, daß er auf meine Verschwiegenheit rechnen darf. Ich weiß eigentlich nicht, warum ich hierhergekommen bin und Sie störe, aber ich möchte Ihnen raten, auf Ihrer Hut zu sein.«

»Wovor?«

»Sie müssen sich vor den Ränken eines Herrn in acht nehmen, den Sie –«, er zögerte einen Augenblick.

»Beleidigt haben«, ergänzte sie.

»Ich weiß ja nicht, was Sie ihm gesagt haben«, meinte er lächelnd, »aber ich nehme an, daß Sie Mr. Lyne aus dem einen oder anderen Grund verletzt haben und daß er sich jetzt an Ihnen rächen will. Ich will Sie nicht fragen, was vorgefallen ist, denn ich verstehe, daß Sie es mir nicht sagen möchten. Aber ich muß Ihnen mitteilen, daß Mr. Lyne wahrscheinlich eine Anklage gegen Sie vorbereitet, daß er irgend etwas erfindet, um Sie wegen Diebstahls anzuzeigen.«

»Diebstahl?« rief sie entrüstet. »Er will mich anzeigen? Aber es ist doch unmöglich, daß er so schlecht ist.«

»Oh, es ist gar nicht so unmöglich, daß jemand außerordentlich schlecht ist«, erwiderte Tarling. Sein Gesicht war undurchdringlich, wenn auch ein leichtes Lächeln in seinen Augen lag. »Jedenfalls weiß ich es und habe es mit eigenen Ohren gehört, daß er Mr. Milburgh dazu veranlaßte, einige Aussagen darüber zu machen, daß Gelddiebstähle bei der Hauptgeschäftskasse vorgekommen seien.«

»Das ist doch ganz unmöglich«, sagte sie entsetzt. »Mr. Milburgh würde das nie sagen, das ist ausgeschlossen!«

»Mr. Milburgh wollte es ursprünglich auch nicht tun, das will ich gerne zugeben.« Er erzählte ihr kurz von den Vorgängen im Konferenzzimmer der Firma Lyne, er verschwieg aber alle Verdachtsgründe gegen Mr. Milburgh selbst.

»Sie sehen also«, schloß er, »daß Sie sehr auf Ihrer Hut sein müssen. Ich möchte Ihnen sogar raten, sich mit einem Rechtsanwalt in Verbindung zu setzen und ihm die ganze Sache zu übergeben. Gegen Mr. Lyne selbst brauchen Sie nicht vorzugehen, aber es würde Ihre Lage sehr stärken, wenn Sie die ganze Sache schon einer öffentlich bekannten Persönlichkeit auseinandergesetzt hätten.«

»Ich bin Ihnen zu größtem Dank verpflichtet, Mr. Tarling«, sagte sie warm und schaute ihn an. Dabei war ihr Lächeln so süß, so beredt und so hilflos, daß Tarling sonderbar ergriffen war.

»Und wenn Sie keinen Anwalt nehmen wollen, dann können Sie sich auf mich verlassen. Ich werde Ihnen immer helfen, wenn Sie irgendwie in Gefahr oder Unannehmlichkeiten kommen.«

»Sie wissen nicht, wie dankbar ich Ihnen bin, Mr. Tarling. Und ich habe Sie so wenig liebenswürdig empfangen!«

»Sie wären, wenn ich so sagen darf, recht leichtsinnig gewesen, wenn Sie mich anders behandelt hätten.«

Sie reichte ihm beide Hände, er schloß sie in die seinen und sah Tränen in ihren Augen. Aber dann nahm sie sich zusammen und führte ihn in das kleine Wohnzimmer.

»Ich habe meine Stelle verloren, aber ich habe schon wieder mehrere neue Angebote. Eins davon werde ich annehmen. Aber den Rest dieser Woche will ich noch für mich haben.«

Tarling brachte sie durch einen Wink zum Schweigen. Er hatte ein unendlich feines Gehör.

»Erwarten Sie irgendeinen Besuch?« fragte er leise.

»Nein«, antwortete sie erstaunt.

»Wohnt außer Ihnen noch jemand in diesen Räumen?«

»Meine Aufwartefrau schläft hier, sie ist aber heute Abend ausgegangen.«

»Hat sie einen Schlüssel?«

Odette schüttelte den Kopf.

Tarling erhob sich, und sie wunderte sich, wie schnell und gewandt der große Mann sich bewegen konnte. Lautlos eilte er zur Tür, drehte schnell den Handgriff und riß die Tür auf. Draußen stand ein Mann auf der Matte und sprang zurück, als Tarling so unerwartet im Eingang erschien. Der Fremde sah auffallend schlecht aus und trug einen neuen Anzug, der anscheinend nicht nach Maß gearbeitet war. Sein Gesicht hatte jene gelbe Farbe, die man häufig bei entlassenen Sträflingen findet.

»Verzeihung«, stammelte er. »Ist dies nicht Nr. 8?«

Tarling packte ihn im nächsten Augenblick am Kragen und zog ihn in die Wohnung herein.

»Was wollen Sie eigentlich hier? Was haben Sie denn da in der Hand?«

Bei diesen Worten entwand Tarling ihm einen Gegenstand. Es war kein Schlüssel, sondern ein flaches Instrument.

Mit einem Ruck hatte Tarling dem fremden Mann den Rock ausgezogen, trat einige Schritte zurück und deckte mit seinem Rücken die Tür. Geschwind und mit äußerster Geschicklichkeit durchsuchte er das Kleidungsstück. Aus zwei Taschen zog er mindestens ein Dutzend juwelenbesetzte Ringe hervor, an denen die Auszeichnung der Firma Lyne auf einem kleinen Etikett angebracht war.

»So?« fragte Tarling sarkastisch. »Das sind wohl Geschenke von Mr. Lyne an Miss Rider, weil er sie so gern hat?«

Der Mann war sprachlos vor Wut.

»Das ist ein ganz dummer Trick!« Tarling schüttelte traurig den Kopf. »Gehen Sie zu Ihrem Auftraggeber zurück, nämlich zu Mr. Thornton Lyne, und sagen Sie ihm, daß ich mich schäme, daß ein so intelligenter Mann so niederträchtige und obendrein noch so plumpe Methoden anwendet.«

Er öffnete die Tür wieder und stieß Sam Stay in das dunkle Treppenhaus hinaus.

Odette hatte erschreckt alles beobachtet und sah Tarling nun fragend an.

»Was hat das alles zu bedeuten? Ich fürchte mich so – was wollte denn der Mann hier?«

»Sie brauchen sich vor ihm und auch sonst vor niemand zu fürchten. Es tut mir leid, daß Sie sich Sorgen gemacht haben.«

Es gelang ihm auch, sie zu beruhigen, und als bald darauf die Aufwartefrau zurückkam, verabschiedete er sich.

»Also denken Sie daran – Sie haben meine Telefonnummer, und Sie können mich anrufen, wenn Sie irgendwie in Verlegenheit sind, besonders«, setzte er nachdrücklich hinzu, »wenn Sie morgen irgendwelche Unannehmlichkeiten haben sollten.«

Aber am nächsten Tag ereignete sich nichts Ungewöhnliches. Trotzdem rief sie ihn nachmittags um drei Uhr an.

 

»Ich wollte Ihnen noch sagen, daß ich aufs Land fahre«, erklärte sie. »Ich bin gestern Abend zu sehr erschrocken.«

»Lassen Sie es mich bitte wissen, wenn Sie wieder zurückkommen«, erwiderte Tarling, dem es schwer geworden war, sie aus seinen Gedanken zu verbannen. »Ich werde morgen einmal zu Lyne gehen und ein Wörtchen mit ihm reden. Nebenbei bemerkt ist der Mensch, der gestern nacht an Ihrer Wohnungstür war, ein Schützling von Mr. Lyne, er ist ihm mit Leib und Seele ergeben. Den Kerl müssen wir gut im Auge behalten. Die Sache gibt meinem Leben neuen Reiz!«

Er hörte, wie sie leise lachte.

»Muß ich erst ermordet werden, damit ein Detektiv seine Freude hat?« fragte sie vergnügt, und auch er lächelte.

»Auf alle Fälle werde ich Lyne morgen aufsuchen«, sagte er.

Aber die Unterredung, die Jack Tarling plante, sollte niemals stattfinden.

Am nächsten Morgen ging ein Arbeiter frühzeitig durch den Hydepark, um schneller zu seiner Arbeitsstelle zu kommen. Auf seinem Weg sah er an der Seite eines Fahrweges einen Mann im Gras liegen. Er war angekleidet, nur fehlten Rock und Weste. Ein seidenes Damennachthemd war um seine Brust gewunden. Es war ganz mit Blut befleckt. Die Hände des Mannes waren über der Brust gefaltet, und ein Strauß gelber Narzissen lag zwischen seinen Händen.

Um elf Uhr morgens brachten die Zeitungen ausführliche Berichte, daß die Leiche, die im Hydepark gefunden wurde, identifiziert war. Es war niemand anders als Thornton Lyne, und der tödliche Schuss war mitten durch das Herz gegangen.

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