Der Tag an dem Bella verschwand

Текст
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Der Tag an dem Bella verschwand
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

KATRIN KLEMM & JOHN SEALEY

DER TAG AN DEM BELLA VERSCHWAND

Der Business-Roman für berufsErfolg und EIN leichtes Leben im Alltag

Credit: Daniela Podeus


ÜBER DIE AUTOREN

Die Hamburger Coaches und Unternehmensberater Katrin Klemm und John Sealey überzeugen seit über zehn Jahren mit pragmatischer Zielorientiertheit, britischem Humor und alltagstauglichen Lösungen, die Lust auf ein sinnreiches Leben und Arbeiten machen. Durch ihre Erfahrung als Projektmanagerin in IT-Unternehmen und Marketing-Profi stehen sie mit beiden Beinen in der Praxis. Zu ihren Kunden gehören vorwiegend mittelständische Unternehmen, Führungskräfte und Berufstätige in Orientierungsphasen. Mehr Informationen gibt es unter www.die-kernforscher.de

IMPRESSUM

Copyright: © 2014 Katrin Klemm und John Sealey

Verlag: epubli GmbH, Berlin, www.epubli.de

ISBN 978-3-7375-0534-5

Die Durchführung der Übungen erfolgt auf eigene Verantwortung. Weitere Informationen unter www.bella4business.de

TEIL 1: ENTSCHEIDEN!

Prolog: Am Anfang war kein Wort

Es gibt Tage, die könnten schlimmer nicht kommen. Und als genau so einen Tag muss man wohl jenen bezeichnen, an dem unsere Geschichte beginnt.

Manfred März saß nun schon seit grauenhaften 47 Minuten im Konferenzraum des kleinen Hamburger Verlages – dem Expertenverlag – und versuchte sich seine nervöse Verzweiflung nicht anmerken zu lassen. Die ganze Zeit über hatte der Chefredakteur und Geschäftsführer noch kein einziges Wort herausgebracht. Wie auch – die drei Chinesen ihm gegenüber würden ihn ohnehin nicht verstehen! Und so saß er stumm da, Hilfe suchend in alle Richtungen blickend – nur nicht zu den Herren Cheng, Ni und Zhang, um bloß nicht auf sich aufmerksam zu machen.

Diese wiederum ließen nicht erkennen, ob ihnen die angespannte Stimmung im Konferenzraum etwas ausmachte oder nicht: Mit kurzen Wurstfingern verarbeitete der fette Herr Cheng die Seiten seines Schreibblocks zu einer Armee von Papiervögeln, allesamt in akkuraten Viererreihen vor sich aufgestellt. Der junge, zierliche Herr Ni wisperte unterdessen nun fast schon eine geschlagene Stunde in sein Smartphone. Chinesisch, eine Hand zum Schallschutz vor die Nase haltend. Auch sein Tonfall verriet nichts über seinen Eindruck vom bisherigen Verlauf des Meetings, fand März. Einzig der alte Zhang mit seinem dichten, stahlgrauen Haarschopf gab zu erkennen, dass er die Anwesenheit der Verlagsmitarbeiter zur Kenntnis nahm – und musterte seine Gastgeber mit einem strengen Blick.

Franka Kruse, Manfreds attraktive Assistentin, tippte wie wild unter dem Tisch auf ihrem Smartphone-Display herum und blickte nur ab und zu auf, um wie paralysiert den alten Zhang anzulächeln. Kevin Schmidt, der Trainee des Expertenverlages, arbeitete – Kopfhörer in den Ohren und nicht einmal aufblickend – so konzentriert auf seinem iPad, dass sich mächtige Falten auf seiner Stirn türmten. Und Prokurist Frank Schlechter hatte sich fast gänzlich hinter einen hohen Papierstapel verkrochen. Augenscheinlich war er komplett in die Begutachtung seitenlanger Zahlenkolonnen, Grafiken und endloser Tabellen vertieft. Nur hin und wieder kritzelte er etwas an den Rand oder seufzte ganz leise.

So ruhig Manfred März von außen betrachtet schien, innerlich war er mittlerweile zu jedem verzweifelten Rettungsversuch der Situation bereit – immerhin war dies der definitiv letzte Moment, den Verlag zu retten. Die Delegation des Mutterkonzerns Muqin hao (was in Deutsch so viel wie „gute Mutter“ heißt) aus Honkong war eigens eingeflogen, um die neuen Pläne präsentiert zu bekommen. Und nun das: Absolutes Chaos, vollkommene Improvisation und eine nicht zu überbietende Pannenserie. Manfred merkte, wie kalte Schweißtropfen seinen Rücken runterliefen und das, obwohl es angenehm kühl im Raum war. Er hoffte inständig, dass man die Schweißflecken an Brust und Kragen seines Hemdes nicht sah.

Er versuchte Franka Kruse unter dem Tisch mit dem Schuh anzustupsen – konnte sie den Gästen nicht wenigsten mit ein bisschen Obst oder Kaffee die Zeit so angenehm wie möglich machen? Und was tippte sie da die ganze Zeit so auffällig unauffällig unter dem Tisch in ihr Handy? Endlich fand er ihr Schienenbein mit der Schuhspitze. Sie sah auf – in ihrem Blick eine Mischung aus genervter Ergebenheit und tapfer-freundlicher Aufmunterung: Sie musterte die dunklen Flecken an März‘ hellblauen Hemdkragen.

Ja, ja – sie wusste, sie sollte den chinesischen Gästen etwas Obst anbieten. Zum gefühlt zehnten Mal. Stumm und stur weigerte sie sich, dem Wunsch ihres Chefs zu folgen. Immerhin hatte sie auf dem Weg vom Flughafen hierher mit Schrecken erfahren, dass man in China wohl nur dann Obst anbietet, wenn man seine Gäste hinaus komplimentieren will – und das wollte sie nun wirklich nicht. Dafür stand zu viel auf dem Spiel bei dieser Präsentation.

Franka lächelte den alten Zhang an und wandte sich wieder ihrem Smartphone zu: Sie hatte die letzte halbe Stunde bereits eine SMS nach der anderen abgesendet. Doch James wollte sich einfach nicht melden. Oder er konnte es nicht. Oder... Sie mochte sich gar nicht Schlimmeres ausmalen und das brauchte sie auch nicht. Es war alles schon schlimm genug. Bereits am Flughafen gab es eine Panne nach der anderen: Erst war der Privatflieger der chinesischen Delegation auf eine andere Landebahn umgeleitet worden. Dann waren die Herren Cheng, Ni und Zhang in eine japanische Touristengruppe geraten.

Geschlagene zwanzig Minuten hatte es Franka gekostet, diese Verwirrung aufzulösen. Doch die eigentlichen Probleme hatten da erst begonnen. Das Taxi, mit dem sie gekommen war, hatte sich trotz gegenteiliger Absprache aus dem Staub gemacht. Da hatte die japanische Touristengruppe sie auch schon eingeholt und ein freies Taxi nach dem anderen gekapert. Erst eine gefühlte Ewigkeit später hatte Franka – schwitzend, simsend und verkrampft lächelnd – ein Taxi ergattern können. Die nächsten dreißig Minuten Autofahrt hatte sie die Drei durchgehend angelächelt. Ihre Wangenmuskeln schmerzten noch immer.

Franka Kruse war nicht das erste Mal mit der chinesischen Delegation zusammen – doch das erste Mal ohne Leslie Mingfei Schneider, der Betreuerin und Übersetzerin. Normalerweise stand sie ihr bei derlei Besuchen zur Seite. Doch ausgerechnet heute war sie krank und nur per Telefon zugeschaltet.

Es war zum aus-der-Haut-fahren. Sie wusste noch nicht einmal, wie gut die Herren untergebracht waren; geschweige denn, wie das Abendprogramm aussehen sollte... Zwischendurch versuchte sie immer wieder, James Bridge zu erreichen. Heimlich, unter dem Tisch. Während sie oben weiter lächelte und die Aufforderung in März‘ Blick ignorierte, den Gästen noch etwas Obst anzubieten. Gab es denn gar keine Unterstützung? Still seufzend schaute sie zu Kevin Schmidt herüber.

Doch der hatte sich komplett abgeschottet. Unterschiedlichste Sounds im Ohr nahm er nichts um sich herum wahr. Hoch konzentriert und energisch feilte er an seiner Präsentation. Noch ein paar Folien und sie stand. Konnte er schließlich was dafür, dass die Dolmetscherin nicht da war? Nein! Konnte er was dafür, dass sein Vorgesetzter James Bridge irgendwo in den Straßen Hamburgs umher lief, anstatt hier mit seiner überwältigenden, alles rettenden Präsentation zu glänzen?? Nein!! Konnte er was dafür, dass sich alle anderen am Tisch benahmen, als wären sie komplett unfähig??? Nein!!!

Doch wo es nun mal so war, würde er eben höchstpersönlich die Kohlen aus dem Feuer holen: Er würde das Meeting retten, würde gleich sein iPad an den Beamer anschließen und eine Präsentation hinlegen, dass den Chinesen die Spucke weg blieb! Nur noch ein paar animierte Übergänge. Nur noch ein paar Effekte. Nur noch ein paar Sounds. Dann war es soweit.

Da hatte Manfred März endlich eine gute Idee! Er griff in seine Jackettasche und fischte eine zerknitterte Schachtel Lucky Strike hervor. Er hatte sie noch vom letzten Treffen. Damals hatte er damit beim alten Zhang punkten können. Mit einem triumphierenden Lächeln blickte er zu ihm herüber – die Packung in seiner Hand schwenkend. Es brauchte etwas, bis sich ihre Blicke trafen. Doch dann hatte Zhang verstanden, was Manfred wollte. Von seinem rettenden Einfall beflügelt, streckte der ihm die Schachtel mit einem Schwung entgegen... zu schwungvoll, denn mit einem großen Bogen schleuderte eine der Zigaretten heraus, flog quer über den gesamten Konferenztisch und landete – Gott sei es gedankt – zielsicher direkt vor Herrn Zhangs auf dem Tisch gefalteten Händen.

Dieser starrte erst grimmig auf die Zigarette. Dann zu Manfred. Dann wieder auf die Zigarette. Endlich ließ er sich dazu herab, sie mit knorrigen Fingern aufzunehmen und sich zwischen seine schmalen, zum Halbmond nach unten gezogenen Lippen zu stecken. Er nickte Manfred zu, ohne eine Miene zu verziehen. Als der junge Herr Ni das sah, unterbrach er kurz sein Telefonat, holte ein silbernes Feuerzeug hervor und gab dem Alten mit einer leichten Verbeugung Feuer. Manfred März signalisierte Franka hektisch, sie solle den Aschenbecher etwas dichter an Herrn Zhang heran schieben. Was sie zum Glück auch tat.

Frank Schlechter blickte angesichts der plötzlichen Bewegung im Raum nur kurz auf und vergrub sich sofort wieder in seinem Papierstoß. Er blätterte vor und blätterte zurück, immer einige Dutzend Seiten zwischen zwei Fingern. Er sagte keinen Ton. Aber es war ihm leicht anzusehen, dass er mit den Zahlen so seine Probleme hatte. Er war kein guter Schauspieler und als ihm Herr Cheng zur Begrüßung wortlos den dicken Stapel in die Hand gedrückt hatte, war er puterrot angelaufen. Diese Farbe hatte sich bis jetzt nicht normalisiert.

 

Frank Schlechter war zwar der Prokurist des Verlages und kannte Zahlen – ja, liebte sie sogar. Doch hier stieg er einfach nicht durch. Seinen Hilfe suchenden Blicken war Manfred März mehrfach ausgewichen. Nun wusste er noch nicht einmal, was von ihm erwartet wurde: Sollte er irgend etwas berechnen? Interpretieren? Oder einfach still zur Kenntnis nehmen? Frank hasste derlei überraschende Ereignisse und hatte sich daher seit Wochen minutiös auf dieses Treffen vorbereitet. Und nun das. Er fühlte sich grässlich in seiner Haut. Mehr als alle anderen wünschte er sich, dass James endlich durch die Tür hereinkommen und alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen würde. Doch so sehr er auch lauschte und versuchte wahrzunehmen, was sich auf den Fluren des Verlagsbüros tat... es blieb ruhig. Von seinem Kollegen und Freund war weit und breit nichts zu hören oder zu sehen.

Dem dicken Cheng ging langsam das Papier aus. Manfred März hatte mitgezählt: Neunundzwanzig Vögel hatte er nun schon gefaltet. Vögel, die in Reihen geschlossen wie ein Bataillon zum Angriff bereitstanden. Den Blick auf ihn gerichtet. Bereit sich in Marsch zu setzen und mit ihren neunundzwanzig kleinen und unerbittlichen Schnäbeln „seinen“ Verlag in Stücke zu reißen. Nicht einmal der kleinste Rest würde übrig bleiben, wenn James Bridge nicht in den nächsten fünf Minuten endlich erschien und die Situation rettete. Denn dann wäre der dreißigste Vogel fertig und das Papier ebenso wie die Geduld des Herrn Cheng aufgebraucht, befürchtete März. Die Blicke von Franka, Frank, Kevin und März trafen sich:

Noch fünf Minuten. Fünf Minuten, die über ihrer aller Schicksal entscheiden würden.

Kapitel 1: James! James! James!

Neun Stunden zuvor...

„James. James. James...“

„Mum?“

„Ich habe Dich gefragt, ob Du an den dünnen Gürtel gedacht hast...“

„Aber Mum, ich...“

„Du weißt doch: Den mit der silbernen Schnalle. Der passt hervorragend zur hellen Hose und macht in jeder Situation was her.... Du trägst doch die helle Hose, my Dear, nicht wahr?“

„Mum!“ James zog eine gehörige Menge Luft durch seine Nase. Dabei ließ er zweimal die Augen rollen. Doch das konnte seine Mutter Mary am anderen Ende der Leitung natürlich nicht sehen. Und hätte sie es gesehen, so hätte sie ganz bestimmt so getan, als hätte sie es eben doch nicht gesehen. So war das nun mal: James konnte sagen was er wollte, tun was er wollte – oder es auch lassen, seine Mutter hatte immer das letzte Wort.

James versuchte mit der einen Hand die zwei Scheiben Toast zu bremsen, die – so schien es ihm – heute irgendwie schneller als sonst aus dem Toaster sprangen. Mit der anderen zog er seine Hose hoch. Der dünne Gürtel, von dem eben noch die Rede gewesen war, hing hinter ihm an einem kleinen Haken an der Küchenwand – gemeinsam mit seinem Jackett, einem frisch gebügelten, rosafarbenen Hemd nebst dazu passendem Einstecktuch und einem bräunlichen Schlips. Das Set – wie Mary die Kombination nannte – hatte sie extra für diesen bedeutsamen Tag am Abend zuvor zusammengestellt. Keine Frage: Alles war bis ins Kleinste geplant. So wie eigentlich alle Tage in James Leben. Und seine Mutter Mary hatte einen nicht unbeachtlichen Anteil daran.

Auf dem Frühstückstisch – zwischen dem noch leeren Teller, der grünen Zuckerdose und dem großen Glas englischen Ingwer-Gelees, das Mary ihm alljährlich unter den Weihnachtsbaum stellte – lag James iPhone, auf Lautsprecher gestellt. Eben hatte er es geschafft, die Hose zu schließen und seinen heißen Toast auf den Teller zu bugsieren, da füllte Marys Stimme erneut den Raum: „Viel zu laut“, dachte James insgeheim und meinte damit nicht nur die Einstellung des Handys...

„James. Wenn Du mich nicht hättest...“, rief Mary durch den Lautsprecher und machte eine Pause, die man in ihrer Länge durchaus als theatralisch bezeichnen konnte. Ihm war klar, dass es nun an ihm war ihr beizupflichten – ja, sie sogar noch zu bestärken. Seine Rolle wäre es zu sagen, dass sie ja mit allem Recht habe und er sich wie der Abglanz ihrer Güte fühle. Doch ganz so war das eben nicht. Eigentlich war es sogar ziemlich anders... Doch das verschwieg James ihr lieber. Stattdessen rang er sich wenigstens ein „Du hast ja Recht, Mum, aber...“ ab. Doch weiter kam er gar nicht. Denn gerade so als hätte er, auf einem wackeligen Fahrrad sitzend, ihr im großen Truck die Vorfahrt gelassen, nahm sie sich sofort wieder den Raum, den sie in ihrer Beziehung beanspruchte. James blieb nichts anderes übrig, als mit ein paar genervten Messerstrichen Gelee auf den Toast zu befördern, während ihre jetzt doch schon etwas schärfer werdenden Kommandos aus dem Smartphone schallten.

„Hast Du Bella gewaschen?“ dröhnte ihre Stimme.

„Wie bitte?“ kaute James zurück und verschluckte sich fast an seinem Toast.

„Ob Du den Hund gewaschen hast, frage ich. Du weißt, so was kann am Ende über den Erfolg des ganzen Tages entscheiden: Ist Bella sauber?“ bellte Mary nun selbst fast wie ein aufgebrachter Hund.

„Ja doch“, lenkte James um des lieben Friedens Willen ein. „Wir waren gestern in der Badewanne. Sie riecht wie eine Blumenwiese.“

Doch seine Mutter war gar nicht zum Scherzen aufgelegt – wie immer eigentlich. „Wir? Aber James...“, empörte sie sich.

„ Das war ein Spaß, Mum“, wiegelte James ab. Die nächsten fünf Sekunden verbrachte er damit auf sein Handy zu schauen und zu warten. Immer diese langen Pausen, dachte er sich. Dann hallte ihre Stimme erneut durch den Raum, wurde von der gelb gekachelten Küchenzeile zurückgeworfen und drang womöglich sogar bis zur Nachbarwohnung durch: „Ein Bridge scherzt nicht!“ Wobei sie sich ganz offensichtlich Mühe gab, trotz ihrer Erregung jedes Wort einzeln zu betonen.

James kannte Marys Lieblingsmotto nur zu gut. Lautlos formten seine Lippen den Satz mit: „Ein Bridge weiß sehr wohl, wann die Lage ernst ist.“

„Aber Mum, es handelt sich doch nur um ein Meeting. Eine Präsentation. Ich glaube nicht...“ Und schon fuhr ihm Mary wieder ins Wort, ohne im Entferntesten darauf zu warten, was ihr Sohn nun zu glauben beliebte. Nein, viel lieber setzte sie ihre To-Do-Liste fort und zwang ihn mit ihrem gekonnten Frage-und-Antwort-Spielchen dazu, sich ständig zu rechtfertigen. Und wie jeden Morgen führte genau das dazu, dass James hinter seinem straffen Zeitplan hinterherzuhinken begann. Die Minuten vergingen. Minuten, die James – so fühlte es sich zumindest an – dann den ganzen Tag über würde aufholen müssen.

Nun folgte das, was er im Geiste den Ping-Pong-Flow nannte, denn auch seine Mutter bemerkte natürlich, dass die Zeit zunehmend knapp und James immer nervöser wurde. Also beschleunigte sie die Prozedur nun ihrerseits:

„Aktentasche?“

„Gepackt.“

„Unterlagen?“

„Bereit.“

„Pausenbrot?“

„Aber Mum, ich bin doch keine fünf Jahre alt!“

„Pausenbrot habe ich gefragt!“ Und wie immer gab James an dieser Stelle auf und fügte sich in das Schicksal der allmorgendlichen Prozedur.

„Ja, ja. Ich hole mir dann unterwegs was“, spulte er seine obligatorische Antwort ab und war wirklich froh, dass Mary nicht da war, um ihm beschmierte Brote, Äpfel und eine Milchtüte zuzustecken. Wie hätte das im Verlag ausgesehen? Herr Bridge mit einer Lunch-Box – am besten noch mit Tiermotiven drauf. James musste grinsen, aber so lustig fand er den Gedanken eigentlich gar nicht.

„James, es soll heute regnen. Hast Du Deinen Schirm dabei?“, war Mary schon beim nächsten Punkt.

„Mum, ich habe gar keinen Schirm!“, wollte sich James aus dem Kommando stehlen.

„Doch James, Du hast einen. Im Kleiderschrank, hinten links – da, wo Du ihn versteckt hast“, konterte Mary.

„Ja, ja. Den nehme ich mit.... Mum, ich muss jetzt wirklich los. Ich lege jetzt auf...“, James zog die Reißleine.

„Aber James...“

„Wir können auch später noch mal telefonieren...“, würgte er seine Mutter ab.

„Aber bevor Du rein gehst, James!“

„Ja Mum“.

„James. James. James“, entfuhr es Mary noch einmal und man konnte förmlich hören, wie sie sich ob der ganzen Aufregung frische Luft zu fächerte.

„Mum, Mum, Mum“, gab James reflexhaft zurück. Es gab Nichts, was er jetzt noch mit ihr hätte diskutieren wollen. „Also, bis später...“, und bevor seine Mutter noch etwas erwidern konnte, hatte er schon die Hand am iPhone und beendete das Gespräch. Marys Bild, das sie höchst persönlich eingespeichert hatte, verschwand vom Display. Und zum ersten Mal an diesem Morgen hatte James das Gefühl frei durchatmen zu können. Er schaute zur runden Wanduhr über der Küchentür.

7:40 Uhr

Noch sieben Minuten bis die U-Bahn in Richtung Innenstadt abfuhr. Die ersten beiden nutzte James, um wieder runter zu kommen. Er schaute aus dem Küchenfenster auf den Hinterhof und kaute. Ein Taubenpärchen saß, die Köpfe im aufgeplusterten Gefieder versteckt, eng zusammengeschmiegt im Baum gegenüber. James atmete tief durch, ließ den letzten Bissen Toast verschwinden und schnappte sich auf dem Weg ins Arbeitszimmer sein Smartphone.

Seine Wohnung bestand nur aus drei Räumen: Aus der recht geräumigen Küche, in der er sich am liebsten aufhielt. Aus dem viel zu klein geratenen Schlafzimmer, das gerade Platz für ein schmales Bett ließ. Und aus seinem Arbeitszimmer. Letzteres wäre unter anderen Umständen vielleicht ein gemütliches Wohnzimmer geworden. Es lag nach hinten, zum ruhigen Hof raus und war dank der großen Fensterfront hell und freundlich.

Aber eben nur unter anderen Umständen. Denn James war nun mal kein Gemütlichheimer, sondern ein echtes Arbeitstier. Ein Workaholic, hätte man noch vor einiger Zeit dazu gesagt. Doch in diesen Zeiten hielt man sich mit solchen Beschreibungen lieber zurück. Viel wichtiger war, dass er Arbeit hatte. Der Rest war Work-Life-Balance oder wie man das jetzt nannte. Und, na ja, die Balance stimmte irgendwie. Auch wenn das bedeutete, dass es so etwas wie Freizeit eigentlich gar nicht gab in James Leben. Im Gegenteil. Oft nahm er sich die Arbeit mit nach Hause und saß noch Stunden vor dem Rechner, recherchierte im Internet oder bereitete - wie gestern Nacht - Präsentationen vor. Wenn man darunter irgendwie auch Balance verstehen konnte, na, dann hatte er es doch ganz gut getroffen.

Noch fünf Minuten... James überprüfte kurz den Inhalt seiner ledernen Arbeitstasche (natürlich von Mary ausgewählt), lief dann vom Arbeitszimmer wieder zurück in die Küche, schnappte sich die Kleiderschutzhülle mit „dem Set“ und wollte gerade ins Schlafzimmer zum Kleiderschrank, um... Aber der Schirm sollte heute ruhig bleiben, wo er war! James schaute sich um: „Bella?“, rief er vom Flur aus in sein Arbeitszimmer, während er sich einen Mantel überwarf.

Nach ein paar Sekunden schaute ein verträumter Hundekopf neben dem Sofa hervor. Die Ponyfransen noch vom Schlaf zerzaust, die Augen müde, aber doch interessiert. „Beeilung! Los geht´s!“, versuchte James seine schon etwas betagte Hündin anzufeuern. Die ließ sich aber um Nichts in der Welt aus der Ruhe bringen. Genüsslich reckte und streckte sie erst die Hinterläufe, dann die Vorderbeine, um ihn schließlich – leicht benommen und sich auf ihren etwas zu dicken Hundehintern setzend – anzugähnen, was sich immer wie das Quietschen einer rostigen Tür anhörte.

„ Komm schon!“, drängelte James und hörte sich dabei fast wie seine Mutter an. Ein letzter Kontrollblick in den Flurspiegel, noch einmal die dunklen Locken aus der Stirn gestrichen – noch vier Minuten...

„Tasche. Geld. Handy. Hund. Anzug. Ich glaube, wir sind komplett. Was meinst Du?“, murmelte James mehr zu sich, als zu Bella. Doch die mittelgroße Griffon-Mischlingsdame schaute ihn nur etwas erstaunt von der Türschwelle an. Sie konnte von Glück reden, dass sie James jeden Tag in den Verlag begleiten durfte. Also, zumindest redete James sich das ein. Und als er die Tür öffnete, schlüpfte sie mit erstaunlicher Geschwindigkeit an ihm vorbei, schnupperte in den Hausflur hinaus und wedelte mit ihrem kurzen Stummelschwänzchen, als freue sie sich riesig auf den Tag, der da vor ihnen lag.

„Ach, die Leine...“, James griff zur Garderobe und angelte sich die Lederleine. Dann schloss er die Tür hinter sich, drehte den Schlüssel drei Mal herum – und lief los. Bella hinterher.

„So, jetzt aber...“, James war in dem Dauerlauftempo angekommen, das seine Tage bestimmte.

Als James und Bella aus der Haustür auf die belebte Straße traten, blieben den beiden noch genau zwei Minuten bis ihre U-Bahn abfuhr. James fing an – wie jeden Morgen – die Sekunden zu zählen. Bella lief – wie jeden Morgen – schnurstracks auf ihren Lieblingsbaum zu.

 

„Komm jetzt!“, blaffte James sie an, was ihm aber noch im selben Moment leidtat. Er wusste, dass es nicht viel brachte, dem Hund die Situation zu erläutern. Nicht, weil dieser kein Verständnis für seine Sorgen hatte. Denn das war noch gar nicht erwiesen. Nein, er hatte sich die Verspätung ja selbst zuzuschreiben. Er wusste aus Erfahrung, dass er den Weg von seinem Haus in der Alsterdorferstraße bis zum U-Bahnhof Lattenkamp in neunzig Sekunden schaffen konnte.

Und so fing James an rückwärts zu zählen: „Neunzig!“, rief er so laut, dass sich ein älteres Ehepaar nach ihm umdrehte. Doch davon bekam James nichts mit. Er zog Bella an der Leine hinter sich her, während er Fahrt aufnahm. Im leichten Trab lief er vorbei an der Kirche, an dessen Eingang sich eine Gruppe junger Mütter hinter ihren kolossalen Kinderwägen verschanzt hatte. Schnelles Durchkommen war da nahezu unmöglich.

„Achtzig!“ warf James ihnen grimmig zu, was sie jedoch nicht von ihrem Geplauder abhielt. Weiter ging es zum Kiosk an der Ecke, durch den Torbogen, rein in den schmalen Häuserdurchgang. Vorbei am kleinen Literatur-Café. Dann die Treppe runter: „Siebzig!“.

Bella wollte an einem Baum schnuppern, James zog sie weiter. Über die Straße, den Blick auf sein iPhone gerichtet: „Fünfzig. Neunundvierzig. Achtundvierzig...“ zählte er mit, als er sich in die Menschenmenge zwängte, die gerade aus einem Bus vor dem U-Bahnhof quoll.

„Verzeihung. Darf ich? Achtung! Hund. Vierzig!“ James drängte die Menschen mit sanfter Bestimmtheit beiseite und hastete zur Treppe. Er nahm zwei Stufen auf einmal und zwang Bella mit ihren kurzen Beinchen zu Höchstleistungen. „Dreißig“.

Die Bahn war bereits in den Bahnhof eingefahren – zu früh! Wieder kämpften James und Bella gegen eine Menschenmenge, die ihnen nun von oben entgegen kam. „Zwanzig“.

Eine Gruppe von Kindern: Oh je! Zwei ältere Damen schauten sich hilfesuchend um und trugen ihre Fahrräder dann schließlich selbst herunter. Danach folgten drei schwatzende Teenager und eine Handvoll Geschäftsleute, den Blick starr ins Smartphone gerichtet. „Zehn“.

James und Bella waren nun fast oben angekommen. Noch immer drängten Menschen aus der Bahn nach draußen. Andere stemmten sich dagegen, um hineinzugelangen. „Acht!“ Jetzt waren James und Bella oben. Noch wenige Schritte... „Sieben!“

James hörte schon das Signal zum Türenschließen.

„Sechs“. Noch zwei ältere Herren vor ihm.

Bella versuchte Schritt zu halten, wurde aber von einem der Männer beiseite geschubst. Tapfer gab sie keinen Laut von sich. „Fünf“.

Der erste der beiden Männer war drinnen. „Vier“.

Der zweite Herr stieg ins Abteil. „Drei“.

James erreichte die Tür, doch einer der Rentner versperrte ihm den Weg. „Zwei“.

Endlich ging es weiter. „Eins“.

Nun war James drinnen. Hinter ihm schlossen sich die Türen mit einem leisen „Pffft“.

„Null!“ rief James. Die Bahn fuhr los.

James schaute sich zufrieden um. Doch außer zwei kichernden Schülerinnen nahm niemand Notiz von ihm.


Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»