Bildung auf Augenhöhe

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Bildung auf Augenhöhe
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Christoph Schmitt

Bildung auf Augenhöhe

Streitschrift für eine Erneuerung des Gymnasiums

ISBN Print: 978-3-03905-921-8

ISBN E-Book: 978-3-03905-961-4

Gestaltung und Satz: tiff.any GmbH, Berlin

1. Auflage 2013

Alle Rechte vorbehalten

© 2013 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Inhalt

Vorwort, oder Worum es in ­diesem Buch geht

Kapitel 1: Von der Bulimie zum ­Lernen – Eine Annäherung

Das Gymnasium: Lehren statt Lernen

Quantität vor Qualität, oder Nur viel Wissen ist gutes Wissen

Die Umkehr der Vorzeichen: Vom Lehren zum Lernen

Kapitel 2: Der blinde Fleck der gymnasialen Bildung

Ein Blick in den gymnasialen Alltag

Viel lernen ist nicht das Problem, sondern blindes Lernen

Über die Bedeutung der Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden

Die Reziprozität der Beziehung als Schlüssel gelingender Lernprozesse

Die Angst der Schule und ihrer Lehrer vor Bewertung

Warum der Mensch hinter dem Schüler in der Schule eigentlich gar nicht vorkommt

Kapitel 3: Lernen und Bildung und Wissen. Versuch einer Verhältnisbestimmung

Wie Bildung und Lernen zusammengehören

Bildung als eine ausgezeichnete Form des Lernens

Bildung und Sozialisation: eine fatale Verwechslung

Die Mär von der Wissensvermittlung

Gut informiert ist nicht dasselbe wie gut gebildet

Die Lernenden als Menschen sichtbar machen und wahrnehmen

Kapitel 4: Erste Alternative: Aufmerksamkeit, oder Bedeutung ist der Anfang von allem

Störungen erfordern unsere Aufmerksamkeit

Was Bedeutung hat, hat meine Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit ist nur »im Fluss«

Aufmerksamkeit schaffen durch authentische Begegnungen

Lernende scheitern nicht am Stoff, sondern am Unterricht

Wie Aufmerksamkeit und Bedeutung im Unterricht konkret werden

Kapitel 5: Zweite Alternative: Das Verstehen als Ziel aller Bildung

Hast du verstanden? Annäherung an das Phänomen des Verstehens

Der Zusammenhang von Bildung und Verstehen

Kapitel 6: Dritte Alternative: Gesprächskultur auf Augenhöhe als Königsweg gymnasialer Bildung

Der Mensch: pausenlos ins Gespräch verwickelt

Das Gespräch als die Erfindung von Wirklichkeit und als Weg, mich selbst zu verstehen

Die gymnasiale Gesprächskultur: Macht zwischen allen Zeilen

Das Gymnasium kommt ins Gespräch – Vorschläge für die Bildung einer gymnasialen Gesprächskultur

Kapitel 7: Erster Ausblick: Identität und Geschichte als Referenzpunkte gymnasialer Bildung

Was Identitätsbildung für junge Menschen heute bedeutet und von ihnen fordert

Eine Identität haben bedeutet, eine eigene Geschichte erfinden zu können

Erzählte Geschichte verbrieft Identität, oder Wir müssen nicht zuerst »etwas wissen«, um jemand zu sein, wir müssen zuerst jemand werden, um etwas wissen zu können

Kapitel 8: Zweiter Ausblick: Veränderungen wahr­nehmen und gestalten

Veränderungen sind vorbei, wenn ich sie erkenne

Veränderungen kann ich beeinflussen, aber nicht bestimmen

Welchen Einfluss haben Lehrende auf das Lernen der Lernenden?

Vorschläge für eine Lernpraxis, die für Veränderungen sensibel wird

Literatur

Vorwort, oder Worum es in ­diesem Buch geht

»Ihr sagt, ihr wollt alle nur unser Bestes. Aber ihr bekommt es nicht.«

Konstantin Wecker

Seit einiger Zeit macht eine neue Wortschöpfung die Runde: Bulimiepädagogik. Auf sarkastische Weise bringt der Begriff zum Ausdruck, was viele Lernende an höheren Schulen und Hochschulen als Normalfall erleben: das Auswendiglernen von Stoff – um ihn bei der Prüfung wieder herauszuwürgen. Der Gewinn: im besten Fall eine gute Note. Unzählige Studien beklagen diesen Umstand und eigentlich ist er ein offenes Geheimnis. Es gäbe eine Menge erprobter und nachhaltiger Alternativen, die finden aber nur sehr selten den Weg ins Gymnasium. Hier werden noch immer mehrheitlich direktiv-mechanistische Formen der »Wissensvermittlung« praktiziert; die Beziehung von Bildung und Sozialisation bleibt ein Tabu, ebenso die Reziprozität im Bewerten und Beurteilen. Auch hält sich der Irrglaube hart­näckig, dass alles, was mit Lernen zu tun hat, »quantifiziert« werden kann. Der Unterricht am Gymnasium ist und bleibt vertaktet, Lehrerinnen und Lehrer bleiben im Normalfall die Einzelkämpfer, die sie immer waren, und die Fächer beharren auf ihrer Autonomie statt sich grundsätzlich für Kooperationen zu öffnen.

Der erste Teil des vorliegenden Buchs ist eine offene, aber nicht schonungslose Analyse dieser Altlasten. Die Tatsache, dass am Gymnasium dem Lehren nach wie vor viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird als dem Lernen, hat fatale Konsequenzen. Ich zeige auf, welche das sind und erkläre, weshalb lebendiges und nachhaltiges Lernen eine ebensolche Beziehung zwischen Lehrenden und Lernenden voraussetzt. Außerdem wende ich mich in diesem Teil des Buches der tiefsitzenden Angst der Lehrpersonen vor der Beurteilung ihrer Arbeit zu. Es kommen Schülerinnen und Schüler zu Wort, die ihre Erfahrungen zur Verfügung stellen.

Im zweiten Teil stelle ich erprobte Alternativen für eine neue gymnasiale Lernkultur vor. Gymnasien können eine »Kultur der Aufmerksamkeit« entwickeln, in der Lernende fähig werden, sich selbst zu bilden. Ich untersuche das Phänomen des Verstehens und zeige auf, unter welchen Bedingungen sich Schülerinnen und Schüler auf das beschriebene »Wagnis des Verstehens« einlassen. Im Anschluss skizziere ich eine neue Form der Gesprächskultur, welche ganzheitliche und nachhaltige Bildungsprozesse in Gang bringen kann.

Ich möchte mit dieser »Streitschrift« der Diskussion um ein überholtes Bildungsmodell neue Schubkraft verleihen und alternative Wege aufzeigen. »Bildung auf Augenhöhe« versteht sich als ein Plädoyer für eine Kultur der Achtsamkeit. Junge Menschen können lernen, ihre eigene Geschichte zu erzählen und wieder zu erzählen. Im Erzählen finden und erkennen Sie neue Formen des Menschseins, die im postmodernen Grundrauschen der Beliebigkeit Akzente des Humanen setzen.

 

Entstanden ist dieses Buch vor allem auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen als Gymnasiallehrer. Unterstützt und herausgefordert wurde ich dabei von den Schülerinnen und Schülern. Zahlreiche eindrückliche Begegnungen mit jungen Menschen lehrten mich außerordentlich viel über deren Lernen – und über mich selbst, über meinen Beruf. Wichtig waren auch meine eigene Reflexionsarbeit in Supervision und Coaching sowie der Austausch mit Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich seit vielen Jahren erfolgreich und fruchtbar zusammenarbeite.

Besonders herausfordernd und eigentlicher Anlass für dieses Buch waren und sind aber die unzähligen Widersprüche und Diskrepanzen innerhalb des gymnasialen Systems, die sich meines Erachtens allesamt auf einen Grundwiderspruch zurückführen lassen: Auf der einen Seite hat uns die Forschung der vergangenen Jahrzehnte bahnbrechende Einsichten in das Wesen des menschlichen Lernens gebracht. Systemisch-konstruktivistische Zugänge zu Bildung, Lernen und Lernsystemen erlauben uns heute faszinierende Erkenntnisse und Schlussfolgerungen für die Gestaltung schulischer Lern- und Bildungsprozesse. Dem steht auf der anderen Seite eine nicht nachlassende Hartnäckigkeit gegenüber, mit der sich das Gymnasium als Bildungssystem solchen Erkenntnissen und den damit verbundenen Chancen verschließt. Mehr noch: Die Qualität und die Nachhaltigkeit gymnasialen Bildungshandelns sind nach wie vor mehrheitlich dem Zufall überlassen, weil sich das System selbst konsequent und erfolgreich gegen den Einsatz alternativer Kriterien wehrt. Die Beharrlichkeit, mit der diese trotzige Resistenz aufrechterhalten wird, hat mich stutzig gemacht. Deshalb habe ich mich dazu entschlossen, den Unterricht einmal genauer in den Blick zu nehmen. Ausgerechnet das schulische Kerngeschäft bleibt dem öffentlichen Auge normalerweise verborgen – außer an Elternbesuchstagen und bei Hospitationen, und bei diesen Gelegenheiten wird ja bekanntlich ein wenig festlicher aufgetischt.

Mein eigenes Unterrichtskonzept setzt auf die systemisch-konstruktivistische Pädagogik und ist projektorientiert angelegt (vgl. hierzu die entsprechenden Autorinnen und Autoren im Literaturverzeichnis). So ein Konzept lebt von der regelmäßigen und konsequenten Reflexion – gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern. Deshalb lade ich die Lernenden mindestens einmal im Schuljahr dazu ein, über die Qualität ihrer Lernprozesse zu reflektieren. Die Methoden dazu entleihe ich der qualitativen Sozialforschung und passe sie von Jahr zu Jahr an. Die Jugendlichen lassen sich je länger, desto ernsthafter darauf ein, weil sie spüren, dass ihre Meinung tatsächlich zählt und positive Folgen hat. Sie können einerseits erkennen, dass ihre Rückmeldungen Anlass für die Reflexion und Gestaltung meiner Arbeit als Lehrer sind und sie mit ihrem Feedback deshalb auch ihren Nachfolgerinnen und Nachfolgern etwas zugutetun können. Außerdem finden sie sich in einer aktiven Rolle wieder, wenn es um die Planung und Umsetzung ihrer Lern- und Bildungsprozesse geht. Ich lade die Jugendlichen ein, über das zu berichten, was sie im Unterricht erleben, genießen und vermissen, was sie herausfordert und beklemmt, was sie weiterbringt und was sie blockiert. Daraus ist über die Jahre ein Dialog entstanden, der über Fächer und Jahrgänge hinausgeht und der so manchen Kollegen und so manche Kollegin neugierig gemacht hat. Sie möchten wissen, was uns die Lernenden über eine gute Schule zu erzählen haben.

Dieses Buch wurde auch durch Auseinandersetzung mit innovativen Ansätzen des Lernens möglich, mit denen ich mich als Lehrbeauftragter für die fachdidaktischen Studien an der Universität Luzern und als ausgebildeter Coach/Supervisor beschäftige – sei es in Form von Theorien oder in Form zahlloser spannender und kreativer Gespräche mit Studierenden, Klientinnen und Klienten, Kolleginnen und Kollegen.

Mein besonderer Dank gilt jenen, die sich die Mühe gemacht haben, das Manuskript dieses Buches im Vorfeld kritisch zu lesen und zu hinterfragen. Dabei denke ich vor allem an Heidi Pfäffli, Roman Ambühl und Jürg Bläuer. Besonders herzlich bedanke ich mich bei Noah Arnold1, der durch sein intensives Mitlesen und Einmischen die Perspektive eines Maturanden (Abiturienten) eingebracht hat. Die daraus entstandenen Diskussionen hatten einen überaus klärenden Einfluss auf das nun vorliegende Buch. Nicht zuletzt ist es mir ein Bedürfnis, dem hep verlag und seinem Verleger Peter Egger zu danken für den Mut, dieses heiße Eisen anzufassen.

1 Noah Arnold hat eine beeindruckende und prämierte Maturaarbeit über Altersdemenz verfasst mit dem Titel »Der rote Faden. Im Leben nicht verloren gehen«. Sie wurde 2012 im db-Verlag Horw/Luzern publiziert.

Kapitel 1:
Von der Bulimie zum ­Lernen – Eine Annäherung

Wer sich an der Volkshochschule für einen Kurs »Einführung in den Buddhismus« anmeldet, erwartet – unter Umständen zu Recht – gut aufbereitetes Wissen über diese Religion vermittelt zu bekommen. Wenn am Gymnasium das Thema »Buddhismus« dran ist, geht es aber in erster Linie um etwas anderes. Hier haben Lehrpersonen nicht einfach die Aufgabe, ihre Schülerinnen und Schüler über den Buddhismus zu informieren oder sie in diese Religion einzuführen. Es ist auch nicht die Aufgabe einer Gymnasiallehrperson, ihren Schülerinnen und Schülern Mathematik beizubringen, sie physikalische und andere Gesetze auswendig lernen zu lassen oder sie auf das einzuschwören, was Goethe nun tatsächlich sagen wollte, als er dieses oder jenes Gedicht schrieb. Gymnasiale Bildung muss vielmehr darauf abzielen, dass die Schülerinnen und Schüler jene Kompetenzen entwickeln, durch die sie sich Themenwelten und andere Kulturgüter selbst erschließen können. Mit zunehmender Selbstständigkeit und Nachhaltigkeit sollen sie an Selbst- und Weltverfügung gewinnen, ihre Selbst- und Sozialkompetenzen entwickeln, kurz: sich bilden2. Das Ziel gymnasialer Bildung ist, dass Schülerinnen und Schüler fähig werden zu lernen, und zwar nicht »etwas« – sondern das Lernen selbst. Diese Formulierung ist weit davon entfernt, einem »Stricken ohne Wolle« das Wort zu reden, sprich den Unterrichtsstoff an den Rand oder sogar über ihn hinaus zu drängen. Der Lernbegriff, den ich in diesem Buch entfalte, geht allerdings mit Lerninhalten und Unterrichtsstoffen komplett anders um und weist ihnen einen völlig anderen Platz in der Bildungsbiografie eines jungen Menschen zu. In meinem Verständnis von Lernen ist das Ziel jeder schulischen Auseinandersetzung mit Wissensinhalten deren De- und Rekonstruktion und nicht länger deren unhinterfragtes und unverstandenes Aneignen und Wiedergeben (vgl. hierzu äußerst erhellend Reich 2010, 118-145). »Lernen« ist der rote Faden, der sich durch das Leben eines Menschen zieht, und das Gymnasium hätte die Aufgabe, diesen Prozess so zu organisieren und zu gestalten, dass Schülerinnen und Schüler eine lebendige und dynamische Beziehung zu diesem menschlichen Grundphänomen entwickeln. In Wirklichkeit halten gymnasiale Überzeugungen und Praktiken des Unterrichtens junge Menschen nach wie vor davon ab, lebendige und nachhaltige, selbst gesteuerte Formen des Lernens zu entwickeln. Gymnasien sind noch immer Weltmeister, wenn es darum geht, jungen Menschen das Lernen zu vermiesen. Warum und auf welche Weise dies bis heute geschieht und wie die Alternativen aussehen könnten, darum geht es in diesem Buch.

Im Gymnasium bilden sich während vieler Jahre die persönlichen Vorstellungen junger Menschen über das heraus, was Lernen ist. Sie entwickeln in diesen Jahren Einstellungen zum Phänomen des Lernens, die sie ein Leben lang begleiten werden und die ihre Beziehung zum Lernen prägen. Und weil man ihnen das, was sie im Gymnasium täglich tun, als »Lernen« verkauft, glauben sie irgendwann auch, dass das, was sie da tun, »Lernen« sei. Wenn dann alternative Formen des Lernens ins Spiel kommen, irritiert das zuerst einmal, wie die folgenden Rückmeldungen aus einer siebten Klassenstufe verdeutlichen:

»Ich habe in diesem Fach vor allem gelernt, dass man die guten Noten nicht nur mit Lernen macht, sondern man muss das Thema auch wirklich verstehen und logisches Denken anwenden.«

»Die Prüfungen waren wirklich schwierig, vor allem weil ich vorher immer nur Prüfungen hatte mit Auswendiglernen. Wir mussten nie denken. Das war sehr anders, aber nicht unmöglich. Ich habe gelernt, alles zu verstehen und dass Auswendiglernen nicht viel nützt in diesem Fach.«

»Ich habe gelernt, dass Wissen nicht nur durch Aufpassen in der Schule kommt, sondern auch vom Lernen, Verstehen und von Organisation. Am Anfang konnte ich nicht gut mit den Prüfungen umgehen, aber dann habe ich verstanden, dass man bei diesen Prüfungen viel verstehen muss.«

Hier liegt ein Hund begraben. Für viele Gymnasiastinnen und Gymnasiasten bedeutet »lernen« auswendig lernen, es bedeutet überwiegend bulimieartiges Einwerfen und unverdautes Ausspucken von Informationen. Von den Wissensinhalten, die in den Lehrplänen festgehalten sind und im Unterricht vermittelt werden sollen, bleibt nach Jahren, ja meist schon nach ein paar Monaten oder Tagen so gut wie nichts mehr übrig – jedenfalls kein annähernd kohärentes Wissen. »Lange vor der Schwelle zum kognitiven und lebenspraktischen Transfer versagt die Schule bei der Herstellung von Nachhaltigkeit. Und deswegen kann natürlich auch von Kumulation und Ganzheitlichkeit nicht die Rede sein. […] Das nachhaltige Wissensresiduum beträgt im Durchschnitt höchstens 1 Prozent des von den Lehrplänen intendierten Lehrstoffes« (Städtler 2010, S. 37). Für die Schüler reicht es deshalb völlig aus, so Thomas Städtler, »dass das Wissen kurzfristig reproduziert wird, wobei für die [höchste, d. Verf.] Note 1 meist großes, ja bisweilen absurd hohes Faktenwissen und operationales Können nötig sind, danach aber kann man es sofort wieder vergessen. Ja, man tut als Schüler sogar gut daran, ansonsten müsste einem angesichts der Stoffmassen der Lehrpläne mit der Zeit geradezu schwindlig werden!« (a. a. O., S. 39). Und der Autor resümiert: »So gut wie das gesamte schulische Lernen ist Bulimie-Lernen. Nach den Prüfungen wird das meiste sofort vergessen. Das nachhaltige Wissensresiduum ist minimal. […] Jedoch verbleibt auch keine Essenz, im Gegenteil: Gerade das Elementare und Fundamentale geht verloren in einer Überfülle von Faktenwissen. Es verbleiben nur Wissensfetzen, mit denen man manchmal Eindruck schinden und manche täuschen kann, die aber bei ganz direkten Fragen, gemäß dem Minimax-Prinzip, sofort in ihrem Elend erkennbar werden« (ebd.).

Von dieser Erfahrung berichten mir Gymnasialschülerinnen und Gymnasialschüler häufig. Ein Schüler der Klassenstufe 11 beschreibt sie in seinem Feedback am Ende des Semesters so:

Die herkömmlichen Unterrichtsmethoden führten dazu, »dass man fast einschläft, während die Lehrperson vorne ›vorgekautes Wissen ausspuckt‹, welches wir dann für die Prüfung auswendig lernen müssen/dürfen/sollen. Für mich ist bei einem solchen Lernprozess der Lernerfolg sehr gering, da man dann nach dem ›Rauskotzen‹ (Prüfung) sowieso wieder alles vergisst.«

Dabei melden bereits Jugendliche der jüngeren Jahrgangsstufen eindeutig zurück, was sie beim lebendigen Lernen unterstützt und was nicht:

»Was mir wirklich hilft beim Lernen im Unterricht ist, dass es nicht ums Auswendigüben geht, sondern um das Verstehen.« (Klassenstufe 7)

»Was ich besonders gut fand, war, dass wir hier nicht Sachen zum Auswendiglernen gehabt haben, sondern zum Verstehen.« (Klassenstufe 8)

»Die Tests gehen nicht darum, alles auswendig zu lernen, sondern auch vom Material was man hat, zu reflektieren! Das war neu für mich, und ich fand es auch gut so.« (Klassenstufe 8)

Der Philosoph Peter Sloterdijk bringt die Erfahrung vieler Gymnasialschülerinnen und -schüler in einem Interview so auf den Punkt: »Die Schule ist ein Herd der Langeweile und wird von Berufslangweilern betrieben, die die kindliche Intelligenz verleimen, verkleben und beleidigen. Viele erholen sich nie davon.« Die Schlussfolgerung, die er daraus zieht, lautet: »Wir müssen mit dem schädlichsten aller alteuropäischen Konzepte brechen: mit der Vorstellung der Übertragung von Wissen. Diese Vorstellung des Einflößens ist systemtheoretisch falsch, sie ist moralisch falsch« (Sloterdijk 2001).

Und in einem Interview mit Reinhard Kahl stellt der Erziehungswissenschaftler Wolfgang Edelstein eine entsprechende Hypothese dazu auf: »Lehrende« haben kaum professionelles, reflexives Wissen, nicht mal gute Hypothesen darüber, was Lernen für die Lernenden bedeutet. Folglich präsentieren sie ständig Fakten, statt Schülern das Lernen beizubringen. Bei allem, was wir heute über die Bildungslandschaft zwischen Pisa und Erfurt diskutieren, wird das größte Problem vorsichtig und scheu ausgespart. Das sind die Lehrer. Wir haben keine professionellen Lehrer. Sie sind über Fachwissen Professionalisierte, nicht über Professionswissen. Und genau das ist falsch. Natürlich sollen Lehrer in ihren Fächern kompetent sein. Es ist aber irrelevant, ob sie gute Physiker oder Historiker im universitären Sinne sind. Sie müssten hervorragende Physiker, Historiker oder Philologen sein im Blick auf diese Mediationstätigkeit, im Blick auf die Ermöglichung von Lernen. Sie können als Fachleute des Fachwissens nichts zu dessen Mehrung beitragen. Aber sie können das Wissen darüber vermehren, wie Lernen verläuft. Ihre diagnostische Inkompetenz ist freilich unglaublich« (Edelstein/Kahl 2003, S. 26).

 
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