Die neue Medizin der Emotionen

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Die neue Medizin der Emotionen
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DAVID SERVAN-SCHREIBER

DIE NEUE MEDIZIN
DER EMOTIONEN

STRESS, ANGST, DEPRESSION:GESUND WERDEN OHNE MEDIKAMENTE

Aus dem Französischen von

Inge Leipold und Ursel Schäfer

Verlag Antje Kunstmann

HINWEIS

Dieses Buch ist kein medizinisches Lehrbuch. Die Informationen sollen Ihnen ermöglichen, verantwortungsbewusste Entscheidungen in Gesundheitsfragen zu treffen. Das Buch ist jedoch kein Ersatz für eine eventuelle Behandlung, die Ihnen Ihr Arzt verordnet hat. Wenn Sie vermuten, dass Sie an einer gesundheitlichen Störung leiden, sollten Sie deshalb kompetente ärztliche Hilfe suchen.

Die Nennung bestimmter Firmen und Organisationen in diesem Buch bedeutet keine Empfehlung des Verlags, umgekehrt bedeutet ihre Nennung auch nicht, dass sie dieses Buch empfehlen.

INHALT

Vorbemerkung

1. Eine neue Medizin der Emotionen

2. Das Unbehagen in der Neurobiologie: Die schwierige Hochzeit zweier Gehirne

3. Herz und Vernunft

4. Kohärenz im täglichen Leben

5. Selbstheilung nach traumatischen Erfahrungen: Die neuro-emotionale Integration durch Augenbewegungen (EMDR)

6. EMDR in der Praxis

7. Die Lichtenergie: Wie man seine biologische Uhr richtig einstellt

8. Die Steuerung des Qi: Akupunktur wirkt unmittelbar auf das emotionale Gehirn

9. Die Revolution der Omega-3-Fettsäuren: Die Ernährung des emotionalen Gehirns

10. Xanax oder Adidas?

11. Liebe ist ein biologisches Bedürfnis

12. Emotionale Kommunikation

13. Mit dem Herzen zuhören

14. Die Verbindung zu anderen

15. Wo anfangen?

Danksagung

Anmerkungen

Bibliographie

Hilfreiche Adressen

VORBEMERKUNG

Viel verdanken die in diesem Buch vorgestellten Ideen den Arbeiten von Antonio Damasio, Daniel Goleman, Tom Lewis, Dean Ornish, Boris Cyrulnik, Judith Hermann, Bessel Van der Kolk, Joseph LeDoux, Mihaly Csikszentmihalyi, Scott Shannon und zahlreichen anderen Medizinern und Forschern. Wir haben an denselben Konferenzen teilgenommen, kannten dieselben Kollegen und haben dieselbe medizinische Literatur gelesen. Entsprechend zahlreich sind die Übereinstimmungen, Bezugnahmen und Vorstellungen in ihren Büchern und dem meinen. Ich komme nach ihnen, und so konnte ich von ihrer Art und Weise, wissenschaftliches Arbeiten darzustellen, profitieren. Ihnen danke ich an dieser Stelle für alles, was dies Buch möglicherweise an Gutem enthält. Was den Teil meiner Ideen betrifft, mit dem sie vielleicht nicht unbedingt einverstanden wären, so habe ich diese natürlich ausschließlich selbst zu verantworten.

Sämtliche klinischen Fälle, die ich auf den folgenden Seiten anführe, beruhen auf meiner eigenen Erfahrung (abgesehen von einigen wenigen, die Psychiatrie-Kollegen in der medizinischen Fachliteratur beschrieben haben und die als solche gekennzeichnet sind). Aus nahe liegenden Gründen wurden alle Namen sowie alle Angaben, die einen Rückschluss auf die jeweiligen Personen erlauben, geändert. An einigen Stellen habe ich mich aus stilistischen Gründen und der Klarheit meiner Ausführungen wegen dafür entschieden, klinische Befunde verschiedener Patienten zusammenzufassen.

1 EINE NEUE MEDIZIN
DER EMOTIONEN

Alles zu bezweifeln oder alles zu glauben, das sind zwei gleichermaßen bequeme Lösungen, denn beide entheben sie uns des Nachdenkens. Henri Poincaré, »La science et l’hypothèse«

JEDES LEBEN IST EINZIGARTIG – und jedes Leben ist schwierig. Oft ertappen wir uns dabei, wie wir andere um ihres beneiden: »Wenn ich doch nur so schön wäre wie Marilyn Monroe«, »Hätte ich nur das Talent einer Marguerite Duras«, »Könnte ich nur so ein abenteuerliches Leben führen wie Hemingway« … Es stimmt schon: Wir hätten dann nicht die gleichen Probleme, jedenfalls nicht unsere. Dafür aber andere: die ihren.

Die berühmteste Frau mit dem größten Sexappeal, Marilyn Monroe, die sogar der Präsident ihres Landes begehrte, ertränkte ihre Verzweiflung in Alkohol und starb an einer Überdosis Barbiturate. Kurt Cobain, der Sänger der Gruppe Nirvana, der von einem Tag auf den anderen weltberühmt geworden war, nahm sich das Leben, als er noch keine dreißig war. Auch Hemingway beging Selbstmord; selbst ihm ersparten ein Nobelpreis und ein außergewöhnliches Leben nicht ein tief verwurzeltes Gefühl existenzieller Leere. Und Marguerite Duras, ungemein begabt, ergreifend, von ihren Liebhabern vergöttert, zerstörte ihr Leben durch Alkohol. Weder Begabung noch Ruhm, weder Macht noch Geld, auch nicht, von Frauen oder Männern verehrt zu werden – nichts von alldem macht das Leben grundlegend einfacher.

Und doch gibt es glückliche Menschen, die ein harmonisches Leben führen. Meistens haben sie das Gefühl, das Leben sei großzügig mit ihnen umgegangen. Sie wissen ihre Umgebung und die kleinen Freuden des Alltags zu schätzen: Essen, Schlafen, die Freuden der Natur, die Schönheit der Stadt. Sie sind kreativ und gestalten gern, ob es sich nun um Gegenstände, Projekte oder Beziehungen handelt. Diese Leute gehören keiner Sekte, keiner besonderen Religion an, und man kann sie in jeder Weltgegend antreffen. Einige sind reich, andere nicht; einige sind verheiratet, andere leben allein; etliche haben besondere Begabungen, andere sind völlig durchschnittlich. Sie alle haben Niederlagen erlebt, Enttäuschungen, schwierige Phasen. Dem entgeht niemand. Doch im Großen und Ganzen scheinen sie besser mit Schwierigkeiten umgehen zu können; beinahe möchte man sagen: Sie haben eine besondere Begabung, Widriges an sich abprallen zu lassen, ihrem Leben einen Sinn zu geben, als unterhielten sie eine engere Beziehung zu sich selber, zu ihren Mitmenschen und zu dem, was sie aus ihrem Leben machen wollen.

Wie lässt sich dieser Zustand erreichen? Nachdem ich zwanzig Jahre damit verbracht hatte, Medizin zu studieren und zu praktizieren, vor allem in großen Universitätskliniken der westlichen Welt, aber auch bei tibetischen Ärzten und indianischen Schamanen, habe ich einige wesentliche Einsichten gewonnen, die sich sowohl für meine Patienten wie auch für mich als hilfreich erwiesen haben. Zu meiner großen Überraschung waren es nicht die Methoden, die man mir an der Universität beigebracht hat: Es handelte sich weder um Medikamente noch um Psychoanalyse.

DER WENDEPUNKT

Nichts hatte mich auf diese Entdeckung vorbereitet. Meine Laufbahn als Mediziner hatte ich auf dem Umweg über Wissenschaft und Forschung begonnen. Nach Abschluss meines Studiums kehrte ich der Welt der medizinischen Praxis für fünf Jahre den Rücken und beschäftigte mich mit der Frage, wie die neuronalen Netze Gedanken und Gefühle hervorbringen. Auf dem Gebiet der neurokognitiven Wissenschaften promovierte ich unter der Ägide der Professoren Herbert Simon – einer der ganz wenigen Psychologen, der je einen Nobelpreis erhielt – und James McClelland, einer der Begründer der Theorie der Neuronengeflechte. Die wichtigsten Ergebnisse meiner Doktorarbeit wurden in Science veröffentlicht, der Fachzeitschrift, in der jeder Wissenschaftler seine Arbeiten gern abgedruckt sehen möchte.

Nach dieser streng wissenschaftlichen Ausbildung fiel es mir schwer, in die klinische Praxis zurückzukehren, um meine Facharztausbildung auf dem Gebiet der Psychiatrie abzuschließen. Die Ärzte, bei denen ich mein Metier erlernen sollte, schienen mir in ihrem Vorgehen zu ungenau, zu empirisch. Weit mehr als an der wissenschaftlichen Begründung dessen, was sie lehrten, waren sie an der Praxis interessiert. Ich konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, nur Routineverfahren zu lernen und wie man Rezepte ausstellt (bei der und der Krankheit macht man diese und jene Untersuchung, verschreibt die Medikamente A, B und C in dieser oder jener Dosierung so und so lange…) Meiner Ansicht nach war dies alles weit vom Geist des ständigen Hinterfragens und der mathematischen Genauigkeit entfernt, der mir mittlerweile vertraut war. Zur Beruhigung sagte ich mir immer wieder vor, dass ich die Behandlung von Kranken schließlich in der am strengsten forschungsorientierten Psychiatrieabteilung der Vereinigten Staaten erlernte. Innerhalb der medizinischen Fakultät der Universität Pittsburgh erhielt unsere Abteilung von der Regierung mehr Forschungsmittel als alle anderen, einschließlich des renommierten Fachbereichs für Herz- und Lebertransplantation an unserem Krankenhaus. Mit einer gewissen Arroganz betrachteten wir uns als »klinische Wissenschaftler« und nicht als einfache Psychiater.

 

Wenig später erhielt ich vom National Institute of Health und verschiedenen privaten Stiftungen finanzielle Mittel, die es mir ermöglichten, ein Forschungslabor für Geisteskrankheiten einzurichten. Viel versprechender hätte die Zukunft gar nicht aussehen können: Ich war mir sicher, meinen Hunger nach Fakten und Wissen stillen zu können. Doch in kurzer Zeit sollten einige Erlebnisse meine Sicht der Medizin völlig verändern und mein berufliches Leben umkrempeln.

Da war zunächst eine Reise nach Indien, um in Dharamsala, dem Wohnsitz des Dalai-Lama, mit tibetischen Flüchtlingen zu arbeiten. Dort sah ich die traditionelle tibetische Medizin am Werk, die »einen Verlust des seelischen Gleichgewichts« durch langes Abtasten des Pulses an beiden Handgelenken und eine Untersuchung der Zunge und des Urins diagnostiziert. Die praktischen Ärzte dort arbeiteten nur mit Akupunktur und pflanzlichen Mitteln. Dennoch hatten sie offensichtlich bei einer ganzen Reihe chronischer Krankheiten genauso viel Erfolg wie die abendländische Medizin. Zwei gewichtige Unterschiede gab es allerdings: Die Behandlungen hatten weniger Nebenwirkungen und kamen weit billiger. Als ich meine Tätigkeit als Psychiater überdachte, schien es mir, dass auch meine Patienten vor allem an chronischen Krankheiten litten: Depression, Angstgefühle und Beklemmungen, manisch-depressive Störungen, Stress … Zum ersten Mal begann ich mich zu fragen, warum man mir in meiner Studienzeit diese Verachtung der traditionellen Medizin eingebläut hatte. Gründete dies auf Tatsachen – wie ich immer geglaubt hatte – oder einfach auf Ignoranz? Die Erfolge der westlichen Medizin bei akuten Krankheiten wie Lungenentzündung, Blinddarmentzündung und Brüchen sind unerreicht. Doch bei der Behandlung chronischer Krankheiten, einschließlich Angstzuständen und Depressionen, ist sie alles andere als vorbildlich…

Dann zwang mich ein anderes Erlebnis eher persönlicher Art, mich meinen Vorurteilen zu stellen. Bei einem Besuch in Paris berichtete mir eine Freundin aus Kindertagen, sie habe eine depressive Phase überstanden, die so schlimm war, dass ihre Ehe daran zerbrach. Sie hatte die von ihrem Arzt vorgeschlagenen Medikamente abgelehnt und sich an eine Art Heilpraktikerin gewandt, die sie mittels einer Entspannungstechnik behandelte, die der Hypnose nahe kommt und es ermöglicht, alte, verdrängte Gefühle erneut zu durchleben. Nach einigen Monaten ging es ihr »besser denn je«. Nicht nur war sie ihre Depression los – endlich hatte sie sich von der Last der dreißig Jahre befreit, in denen es ihr nicht gelungen war, den Tod ihres Vater, als sie sechs Jahre alt gewesen war, zu betrauern. Plötzlich legte sie eine Energie, eine Leichtigkeit und Zielstrebigkeit an den Tag, wie ich sie bislang bei ihr nicht gekannt hatte. Ich freute mich für sie, war aber gleichzeitig entsetzt und enttäuscht. In all den Jahren, in denen ich das Gehirn, das Denken und die Gefühle untersucht hatte, um mich auf wissenschaftliche Psychologie, Neurowissenschaften, Psychiatrie und Psychotherapie zu spezialisieren, hatte ich nicht ein einziges Mal derart spektakuläre Heilerfolge erzielt. Und nicht ein einziges Mal war von dieser Art Therapie die Rede gewesen. Schlimmer noch: Die wissenschaftliche Welt, in der ich mich bewegte, entmutigte jegliches Interesse an derlei »ketzerischen« Methoden. Sie galten als Scharlatanerie und waren daher der Aufmerksamkeit wirklicher Ärzte nicht wert, noch viel weniger ihrer wissenschaftlichen Neugierde.

Dennoch, meine Freundin hatte innerhalb weniger Monate unbestreitbar mehr erreicht, als sie von einer medikamentösen oder konventionell-psychotherapeutischen Behandlung hätte erwarten können. In der Tat, hätte sie mich in meiner Eigenschaft als Psychiater aufgesucht, hätte ich ihre Chancen auf eine derartige Veränderung eher als gering eingestuft. Für mich war dies eine große Enttäuschung, doch gleichzeitig ein Ruf zur Ordnung. Wenn ich nach so vielen Studien- und Praktikumsjahren nicht fähig war, jemandem zu helfen, an dem mir so viel lag, wozu war dann dieses ganze Wissen gut? Im Lauf der nächsten Monate und Jahre lernte ich, zahlreichen anderen Behandlungsmethoden aufgeschlossener gegenüberzustehen, und zu meiner großen Überraschung erwiesen sie sich nicht nur als naturgemäßer und sanfter, sondern oft auch als wirksamer.

Jeder der sieben Ansätze, nach denen ich derzeit in meiner Praxis vorgehe, nutzt auf seine Art die Mechanismen der Selbstheilung, die im Geist und im menschlichen Gehirn angelegt sind. Diese sieben Vorgehensweisen wurden streng wissenschaftlichen Beurteilungen unterworfen, die ihre Wirksamkeit bewiesen, und waren Gegenstand zahlreicher Publikationen in internationalen wissenschaftlichen Fachzeitschriften. Dennoch gehören sie immer noch nicht zum medizinischen Rüstzeug der westlichen Welt, nicht einmal auf dem Gebiet der Psychiatrie und Psychotherapie. Hauptgrund für diese Verzögerung ist die Tatsache, dass man die Mechanismen, auf denen ihre Wirksamkeit beruht, immer noch nicht so recht versteht. Für eine Medizin, die sich als wissenschaftlich versteht, ist dies ein gewichtiger, vielleicht sogar legitimer Hinderungsgrund. Gleichwohl nimmt die Nachfrage nach natürlichen und doch wirksamen Behandlungsmethoden stetig zu. Und dafür gibt es gute Gründe.

BILANZ

Die Bedeutung, die mit Stress verbundenen seelischen Störungen in der westlichen Gesellschaft zukommt – darunter Depressionen und Angstzustände –, ist allgemein bekannt. Die Zahlen sind alarmierend:

• Klinische Untersuchungen legen den Schluss nahe, dass hinter 50 bis 75 Prozent aller Arztbesuche vor allem Stress steht1I und dieser in Bezug auf die Sterblichkeit einen größeren Risikofaktor darstellt als Rauchen.2

• Tatsächlich zielt von den Medikamenten, die in den westlichen Ländern am häufigsten eingesetzt werden, die Mehrzahl auf die Behandlung von Störungen ab, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Stress stehen: Antidepressiva, Beruhigungs- und Schlafmittel, Antacida bei Sodbrennen und Magengeschwüren, Mittel gegen Bluthochdruck und solche gegen einen zu hohen Cholesterinspiegel.3

• Laut einem Bericht des Observatoire national du médicament stehen die Franzosen seit etlichen Jahren weltweit mit an der Spitze, was die Einnahme von Antidepressiva und Tranquilizern betrifft.4 Einer von sieben Franzosen schluckt regelmäßig ein Psychopharmakon; damit steht Frankreich an der Spitze aller westlichen Länder. Der Verbrauch ist hier sogar um 40 Prozent höher als in den USA. Der Einsatz von Antidepressiva hat sich bei uns im Lauf der letzten zehn Jahre verdoppelt.5 Zudem zählen die Franzosen zu den größten Alkoholkonsumenten der Welt; nun ist aber Alkohol ebenfalls eine Methode, um mit Problemen von Stress und Depression zurechtzukommen.

Während diese Probleme also stetig zunehmen, stellen die Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks, die unter ihnen leiden, die Eckpfeiler der traditionellen medizinischen Behandlung von Gefühlen in Frage: die Psychoanalyse einerseits, die Verschreibung von Medikamenten andererseits. Laut einer Harvard-Studie aus dem Jahre 1997 bevorzugt die Mehrheit der Amerikaner so genannte alternative und komplementäre Methoden gegenüber Medikamenten oder einer traditionellen Analyse, um ihre Leiden zu lindern.6

Die Psychoanalyse verliert an Boden. Nachdem sie dreißig Jahre lang die Psychiatrie dominiert hatte, verliert sie in der Öffentlichkeit wie auch bei Spezialisten immer mehr an Glaubwürdigkeit, da sie es versäumt hat, einen Beweis ihrer Wirksamkeit zu erbringen.7 Jeder von uns kennt jemanden, der aus einer analytischen Behandlung großen Nutzen gezogen hat, doch wir kennen auch viele andere, die sich seit Jahren auf ihrer Couch hin und her wälzen. Da keine wissenschaftlichen und quantifizierbaren Kriterien existieren, ist es sehr schwierig, einem Patienten, der unter einer Depression oder Angstanfällen leidet, mit Genauigkeit zu sagen, wie hoch die Chancen sind, dass sich sein Zustand durch eine Psychoanalyse bessert. Da konventionelle Psychoanalytiker oft erklären, eine Behandlung könne mehr als ein halbes Jahr, wenn nicht sogar Jahre dauern, und da sie oft mehr kostet als ein neues Auto, versteht man die Zurückhaltung potenzieller Patienten. Zwar werden die grundlegenden Prinzipien dieser »Redekur« nicht wirklich in Frage gestellt, aber schließlich ist es ganz normal, dass jeder in einer solchen Situation nach Alternativen fragt.

Der andere Weg, der bei weitem am häufigsten eingeschlagen wird, ist der der neuen, als biologisch bezeichneten Psychiatrie: Sie arbeitet hauptsächlich mit Psychopharmaka, etwa Fluctin (Prozac), Zyprexa, Zoloft, Seroxat, Adumbran, Tavil, Tavor, Hypnotex und so weiter. In den Medien wie auch in der Welt der Literatur bleibt die Psychoanalyse das vorherrschende Bezugssystem, da sie ein auf alle menschlichen Phänomene anwendbares Interpretationsraster liefert, ob man nun davon überzeugt ist oder nicht. In der tagtäglichen medizinischen Praxis jedoch dominieren Psychopharmaka, wie der Bericht des Observatoire national du médicament zeigt, nahezu uneingeschränkt. Der Reflex, zum Rezeptblock zu greifen, ist mittlerweile derart verbreitet, dass eine Patientin, die bei ihrem Arzt in Tränen ausbricht, beinahe mit Sicherheit ein Antidepressivum verschrieben bekommt.

Psychopharmaka können unglaublich hilfreich und wirksam sein. Gelegentlich so wirksam, dass manche Autoren wie Peter Kramer in seinem Bestseller »Glück auf Rezept« eher von einer Umwandlung der Persönlichkeit als von einer schlichten Linderung der Symptome sprechen.8 Wie alle praktizierenden Ärzte meiner Generation setze auch ich sie häufig ein. Doch im Gegensatz zu Antibiotika, die Infektionen heilen, wirken, wie immer mehr Untersuchungen beweisen, psychiatrische Medikamente nicht mehr, sobald man die Behandlung damit abbricht. Aus diesem Grund wird die Mehrheit der Patienten, die solche Medikamente einnehmen, länger als ein Jahr behandelt, und eine große Zahl erleidet nach Absetzen der Medikamente einen Rückfall.9 So hat beispielsweise eine an der Universität Harvard durchgeführte Untersuchung einer auf die Behandlung mit Psychopharmaka spezialisierten Arbeitsgruppe gezeigt, dass die Hälfte der Patienten nach Absetzen eines Antidepressivums innerhalb eines Jahres erneut entsprechende Symptome aufwiesen.10 Die Medikamente, selbst die wirksamsten, sind also bei weitem kein Allheil- oder Wundermittel für die emotionale Gesundheit. Im Grunde wissen die Patienten dies sehr wohl und nehmen sie daher bei Problemen, die Teil des Lebens eines jeden sind – ob es sich nun um einen Trauerfall oder um Stress in der Arbeit handelt –, oft nur widerwillig ein.


Abbildung 1: Das limbische Gehirn – Tief im Inneren des Gehirns befindet sich das emotionale Gehirn. Die so genannten limbischen Bereiche sind bei allen Säugetieren gleich und bestehen aus Nervengewebe, das sich von dem der für Sprache und Denken verantwortlichen Hirnrinde unterscheidet. Das limbische System ist für Gefühle und Überlebensreaktionen zuständig. Ganz zuunterst befindet sich der »Mandelkern«, die Amygdala, von der alle Angstreaktionen ausgehen.

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