Die eiserne Ferse

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Er nickte wieder.

»Beachten Sie wohl,« sagte Ernst, »ich sagte ›selbstsüchtig.‹«

»Der Durchschnittsmensch ist selbstsüchtig«, gab der Bischof tapfer zu.

»Begehrt alles, was er bekommen kann.«

»Begehrt alles, was er bekommen kann – leider wahr.«

»Dann habe ich Sie.« Ernst ließ seine Kiefer wie eine Falle zuklappen. »Ich werde es Ihnen zeigen. Nehmen Sie einen Mann, der an der Straßenbahn arbeitet.«

»Er hätte diese Arbeit nicht, wenn das Kapital nicht wäre«, unterbrach ihn der Bischof.

»Stimmt, aber Sie werden mir zugeben, daß das Kapital zugrundegehen würde, wenn die Arbeiter nicht die Dividenden verdienten.«

Der Bischof schwieg.

»Geben Sie das zu?« beharrte Ernst.

Der Bischof nickte.

»Dann heben unsere Behauptungen sich gegenseitig auf«, sagte Ernst geschäftsmäßig, »und wir sind wieder, wo wir waren. Also lassen Sie uns wieder von vorne anfangen. Die Arbeiter bei der Straßenbahn liefern die Arbeit. Die Aktionäre liefern das Kapital. Durch die vereinigte Wirkung von Arbeit und Kapital wird das Geld verdient In jenen Tagen übten räuberische Individuen die Kontrolle über alle Transportmittel aus und erhoben vom Publikum eine Abgabe für deren Benutzung.. Das verdiente Geld wird zwischen ihnen geteilt. Der Verdienstanteil des Kapitals heißt ›Dividende‹, der der Arbeit ›Lohn‹«.

»Sehr richtig«, bemerkte der Bischof. »Und es ist kein Grund vorhanden, daß die Teilung nicht auf friedlichem Wege erfolgen sollte.«

»Sie haben schon vergessen, worüber wir uns einig waren«, erwiderte Ernst. »Wir waren uns darüber einig, daß der Durchschnittsmensch selbstsüchtig ist. Er ist der Mensch der Tatsache. Sie sind ins Blaue geflogen und haben einen Unterschied zwischen den Menschen aufgestellt, wie sie sein sollten, aber nicht sind. Kehren Sie wieder auf die Erde zurück. Der Arbeiter, der selbstsüchtig ist, will bei der Teilung haben, was er bekommen kann. Der Kapitalist, der auch selbstsüchtig ist, will ebenfalls bei der Teilung haben, was er bekommen kann. Wenn es aber nur so und so viel zum Teilen gibt, und wenn zwei alles haben wollen, dann ist der Interessenkonflikt zwischen Arbeit und Kapital ein unversöhnlicher. Solange es Arbeiter und Kapitalisten gibt, werden sie sich über die Teilung streiten. Wenn Sie heute abend in San Franzisko wären, müßten Sie zu Fuß gehen. Dort fährt nicht eine Straßenbahn.«

»Wieder Streik Diese Streitigkeiten waren in jenen irrationellen und anarchistischen Zeiten sehr häufig. Zuweilen weigerten die Arbeiter sich, zu arbeiten. Zuweilen weigerten die Kapitalisten sich, die Arbeiter arbeiten zu lassen. Bei der Heftigkeit und Verwirrung solcher Unstimmigkeiten wurde viel Eigentum zerstört und manches Leben vernichtet. Alles dies ist uns heute unverständlich – ebenso unverständlich wie eine andere Gewohnheit jener Zeit, nämlich die Gepflogenheit von Männern der niederen Klasse, die Einrichtung zu zertrümmern, wenn sie sich mit ihren Frauen zankten.?« fragte der Bischof erschrocken.

»Ja, sie streiten sich über die Verteilung des Gewinns der Straßenbahn.«

Bischof Morehouse wurde erregt.

»Es ist unrecht«, rief er. »Es ist so kurzsichtig von den Arbeitern. Wie können sie Sympathie von uns erwarten –«

»Wenn wir gezwungen werden, zu Fuß zu gehen«, schmunzelte Ernst.

Aber Bischof Morehouse beachtete ihn nicht und fuhr fort: »Ihr Horizont ist zu eng. Menschen sollten Menschen sein und keine wilden Tiere. Jetzt wird es wieder Gewalt und Mord, trauernde Witwen und Waisen geben. Kapital und Arbeit sollten Freunde sein. Sie sollten Hand in Hand zu gegenseitigem Nutzen arbeiten.«

»Ach, jetzt schweben Sie wieder im Blauen«, bemerkte Ernst trocken. »Kommen Sie auf die Erde zurück. Vergessen Sie nicht: Wir waren uns einig, daß der Durchschnittsmensch selbstsüchtig ist.«

»Aber er sollte es nicht sein«, rief der Bischof.

»Da stimme ich mit Ihnen überein«, lautete Ernsts Erwiderung. »Er sollte nicht selbstsüchtig sein. Aber er wird es sein, solange er unter einem sozialen System lebt, das auf einer Schweine-Ethik beruht.«

Der Bischof war entsetzt, und mein Vater schmunzelte.

»Ja, Schweine-Ethik«, fuhr Ernst unbarmherzig fort, »das ist das kapitalistische System. Und dafür tritt Ihre Kirche ein, die predigen Sie, so oft Sie die Kanzel besteigen. Schweine-Ethik! Es gibt keine andere Bezeichnung dafür.«

Bischof Morehouse wandte sich flehend zu meinem Vater, aber der nickte lachend.

»Ich fürchte, Herr Everhard hat recht«, sagte er. »Laissez-faire, die Unterlassungspolitik, jeder für sich, und den Rest soll der Teufel holen. Wie Herr Everhard neulich sagte, ist es die Aufgabe von euch Männern der Kirche, die bestehende Gesellschaftsordnung aufrechtzuerhalten, und auf dieser Grundlage steht die Gesellschaft eben.«

»Aber das ist nicht die Lehre Christi!« rief der Bischof.

»Die heutige Kirche lehrt nicht Christus«, warf Ernst schnell ein. »Deshalb will der Arbeiter nichts mit der Kirche zu tun haben. Die Kirche sanktioniert die furchtbare Brutalität und Grausamkeit der Kapitalisten gegen die arbeitende Klasse.«

»Die sanktioniert die Kirche nicht«, wandte der Bischof ein.

»Jedenfalls protestiert die Kirche nicht dagegen«, erwiderte er. »Und wenn die Kirche nicht protestiert, sanktioniert sie; denn vergessen Sie nicht, daß die Kirche von der kapitalistischen Klasse unterhalten wird.«

»In diesem Licht habe ich es noch nicht gesehen«, sagte der Bischof naiv. »Sie müssen unrecht haben. Ich weiß wohl, daß manches in dieser Welt häßlich und schlecht ist. Ich weiß, daß die Kirche das – das Proletariat Proletariat: stammt ursprünglich von dem lateinischen proletarii, ein Name, der zur Zeit des Servius Tullius denen gegeben wurde, die für den Staat nur als Erzeuger von Nachkommenschaft (proles) Wert hatten; mit andern Worten, sie kamen weder für Besitz und Stellung, noch für außergewöhnliche Befähigung in Betracht., wie Sie es nennen, verloren hat.«

»Sie haben das Proletariat nie gehabt«, rief Ernst. »Das Proletariat ist abseits von der Kirche und ohne sie entstanden.«

»Ich verstehe Sie nicht«, sagte der Bischof verzagt.

»Dann lassen Sie es mich Ihnen erklären. Mit der Einführung der Maschine und des Fabriksystems gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts wurde die große Masse der arbeitenden Bevölkerung heimatlos gemacht. Das alte Arbeitssystem war zusammengebrochen. Das arbeitende Volk wurde von seinen Dörfern vertrieben und in Fabrikstädten zusammengepfercht. Mütter und Kinder mußten an den neuen Maschinen arbeiten. Alles Familienleben hörte auf. Die Bedingungen waren furchtbar. Es ist eine blutige Geschichte.«

»Ich weiß, ich weiß«, unterbrach Bischof Morehouse ihn mit schmerzlicher Miene. »Es war schrecklich. Aber das ist anderthalb Jahrhunderte her.«

»Und damals, vor anderthalb Jahrhunderten entstand eben das moderne Proletariat«, fuhr Ernst fort. »Und die Kirche kümmerte sich nicht darum. Während die Kapitalisten aus der Nation ein Schlachthaus machten, blieb die Kirche stumm. Sie protestierte damals so wenig, wie sie es heute tut. Wie Austin Lewis Von den Sozialisten bei der Wahl im Jahre 1906 der christlichen Zeitrechnung aufgestellter Kandidat für den Gouverneurposten von Kalifornien. Er war Engländer von Geburt, Verfasser vieler nationalökonomischer und philosophischer Bücher und einer der bedeutendsten Sozialistenführer seiner Zeit., wenn er von jener Zeit spricht, sagt, haben die, an welche das Gebot »weidet meine Lämmer« ergangen ist, ruhig zugesehen, wie diese Lämmer in die Sklaverei verkauft wurden und sich zu Tode arbeiten mußten Es gibt kein schrecklicheres Blatt in der Geschichte als die Behandlung von Kindern und Frauen in den englischen Fabriken in der zweiten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts der christlichen Zeitrechnung. Aber manche der stolzesten Schicksale jener Tage erwuchsen aus diesen Industriehöllen.. Damals war die Kirche stumm, und ehe ich fortfahre, bitte ich Sie, mir zu sagen, ob Sie mir recht geben oder nicht. War die Kirche damals stumm?«

Bischof Morehouse zögerte. Wie Dr. Hammerfield war er einen solchen »Zusammenprall«, wie Ernst es nannte, nicht gewohnt.

»Die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts ist geschrieben«, sagte Ernst schnell. »Wäre die Kirche nicht stumm, würde sie in den Büchern nicht schweigen.«

»Ich fürchte, die Kirche war stumm«, gestand der Bischof.

»Und die Kirche ist heute noch stumm.«

»Da muß ich widersprechen«, sagte der Bischof.

Ernst machte eine Pause, sah ihn forschend an und nahm dann die Herausforderung an.

»Also schön«, sagte er. »Lassen Sie uns sehen. In Chikago gibt es Frauen, die die ganze Woche für nur neunzig Cents arbeiten. Hat die Kirche dagegen protestiert?«

»Das ist mir ganz neu«, lautete die Antwort. »Neunzig Cents die Woche! Das ist ja schrecklich.«

»Hat die Kirche dagegen protestiert?« beharrte Ernst.

»Die Kirche weiß das nicht.« Der Bischof war offenbar in schwerer Bedrängnis.

»Aber der Kirche ist doch befohlen: ›Weidet meine Lämmer‹«, höhnte Ernst. Und im nächsten Augenblick sagte er: »Verzeihen Sie meinen Hohn, Herr Bischof. Aber können Sie sich wundern, wenn wir die Geduld mit Ihnen verlieren? Wann haben Sie je bei Ihren kapitalistischen Verbänden gegen die Verwendung von Kindern zur Arbeit in den Baumwollspinnereien des Südens protestiert Ein noch besseres Beispiel hätte Everhard vorbringen können, wenn er daran gedacht hätte, wie die Kirche vor ihrer Zeit für die Sklaverei eingetreten war. Im Jahre 1835 stellte die Versammlung der presbyterianisdien Kirche fest: »Sklaverei ist sowohl im Alten wie im Neuen Testament anerkannt und von Gott nicht verboten.« Die Charlestoner Baptisten-Gesellschaft veröffentlichte im Jahre 1835 folgendes: »Das Recht des Herrn, über die Zeit seiner Sklaven zu verfügen, ist klar vom Schöpfer aller Dinge anerkannt, der unbedingt das Besitzrecht über jeden Gegenstand zuerteilen kann, wem ihm beliebt.« Referend E. D. Simon, Doktor der Religionsgeschichte und Professor am Randolph-Macon-Methodist-College in Virginia schrieb: »Die Heilige Schrift bestätigt an vielen Stellen unwiderruflich das Recht auf Sklavenhaltung in Gemäßheit des allgemeinen Besitzrechtes. Das Recht, zu kaufen und zu verkaufen, ist klar bestätigt, ob wir nun die von Gott selbst vorgeschriebene Politik des jüdischen Staates oder die gleichartige Behandlung dieser Angelegenheit durch die Gesetze in allen Jahrhunderten, die Vorschriften des Neuen Testamentes oder unsere Moralgesetze befragen. Immer kommen wir zu dem Schlusse, daß Sklaverei nicht unmoralisch ist. Wenn einmal feststeht, daß die ersten afrikanischen Sklaven gesetzmäßig in die Sklaverei gebracht worden sind, so folgt daraus unerbittlich das Recht, auch ihre Kinder in der Sklaverei zu behalten. Wir sehen also, daß die Sklaverei in Amerika zu Recht besteht.

 

Es ist durchaus nicht merkwürdig, daß wir dieselben Anschauungen etwa eine Generation später wieder von der Kirche vertreten sehen, und zwar zur Verteidigung des kapitalistischen Eigentums. Im Museum zu Asgard befindet sich ein Buch Henry van Dykes, »Angewandte Essays«. Das Buch erschien im Jahre 1905 der christlichen Zeitrechnung, und wir können daraus ersehen, daß van Dyke Geistlicher gewesen sein muß. Es ist ein gutes Beispiel für das, was Everhard bourgeoises Denken genannt haben würde. Man beachte die Ähnlichkeit zwischen den oben zitierten Äußerungen der Charlestoner Baptistengesellschaft und dem folgenden, siebzig Jahre später von van Dyke geprägten Satze: »Die Bibel lehrt, daß die Welt Gott gehört. Er teilt jedermann nach Gutdünken in Übereinstimmung mit den allgemeinen Gesetzen aus.«? Sechs- und siebenjährige Kinder arbeiten jede Nacht in Zwölfstundenschichten. Sie sehen nie die Sonne. Sie sterben wie die Fliegen. Die Dividenden werden mit ihrem Blute bezahlt. Und aus den Dividenden werden in Neuengland prachtvolle Kirchen gebaut, in denen Ihresgleichen den schlauen, dickbäuchigen Beziehern dieser Dividenden Plattheiten predigen.«

»Das wußte ich nicht«, murmelte der Bischof leise. Sein Gesicht war bleich, und ihm schien übel zu werden.

»Dann haben Sie also nicht dagegen protestiert.«

Der Bischof schüttelte den Kopf.

»Dann ist die Kirche heute noch so stumm, wie sie es im achtzehnten Jahrhundert war?«

Der Bischof schwieg und Ernst gab dem Gespräch unvermittelt eine andere Wendung.

»Sie wissen, daß ein Geistlicher, der protestieren wollte, entlassen würde.«

»Ich glaube kaum, daß das leicht ist«, lautete die Erwiderung.

»Wollen Sie protestieren?« fragte Ernst.

»Zeigen Sie mir solche Schäden, wie Sie sie anführen, in unserer eignen Gemeinde, und ich werde protestieren.«

»Ich werde sie Ihnen zeigen«, sagte Ernst ruhig. »Ich stehe Ihnen zur Verfügung. Ich will mit Ihnen eine Wanderung durch die Hölle machen.«

»Und ich werde protestieren.« Die Glieder des Bischofs strafften sich, und seine feinen Züge nahmen die Härte eines Kriegers an. »Die Kirche soll nicht stumm sein.«

»Man wird Sie entlassen«, warnte Ernst.

»Ich werde Ihnen das Gegenteil beweisen«, lautete die Antwort. »Ich werde beweisen, daß die Kirche nur aus Unwissenheit geirrt hat. Und mehr noch, ich bin überzeugt, daß, was auch immer Schreckliches in der Industrie vorkommt, nur durch die Unwissenheit der kapitalistischen Klasse ermöglicht wird. Sobald sie es erfährt, wird sie alles Unrecht gut machen. Und daß sie es erfährt, soll Sache der Kirche sein.«

Ernst lachte. Er lachte brutal, und mich trieb es, dem Bischof beizustehen.

»Vergessen Sie nicht,« sagte ich, »daß Sie nur die eine Seite der Sache sehen. Es ist viel Gutes in uns, wenn Sie es auch nicht sehen wollen. Bischof Morehouse hat Recht. Das Unrecht der Industrie ist schrecklich, aber er sagt, es rührt nur von der Unwissenheit her. Der Schlund, der zwischen den verschiedenen Schichten der Gesellschaft klafft, ist zu breit geworden.«

»Der wilde Indianer ist nicht so roh und grausam wie die kapitalistische Klasse«, erwiderte er, und in diesem Augenblick haßte ich ihn.

»Sie kennen uns nicht«, antwortete ich. »Wir sind nicht roh und grausam.«

»Beweisen Sie das«, forderte er mich auf.

»Wie kann ich es Ihnen beweisen?« Ich wurde zornig.

Er schüttelte den Kopf.

»Ich verlange ja nicht, daß Sie es mir beweisen sollen. Beweisen Sie es sich selber.«

»Ich weiß Bescheid«, sagte ich.

»Sie wissen nichts«, erwiderte er grob.

»Aber Kinder«, sagte Vater besänftigend.

»Es ist mir ganz einerlei« – begann ich unwillig, aber Ernst unterbrach mich.

»Ich glaube, Sie – oder Ihr Vater, was dasselbe ist – haben Geld in den Sierra-Spinnereien angelegt.«

»Was hat das damit zu tun?« rief ich.

»Nicht viel«, begann er langsam. »Nur, daß das Gewand, das Sie tragen, mit Blut befleckt ist. Daß die Nahrung, die Sie essen, blutig ist. Daß das Blut kleiner Kinder und starker Männer von Ihren Dachbalken herabtropft. Wenn ich jetzt die Augen schließe, kann ich es immerfort über mir tropfen hören: Tripp, tropp, tripp, tropp.«

Und indem er die Tat den Worten folgen ließ, schloß er die Augen und lehnte sich in seinem Sessel zurück. Vor Zorn und verletzter Eitelkeit brach ich in Tränen aus. Nie in meinem Leben war man mir so brutal begegnet. Sowohl der Bischof wie mein Vater waren verlegen und bestürzt. Sie versuchten die Unterhaltung in ruhigere Bahnen zu lenken, aber Ernst öffnete die Augen, ließ sie einen Augenblick auf mir ruhen und wandte sich dann ab. Sein Mund war starr und seine Augen auch, und sie lächelten nicht. Was er mir sagen, welche furchtbare Züchtigung er mir angedeihen lassen wollte, habe ich nie erfahren, denn in diesem Augenblick blieb ein Mann, der auf dem Bürgersteig vorbeiging, stehen und sah zu uns herein. Er war groß, ärmlich gekleidet und trug auf dem Rücken eine schwere Last von Rohr- und Bambusständern, Stühlen und Ofenschirmen. Er sah zum Hause herauf, als sei er unschlüssig, ob er eintreten und versuchen sollte, etwas von seiner Ware zu verkaufen.

»Der Mann heißt Jackson«, sagte Ernst.

»Mit dem kräftigen Körper sollte er arbeiten und nicht hausieren«, antwortete ich kurz.

»Sehen Sie seinen linken Ärmel«, sagte Ernst höflich.

Ich blickte hin und sah, daß der Ärmel leer war.

»Blut von diesem Arm war es, das ich von Ihren Dachbalken tropfen hörte«, sagte Ernst mit immer gleichbleibender Höflichkeit. »Er verlor seinen Arm in den Sierra-Spinnereien, und wie ein niedergebrochenes Pferd warfen sie ihn zum Sterben auf die Landstraße. Unter »sie« verstehe ich den Generaldirektor und die Beamten, die von Ihnen und den andern Aktionären für die Leitung der Spinnerei bezahlt werden. Es war ein Unfall. Er erlitt ihn bei dem Versuch, der Gesellschaft ein paar Dollar zu retten. Er geriet mit dem Arm zwischen die Zahnräder. Er hätte das Steinchen ruhig lassen können, das er zwischen den Zähnen sah. Es wäre nur eine Reihe von Stiften verbogen worden. Aber er griff nach dem Stein, und dabei wurde sein Arm gepackt und von den Fingerspitzen bis zur Schulter zerfleischt. Es war Nacht. Die Spinnerei machte Überstunden. Sie schütteten damals eine fette Dividende aus. Jackson hatte viele Stunden gearbeitet, seine Muskeln waren erlahmt, und so führten sie die Bewegung ein wenig langsam aus. Deshalb packte ihn die Maschine. Er hat eine Frau und drei Kinder.«

»Und was tat die Gesellschaft für ihn?« fragte ich darauf.

»Nichts. Ach ja, doch, etwas tat sie. Sie führte den Prozeß, den Jackson nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus auf Schadenersatz anstrengte, erfolgreich durch. Die Gesellschaft beschäftigt sehr tüchtige Rechtsanwälte, wissen Sie.«

»Sie haben nicht alles erzählt«, sagte ich mit Überzeugung. »Oder Sie wissen nicht alles. Vielleicht war der Mann unverschämt.«

»Unverschämt! Ha! Ha!« Sein Lachen war teuflisch. »Du lieber Gott, unverschämt! Mit seinem verstümmelten Arm! Trotz allem war er demütig und bescheiden und dachte gar nicht daran, unverschämt zu sein.«

»Aber das Gericht«, drängte ich. »Der Prozeß wäre doch nicht zu seinen Ungunsten entschieden worden, wenn nicht noch etwas gewesen wäre, das Sie nicht erwähnt haben.«

»Der erste Anwalt der Gesellschaft ist Ingram, ein scharfsinniger Jurist.« Ernst sah mich einen Augenblick gespannt an, dann fuhr er fort: »Ich will Ihnen etwas sagen, Fräulein Cunningham. Untersuchen Sie den Fall Jackson.«

»Das hatte ich mir sowieso vorgenommen«, sagte ich kühl.

»Schön«, meinte er freundlich. »Und ich will Ihnen sagen, wo Sie den Mann finden können. Aber ich zittere für Sie, wenn ich daran denke, was Sie durch Jacksons Arm erfahren werden.«

Und so kam es, daß sowohl der Bischof wie ich auf den Vorschlag Ernsts eingingen. Die beiden entfernten sich und ließen mich allein mit dem schmerzlichen Gefühl eines Unrechts, das mir und meiner Klasse angetan war. Dieser Mann war ein wildes Tier. Ich haßte ihn und tröstete mich nur mit dem Gedanken, daß man eben von einem Angehörigen der arbeitenden Klasse kein anderes Benehmen erwarten konnte.

Jacksons Arm

Ich ließ mir nicht träumen, welch verhängnisvolle Rolle Jacksons Arm in meinem Leben spielen sollte. Jackson selbst machte, als ich ihn aufsuchte, keinen besonders starken Eindruck auf mich. Ich fand ihn in einem wackligen, baufälligen Dieses Wort bezeichnet den Zustand halb zerstörter und verfallener Häuser, in denen große Massen der arbeitenden Bevölkerung in jenen Tagen Unterkunft fanden. Sie zahlten den Grundbesitzern feste und im Verhältnis zum Werte solcher Häuser ungeheure Abgaben. Hause, dicht an der Bucht, am Rande des Sumpfes. Rings um das Haus waren Tümpel stagnierenden Wassers, dessen Oberfläche von grünem fauligen Schlamm bedeckt war, und aus denen ein unerträglicher Gestank aufstieg.

Ich fand Jackson so demütig und bescheiden, wie Ernst ihn geschildert hatte. Er war mit der Herstellung eines Rohrgeflechts beschäftigt und arbeitete stumpf weiter, während ich mit ihm sprach. Aber trotz seiner Demut und Bescheidenheit glaubte ich in ihm das erste Anzeichen einer keimenden Erbitterung zu entdecken, als er sagte:

»Man hätte mich aber doch wenigstens als Wächter In jenen Tagen war Diebstahl ungeheuer verbreitet. Jeder stahl vom andern. Die Herren der Gesellschaft stahlen legal, die ärmere Klasse illegal. Nichts war sicher, wenn es nicht bewacht wurde. Riesige Menschenmassen waren als Wächter zum Schutze des Eigentums angestellt. Die Häuser der Wohlhabenden waren eine Kombination von Banksafe und Festung. Die Aneignung der persönlichen Besitzgegenstände anderer durch unsere Kinder in heutiger Zeit ist als ein rudimentäres Überbleibsel des Stehldranges anzusehen, der in jenen frühen Zeiten allgemein war. einstellen sollen.«

Ich bekam nur wenig aus ihm heraus. Er machte den Eindruck eines Stumpfsinnigen, und doch schien die Gewandtheit, mit der er mit seiner einen Hand arbeitete, seinen Stumpfsinn Lügen zu strafen. Das brachte mich auf einen Gedanken.

»Wie kam es, daß Ihr Arm in die Maschine geriet?«

Er warf mir einen langen, forschenden Blick zu und schüttelte dann den Kopf.

»Ich weiß nicht. Es ist eben passiert.«

»Fahrlässigkeit?« fragte ich.

»Nein«, antwortete er. »So kann man es nicht nennen. Ich machte Überstunden und war, glaube ich, etwas übermüdet. In den siebzehn Jahren, die ich in der Spinnerei arbeite, habe ich bemerkt, daß die meisten Unglücksfälle gerade vor Arbeitsschluß Den Arbeitern wurden Beginn und Schluß der Arbeit durch das wilde, nervenzerreißende Kreischen von Dampfpfeifen angezeigt. vorkommen. Ich möchte wetten, daß in der letzten Arbeitsstunde mehr Unfälle vorkommen als während der ganzen übrigen des Tages. Wenn der Mensch stundenlang anstrengend gearbeitet hat, ist er nicht mehr so gewandt. Ich habe zuviele zerlöchert und zerrissen und bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt gesehen.«

»Viele?« forschte ich.

»Hunderte und Aberhunderte, auch Kinder.«

Bis auf die schrecklichen Einzelheiten stimmte seine Beschreibung des Unfalls mit der überein, die ich bereits vernommen hatte. Als ich ihn fragte, ob er vielleicht eine der Bedienungsvorschriften der Maschine außer Acht gelassen hätte, schüttelte er den Kopf.

 

»Ich riß mit der rechten Hand den Treibriemen ab«, sagte er, »und griff mit der Linken nach dem Steinchen. Ich hielt nicht an, um nachzusehen, ob der Treibriemen wirklich ab wäre. Ich dachte, meine rechte Hand hätte es getan – aber das war nicht der Fall. Ich griff schnell hin, aber der Riemen war nicht ganz herunter, und da wurde mir der Arm abgerissen.«

»Es muß sehr geschmerzt haben«, sagte ich mitleidig.

»Das Krachen der Knochen war nicht schön«, lautete seine Antwort.

Über seinen Prozeß war er sich noch nicht ganz klar. Nur soviel wußte er, daß er keinen Schadenersatz erhalten hatte. Er hatte das Gefühl, daß die Aussagen des Direktors und des Werkmeisters die ungünstige Entscheidung des Gerichts herbeigeführt hatten. Ihre Aussagen, wie er sie hinstellte, »waren nicht, wie sie hätten sein sollen«. Und ich beschloß, diese Zeugen aufzusuchen.

Eines war klar, die Lage Jacksons war erbärmlich. Seine Frau war leidend, und er selbst konnte durch das Rohrflechten und Hausieren den Lebensunterhalt für seine Familie nicht verdienen. Er war mit der Miete im Rückstand, und sein ältestes Kind, ein Junge von elf Jahren, hatte jetzt angefangen, in der Spinnerei zu arbeiten.

»Sie hätten mich als Wächter einstellen sollen«, waren seine letzten Worte, als ich ging.

Als ich dann den Anwalt, der Jackson vertreten, sowie die beiden Werkführer und den Generaldirektor der Spinnerei, die in dem Prozeß ausgesagt, gesprochen hatte, begann ich zu fühlen, daß in dem, was Ernst behauptete, etwas Wahres steckte.

Der Anwalt machte den Eindruck eines energielosen, unfähigen Menschen, und bei seinem Anblick wunderte ich mich nicht, daß Jackson seinen Prozeß verloren hatte. Mein erster Gedanke war, daß Jackson Recht geschehen war, weil er sich einen solchen Anwalt genommen hatte. Im nächsten Augenblick aber kamen mir plötzlich zwei Behauptungen von Ernst zum Bewußtsein: »Die Gesellschaft beschäftigt sehr tüchtige Rechtsanwälte« und »Ingram ist ein scharfsinniger Jurist.« Ich überlegte schnell. Es wurde mir klar, daß die Gesellschaft sich natürlich bessere Juristen leisten konnte als ein Arbeiter wie Jackson. Aber das war das wenigste. Es mußte unbedingt einen Grund haben, daß der Prozeß ungünstig für Jackson ausgefallen war. »Warum haben Sie den Prozeß verloren?« fragte ich. Der Anwalt war bestürzt und sah mich einen Augenblick zerquält an, und ich empfand Mitleid mit dem armseligen Menschen. Dann begann er zu jammern. Ich glaube, das Jammern war ihm angeboren. Er jammerte über die Zeugenaussagen. Sie wären alle zugunsten der Gegenpartei ausgefallen. Nicht ein einziges Wort zugunsten Jacksons hätte man aus ihnen herausbringen können. Sie hätten gewußt, wo die Butter für ihr Brot zu holen war. Jackson sei ein Dummkopf. Er wäre durch Ingram eingeschüchtert und verwirrt worden. Ingram sei glänzend im Kreuzverhör. Er hätte Jackson veranlaßt, nachteilige Antworten zu geben.

»Wie konnten seine Antworten nachteilig sein, wenn er das Recht auf seiner Seite hatte?« fragte ich.

»Was hat das mit Recht zu tun?« fragte er zurück. »Sehen Sie alle diese Bücher.« Er wies mit der Hand auf eine Reihe von Bänden an den Wänden seines winzigen Bureaus. »Alles, was ich in ihnen gelesen und studiert habe, hat mich gelehrt, daß Gesetz und Recht zweierlei sind. Fragen Sie jeden Anwalt, den Sie wollen. In der Sonntagsschule lernt man, was Recht ist. Aus diesen Büchern aber lernt man eines: Gesetz.«

»Wollen Sie damit sagen, daß Jackson im Recht war und doch verurteilt wurde?« forschte ich. »Wollen Sie sagen, daß es keine Gerechtigkeit in Caldwells Gericht gibt?«

Der kleine Anwalt starrte mich einen Augenblick an, dann aber schwand die Energie aus seinen Zügen.

»Ich hatte keine Möglichkeit«, begann er wieder jammernd. »Sie haben Jackson zum Narren gemacht und mich auch. Welche Möglichkeiten hatte ich auch. Ingram ist ein großer Jurist. Wäre er das nicht, würden ihm dann die Sierra-Spinnereien, das Erston Land-Syndicate, die Berkeley Consolidated, die Oakland, San Leandro und Pleasenton Elektrizitätswerke die Führung ihrer Rechtsgeschäfte übertragen haben? Er ist Trustanwalt, und ein Trustanwalt wird nicht umsonst bezahlt Aufgabe der Trustanwälte war es, durch korrupte Methoden den geldrafferischen Neigungen der Trusts zu dienen. Hierauf bezieht sich, was Theodore Roosevelt, damals Präsident der Vereinigten Staaten, im Jahre 1905 sagte: »Wir alle wissen, daß, wie die Dinge zur Zeit liegen, viele der einflußreichsten und bestbezahlten Mitglieder der Gerichtsbarkeit in jedem Zentrum des Reichtums es sich zur besonderen Aufgabe machen, kühne und feindurchdachte Pläne auszuarbeiten, die ihre wohlhabenden Klienten, seien es einzelne Persönlichkeiten oder Korporationen, instandsetzen, die Gesetze zu umgehen, die den Nutzen der großen Reichtümer zum Besten der Gesamtheit regulieren sollten.«. Wofür meinen Sie wohl, zahlt die Sierra-Spinnerei allein ihm zwanzigtausend Dollar jährlich? Natürlich, weil er ihnen zwanzigtausend Dollar jährlich wert ist. Ich bin nicht soviel wert. Wäre ich es, so stünde ich nicht abseits, darbte und übernähme Prozesse wie den Jacksons. Was, glauben Sie, hätte ich bekommen, wenn ich den Prozeß gewonnen hätte?«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach hätten Sie Jackson ausgeplündert«, antwortete ich.

»Selbstverständlich!« rief er ärgerlich. »Ich muß doch auch leben, nicht wahr Eine typische Illustration des mörderischen Ringens, das die ganze Gesellschaft umfaßte. Die Menschen plünderten sich gegenseitig wie raubgierige Wölfe. Die großen Wölfe fraßen die kleinen, und in diesem Rudel war Jackson einer der allerkleinsten.?«

»Er hat Frau und Kinder«, tadelte ich ihn.

»Ich auch«, erwiderte er. »Und außer mir kümmert sich kein Mensch in der Welt darum, ob sie darben oder nicht.«

Seine Züge wurden plötzlich weich, er öffnete seine Uhr und zeigte mir die auf die Innenseite des Deckels geklebte Photographie von einer Frau und zwei kleinen Mädchen.

»Das sind sie, sehen Sie sie an. Wir haben schwere Zeiten durchgemacht, schwere Zeiten. Ich hatte gehofft, sie aufs Land schicken zu können, wenn ich Jacksons Prozeß gewann. Sie brauchen Landluft, aber ich kann es mir nicht leisten, sie fortzuschicken.«

Als ich mich zum Gehen anschickte, verfiel er wieder in sein Jammern.

»Ich habe nicht die geringsten Aussichten. Ingram und der Richter Caldwell sind befreundet. Ich will nicht sagen, daß diese Freundschaft den Prozeß entschieden haben würde, wenn ich im Kreuzverhör die Zeugen zu den richtigen Aussagen bekommen hätte. Aber Caldwell tat doch sein Möglichstes, um zu verhindern, daß ich das richtige Beweismaterial zusammen bekam. Caldwell und Ingram gehören derselben Loge und demselben Klub an. Sie sind Nachbarn in einer Gegend, wo ich es mir nicht leisten kann zu wohnen. Und ihre Frauen besuchen sich immer. Sie haben ihre gemeinsame Whistpartie und lauter ähnliche Dinge.«

»Und glauben Sie noch, daß Jackson im Recht war?« fragte ich, indem ich einen Augenblick auf der Schwelle stehenblieb.

»Ich glaube nicht, ich weiß nicht«, lautete die Antwort. »Zuerst glaubte ich auch, daß er Aussichten hätte. Aber ich sagte meiner Frau nichts davon. Ich wollte ihr keine Enttäuschung bereiten. Ihr Herz hing an einem Aufenthalt auf dem Lande, so schwer das auch zu machen war.«

»Warum lenkten Sie nicht die Aufmerksamkeit auf die Tatsache, daß Jackson die Maschine vor Schaden zu bewahren versuchte?« fragte ich Peter Donnelly, einen der Werkführer, die vor Gericht ausgesagt hatten. Er überlegte lange, ehe er antwortete. Dann warf er einen scheuen Blick um sich und sagte: »Weil ich eine brave Frau und drei der süßesten Kinder habe, die Ihre Augen je erblickt haben. Deshalb.«

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