Tod des Verlegers

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Spiegelwelten

Erik Huyoff

Gelangweilt ließ ich meinen Blick über das Gelände schweifen. Seit ich ein kleines Kind gewesen war, mochte ich den Halloween-Jahrmarkt, der jedes Jahr im Oktober mit seinen Attraktionen alle Kinder und Erwachsenen zu erschrecken versuchte.

Noch genau erinnerte ich mich an meinen ersten Besuch vor zwölf Jahren, als mir meine Großmutter in der Geisterbahn Geschichten von fremden Welten erzählte. Zwei Nächte lang verfolgte mich das Grauen des Jahrmarktes. Doch entweder war ich mit den Jahren abgestumpft, oder die Attraktionen hatten an Qualität verloren, denn seit einiger Zeit jagte mir hier nichts mehr einen Schrecken ein. Die Freakshows und Kuriositätenkabinette, selbst die berühmt-berüchtigten Vorführungen der Hexer zauberten mir höchstens ein Gähnen aufs Gesicht. Dass ich in diesem Herbst den Jahrmarkt überhaupt wieder besuchte, war wohl eher der Nostalgie als wirklichem Interesse geschuldet.

Ich trank einen Schluck meines Blutorangensafts und tauchte in das Gewimmel ein. Zwischen den ganzen Goth-Queens und Vampirverschnitten in Designer-Anzügen, die von Zelt zu Zelt pilgerten, um gestellte Selfies vor den Attraktionen zu schießen, kam ich mir in meinen ausgeblichenen Jeans komplett verloren vor. Wann war eigentlich der Jahrmarkt zu einem Laufsteg für die neueste Mode geworden? Noch vor der Dämmerung hatte ich das Ende des Geländes erreicht. Lediglich der Kauf eines wunderschönen Klappmessers tröstete mich über die neuerlichen Enttäuschungen hinweg. Ich hatte mich sofort in die filigranen Silberverzierungen am Griff des Messers verliebt und spürte dessen Gewicht bei jedem Schritt schwer in meiner linken Hosentasche. Obwohl der Verkäufer mir deutlich mit dem Preis entgegengekommen war, hatte es mich immer noch fast ein halbes Monatsgehalt gekostet. Aber das war es mir wert, so konnte ich doch noch eine positive Erinnerung aus diesem Jahr mitnehmen.

Gerade, als ich mich dem Ausgang zuwenden wollte, fiel mir ein schmuckloses, großes Zelt auf, das sich an die Mauer, die den Jahrmarkt umgab, quetschte, und das ich bisher noch nie bemerkt hatte. Interessiert ging ich darauf zu. Als ich nur noch wenige Schritte vom Eingang entfernt war, konnte ich ein unscheinbares Schild mit der Aufschrift Spiegelkabinett – Verlieren Sie sich in unendlichen Welten ausmachen. Ich grinste ob des Slogans – er war deutlich geistreicher als der schlechte Wortwitz Nicht nur für Geisterfahrer!, mit dem die Geisterbahn um Kunden warb. Daher wunderte es mich umso mehr, dass sich hier kein anderer Besucher herumtrieb.

Eine erste Erklärung dafür bot sich mir bereits, als ich das Kassenhäuschen im Eingangsbereich des Zeltes erreichte. Hinter der Theke schlief laut schnarchend ein untersetzter Mann. Speichelfäden rannen aus seinen Mundwinkeln, und wenn ich mir die Flecken auf seiner Jacke so ansah, schien ihn schon längere Zeit niemand mehr geweckt zu haben. Kurz geriet mein Entschluss, das Spiegelkabinett zu besuchen, ins Wanken. Aber mir war klar: Bis zum nächsten Jahr würde ich mich täglich fragen, ob ich nicht doch etwas verpasst hätte.

Entschlossen räusperte ich mich. Nichts geschah. Ratlos sah ich mich um, entdeckte eine Glocke neben dem Eingang und läutete sie. Ein ohrenbetäubendes Dröhnen hallte durch die Luft und ließ meine Ohren klingeln. Während mein Gehör sich nur langsam wieder normalisierte, räkelte sich der Mann hinter der Kasse und schaute sich verwirrt um. Schließlich fiel sein Blick auf mich. Unverschämt lange musterten seine kalten Augen meinen Körper. Nicht, dass ich dies nicht gewohnt wäre, ab und an genoss ich sogar die bewundernden Blicke, aber diese Situation war … anders. Sein Blick war kalt, berechnend, ohne jegliches Interesse. Mit jedem Augenblick, der verstrich, fühlte ich mich unwohler.

Bereits seit einigen Sekunden verweilten die Augen des Mannes auf meiner Hüfte. Durch den Stoff der Jeans spüre ich das kalte Silber des Messergriffs auf meiner Haut.

»Was hast du da in der Tasche?«

Ich erschrak. Woher wusste er …? Ich war mir sicher, dass sich die Konturen des Messers nicht durch die Tasche abzeichneten.

»Das geht Sie gar nichts an!«, antwortete ich, trotz meines Unbehagens mit fester Stimme. Obwohl er so klein war, jagte mir der Mann Angst ein, was objektiv betrachtet lächerlich schien – schließlich hatte ich ein Messer. Verstohlen tastete ich mit meinen Fingern in der Tasche nach dem Schaft und … griff ins Leere.

»So eine Waffe ist doch nichts für junge Frauen.« Mit einem lauten Plopp sprang die eingeklappte Klinge aus dem Schaft.

Meine Nackenhaare stellten sich auf.

Ohne sich von der Stelle bewegt zu haben, hielt der Zwerg das Messer in der Hand und betrachtete es mit einem Stirnrunzeln. Zärtlich glitten seine Finger über die Intarsien am Griff. »Bezaubernd«, flüsterte er. »Und ziemlich wertvoll.«

Langsam stieg Panik in mir auf. Wie war das Messer in die Hände des Mannes gelangt?

»Ein wunderschönes Stück!« Der kleine Mann seufzte, stand auf und schlurfte mit langsamen Schritten auf mich zu, das ausgeklappte Messer erhoben.

Noch während ich überlegte, ob ich umdrehen und wegrennen oder versuchen sollte, mir das Messer zurückzuholen, klappte er die Klinge mit einem Klick zurück in den Griff.

»So eine meisterhafte Arbeit habe ich schon lange nicht mehr gesehen.«

Mit einem Satz, den ich ihm nicht zugetraut hätte, überwand er den Abstand zwischen uns und schob das Messer zurück in meine Hosentasche, wobei seine Hand einen Augenblick länger als nötig auf meinem Oberschenkel verharrte.

Er grinste. »Ich würde beim nächsten Mal besser auf das gute Stück aufpassen.«

Meine Finger schlossen sich um den Messergriff in meiner Tasche. Das Metall unter meiner Haut zu spüren, beruhigte mich und gab mir ein wenig Sicherheit zurück.

»Was willst du eigentlich hier, Schätzchen?« Der Mann hatte sich mittlerweile wieder hinter seinen Tresen gesetzt und gähnte ungeniert. »Zu Moriartys monsterhafter Mode hättest du links am Zelt vorbeigemusst.« Seine Augen glitzerten vor Abscheu. »Wenn es dir nichts ausmacht, dann schlag doch die Plane beim Rausgehen zu, damit ich nicht erneut beim Schlafen gestört werde.«

»Ich will ins Kabinett!«, antwortete ich.

Schlagartig verschwand das Grinsen von seinem Gesicht. »Wirklich? Das ist nichts für dich, Kleine. Schon viel stärkere und cleverere Leute vor dir haben sich in den unendlichen Welten der Spiegel verloren.« Erneut glitt sein Blick über meine Figur. »Allerdings selten hübschere.«

Von Minute zu Minute fühlte ich mich unwohler in meiner Haut, aber da ich bereits bis hierher gekommen war, wollte ich nun sehen, was sich hier verbarg. Da ich ohnehin maßlos enttäuscht vom Jahrmarkt war, konnte es nicht mehr schlimmer werden.

Ich straffte meine Schultern, zog einen Fünfeuroschein aus der Tasche und knallte ihn auf die Theke.

»Es interessiert mich nicht, was Sie sagen. Ich will zu den Spiegeln.«

Langsam griff der Zwerg nach dem Geldschein und zerrte an der altmodischen Kasse, die erst nach einigen Versuchen mit einem lauten Knarren aufsprang. Wie lange hatte er sie nicht mehr geöffnet?

»Mir soll’s egal sein.« Der Mann seufzte. »Ich werde dich nicht aufhalten. Sag nachher aber nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

Ich ignorierte ihn und betrat das Kabinett. Es war, wie ich zähneknirschend zugeben musste, viel besser, als es von außen den Anschein machte. Im ganzen Zelt herrschte ein pulsierendes, intensives Licht, das sich in den Dutzenden, wenn nicht Hunderten mannshohen Spiegeln brach, die den Weg durch das Labyrinth markierten. Die Glasflächen waren makellos, warfen die Bilder in allen denkbaren Formen gestaucht, verzerrt oder umgedreht zurück. Bereits nach wenigen Schritten hatte ich im Labyrinth der Spiegel die Orientierung verloren. Was das Ganze jedoch auf einem Mystery-Jahrmarkt zu suchen hatte, war mir schleierhaft. So interessant es hier auch war, mit Horror hatte es nichts zu tun.

Dennoch hob sich meine Laune merklich, als ich von Spiegel zu Spiegel ging und versuchte, meinen Weg aus dem Labyrinth zu finden. Doch egal, wie viele Gänge ich entlang lief, es tauchte einfach kein Ausgang auf. Panik drohte mich zu übermannen, als ich immer schneller durch die Gänge hastete, auf der Suche nach dem rettenden Ausgang.

Schließlich blieb ich ausgepumpt und verwirrt stehen. Das Zelt war zwar groß, aber nicht gigantisch. Es war schlichtweg unmöglich, dass ich das Ende des Labyrinthes verfehlen würde, wenn ich konzentriert an die Sache heranging. Um mich besser orientieren zu können, beschloss ich, mich rechts an der Spiegelwand entlang zu tasten, bis ich auf den Ausgang oder den Eingang stoßen würde. Mit neuer Entschlossenheit ging ich auf den Spiegel zu, streckte die Hand aus und … schrie auf. Das Glas unter meinen Fingern fühlte sich glühend heiß an. Ich fuhr zurück und blinzelte die Tränen des Schmerzes aus den Augen. »Reiß dich zusammen!«, versuchte ich mich zu beruhigen. Wer auch immer für diese Effekte verantwortlich war, hatte seinen Job gut gemacht.

Plötzlich veränderte sich das Licht.

Ich blickte hoch. Anstelle meiner Reflexion war in den Spiegeln eine Landschaft aufgetaucht. Goldene Weizenfelder in voller Blüte glitzerten im Sonnenschein und bildeten einen scharfen Kontrast zu dem dunklen Wald, dessen Bäume bis in den Himmel zu reichen schienen. Mit offenem Mund drehte ich mich im Kreis. Es sah so realistisch aus!

Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung wahr und wandte mich nach links. Auf der Scheibe war eine humpelnde Frau aufgetaucht, die mehr schlecht als recht über die Felder stolperte und aus zahlreichen Wunden blutete. Ein Mann in einer pechschwarzen Rüstung verfolgte sie mit erhobenem Schwert. Mitten auf dem Acker blieb die Frau stehen und trat dem Mann, der sich mit Riesenschritten näherte, mit erhobenen Händen entgegen. Gebannt verfolgte ich das Geschehen. Das war besser als jedes Kino!

 

Als die Klinge des Mannes in einer fließenden Bewegung in den Körper der Frau fuhr, schrie ich auf. Was für ein sinnloses, grauenvolles Ende.

Plötzlich hob der Ritter im Spiegel den Kopf und sah mir direkt in die Augen. Langsam, fast gemächlich zog er sein Schwert aus dem Körper der Frau und kam näher. Mit jedem Schritt wurde sein Bild im Spiegel größer. Als er es vollends ausfüllte, schwang er seine Waffe.

Ich sprang instinktiv zurück und … krachte durch den Spiegel hinter mir.

Ein lautes Sirren durchbrach meine Gedanken. Intuitiv rollte ich mich zur Seite. Dort, wo ich gerade noch gelegen hatte, fuhr das Schwert des Ritters ins Gras.

Ins Gras?

Ich sprang auf. Was war hier passiert? Ich stand in der Landschaft, die ich in den Spiegeln gesehen hatte. Rasch drehte ich mich im Kreis, doch das Kabinett war verschwunden. Panik drohte mich zu übermannen.

»Vorsicht!«, schrie eine Stimme in meinem Kopf und ich warf mich zu Boden, gerade rechtzeitig, um dem nächsten, kraftvollen Schwerthieb auszuweichen, der mich mühelos in zwei Hälften geteilt hätte.

Wie von Zauberhand sprang das Messer aus der Tasche in meine Hand. Hass loderte in mir auf und übernahm die Kontrolle. Reflexartig duckte ich mich unter dem nächsten Schwerthieb hinweg, eine Zuschauerin im eigenen Kampf. Blind vor Wut stieß ich dem Ritter das Messer in die ungeschützte Stelle an seiner Seite. Bevor ich realisierte, was geschehen war, schlug der Angreifer mit einem lauten Knall auf dem Boden auf. Nur langsam ebbte das Adrenalin in meinem Körper ab. Ich schauderte. Woher wusste ich überhaupt von der Schwachstelle in der Rüstung des Kriegers? Meine Knie begannen zu zittern, schnell übertrug sich das Beben auf meinen ganzen Körper. Was war mit mir passiert? Und wo hatte ich gelernt, so zu kämpfen?

Vorsichtig näherte ich mich dem Fremden, der in einer immer größer werdenden Blutlache lag und sich nicht bewegte.

Ich war … ein Monster!

Als hätte das Wort einen Schalter umgelegt, erinnerte ich mich wieder an die Bilder aus dem Spiegel. Der Ritter war auch nicht besser, hatte eine hilflose Frau umgebracht. Ich ließ meinen Blick über die Felder schweifen und sah ihren Körper einige Dutzend Meter entfernt liegen. Das Messer immer noch in der Hand, näherte ich mich der Fremden.

Überrascht stellte ich fest, dass sie noch atmete. Ihr blutverschmiertes Gesicht kam mir irgendwie bekannt vor, doch ich konnte nicht sagen, woher.

Plötzlich schlug sie die Augen auf, die sich vor Schreck weiteten.

»Was machst du hier? Verschwinde, ehe sich die Durchgänge zwischen den Welten wieder schließen!«

Ich war wie vor den Kopf gestoßen. »Aber … wie? Was … warum?«, stotterte ich, unfähig, meine Gedanken in Worte zu fassen.

»Für Erklärungen ist jetzt keine Zeit. Belur, der Wächter, wird dir alles erklären und deine Erinnerungen freisetzen. Doch jetzt flieh, sie kommen!«

Alarmiert blickte ich mich um und sah, wie mehrere Ritter die Felder durchkämmten.

»Flieh!«, wiederholte die Frau eindringlich. »Sie werden dich nicht noch einmal unterschätzen. Du hast pures Glück, dass sie deine Rückkehr nach all den Jahren nicht mehr erwartet haben. Lauf in den Wald! Die Quelle ist deine einzige …« Ihre Stimme versagte.

Ich sprang auf und hechtete auf den Wald zu. Hinter mir erschollen Alarmrufe, anscheinend hatten die Angreifer den Leichnam ihres Kameraden entdeckt. Ohne mich umzudrehen, hastete ich zwischen den Bäumen entlang, hörte, wie hinter mir die Verfolger durchs Unterholz brachen.

Schlitternd kam ich am Rand eines kleinen Sees zum Stehen. War das die Quelle, von der die Frau gesprochen hatte?

Mit einem lauten Sirren flog ein Pfeil knapp an meinem Ohr vorbei. Erschrocken drehte ich mich nach rechts und erblickte auf einer Lichtung einen Ritter, der bereits den nächsten Pfeil auf die Bogensehne legte. Ich holte tief Luft und sprang, ohne nachzudenken, in den See.

***

Eiskaltes Wasser klatschte in mein Gesicht und ich schlug die Augen auf. Über mir stand der kleine Mann, einen leeren Eimer in der Hand. »Den kaputten Spiegel ersetzt du mir aber!«, murrte er verdrießlich.

Ich rappelte mich hoch. Was war geschehen?

Langsam folgte ich dem Zwerg zum Ausgang, der nur wenige Meter entfernt lag. Erst jetzt merkte ich, dass meine Finger immer noch krampfhaft das Messer umklammerten. Ich erstarrte, als ich die Blutstropfen an der Klinge sah, und sank zu Boden. Es war alles wahr. Ich, eine Mörderin. Doch wie …?

Der Mann stieß mich mit dem Fuß an.

»Los, aufstehen! Ich will für heute schließen.«

Plötzlich fiel mir wieder ein, was die Frau gesagt hatte, bevor sie gestorben war.

»Kennst du jemanden namens Belur?«, fragte ich ihn.

Der Zwerg erstarrte mitten in der Bewegung. »Das kann nicht sein«, flüsterte er, mehr zu sich selbst als an mich gerichtet. »Aber dann …« Er straffte die Schultern, seufzte und zwirbelte seinen Bart. »Ich dachte, ich würde diesen Tag nie erleben. Belur Elgarsson, Hüter der Spiegel. Es ist mir eine Ehre«, stellte er sich vor.

»Die Frau im Spiegel sagte, ich sei zurückgekehrt. Was hat sie damit gemeint?«, wollte ich wissen.

Die Gesichtszüge des Hüters entgleisten. »Das kann nicht sein«, flüsterte er. »Nach all den Jahren! Ich wusste doch gleich, dass mir dein Gesicht bekannt vorkommt. Du ähnelst deiner Großmutter sehr. Sie war eine bemerkenswerte Frau – und eine große Kriegerin.« Wehmütig sah er mich von der Seite an. »Folge mir! Ich mach uns etwas Tee«, ein Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus, »mit ganz viel Rum. Wenn du wieder bei Kräften bist, musst du mir erzählen, was geschehen ist.«

Ein StÜck vom

Kuchen

Thomas Heidemann

»Sind Sie an einer Story interessiert?« Die Stimme des Anrufers klang cartoonhaft; piepsig und knarzig zugleich. Nicole stöhnte innerlich auf. Das hatte ihr nach einem langen Arbeitstag gerade noch gefehlt: Ein Wichtigtuer, der glaubte, er könne sie mit einem Stimmenverzerrer beeindrucken.

»Woher haben Sie meine Nummer?«, fragte sie eisig. Die Nummer kannten nur die Kollegen aus der Redaktion des Reflex und ein paar handverlesene Freunde.

»Von einer Freundin. Können wir uns treffen?«

»Passen Sie auf, Sie Spaßvogel: Ich kenne Sie nicht, und das wird auch so bleiben. Rufen Sie mich nicht nochmal an!«

»Warten Sie! Es geht um Conrad Delaney!«

Nicole zögerte, aufzulegen. »Na schön. Sie haben zehn Sekunden.«

Der Reflex hatte vor zwei Wochen ihr Interview mit Delaney herausgebracht: »Warum sind die Herz-und-Hubraum-Bücher so erfolgreich, Herr Delaney?« – »Ich denke, insgeheim sehnen sich alle Frauen nach starken Männern in schnellen Autos.« Würg. Glaubte dieser Typ allen Ernstes an die vorsintflutlichen Geschlechterrollen, in die er seine Protagonisten zwängte?

Sie selbst las diese unsägliche Reihe natürlich bloß deshalb, weil sie als Feuilletonistin auf dem Laufenden bleiben musste, und keinesfalls, weil sie wissen wollte, wie es mit Trish und Casey weiterging.

»Manfred – also Conrad – ist ein ziemlich mieser Autor«, piepste die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Das ist ja ganz was Neues. Noch sechs Sekunden.«

»Er schreibt seine Bücher nicht alleine.«

»Welcher Autor macht das schon? Drei Sekunden.«

»Genau genommen hat er den letzten Band überhaupt nicht selbst geschrieben.«

Oho! »Beweise?«

Sie hörte den Unbekannten angestrengt schweigen.

»Das Interview«, sagte er endlich. »Als sie ihn nach Holly gefragt haben.«

Der Name elektrisierte Nicole, als wäre Holly jemand, der ihr nahestand, an den sie aber seit Jahren nicht mehr gedacht hatte. Sie schüttelte den Kopf, verwirrt über sich selbst. Holly war lediglich eine Figur aus Herz und Hubraum. Sie erinnerte sich an das Interview:

»Werden Sie das Geheimnis um Holly im nächsten Band lüften?«

Conrads verblüffter Gesichtsausdruck. »Holly?«

»Das Mädchen, das bei dem illegalen Autorennen verletzt wird. Sie haben nicht verraten, ob sie eine frühere Geliebte von Casey ist oder seine Halbschwester.«

»Ach ja, Holly.« Nervöses Kichern. »Das ist so geheim, dass ich es selbst nicht weiß.«

»Diesen Teil des Interviews haben wir gar nicht gedruckt. Woher wissen Sie …?«

»Ich weiß alles. Ich bin derjenige, der das Buch geschrieben hat. Der Holly erfunden hat. Manfred hat nicht mal bis zu der Stelle gelesen, wo sie das erste Mal auftaucht. Er hatte keine Ahnung, wen Sie meinten.«

Nicole schluckte. »Also gut. Sie haben meine Aufmerksamkeit. Und jetzt schalten Sie endlich diesen blöden Stimmenverzerrer ab.«

»Welchen Stimmenverzerrer?«

***

Ich muss vollkommen bescheuert sein, dachte Nicole und blickte sich beklommen um. Der Märchenpark hatte gerade erst geöffnet. Sie war die einzige Besucherin.

Aus Langeweile warf sie einen Blick in die Schusterhütte, vor der sie auf den anonymen Informanten wartete. Der Schuster saß vornübergebeugt auf seinem Stuhl, eingefroren in der Betrachtung eines Stückchens Leder. Ein Druck auf den roten Knopf hinter der Absperrung würde ihn aus dem mechanischen Koma wecken. Nicole streckte die Hand aus – und zog sie kopfschüttelnd zurück. Warum hatte Conrads Ghostwriter sie ausgerechnet hierher bestellt? Das Ganze kam ihr zunehmend wie ein bravourös inszenierter Telefonstreich vor, auf den sie hereingefallen war wie ein Kind, das man mit Bonbons geködert hatte.

»Na los, drücken Sie den Knopf!«

Sie zuckte zusammen. Das war eindeutig aus der Hütte gekommen. Dieselbe Stimme wie gestern Abend.

»Wo zum Teufel stecken Sie?«

In der engen Kulisse konnte sich beim besten Willen kein erwachsener Mann verbergen.

»Drücken Sie schon! Sonst können Sie die Wichtelmänner nicht sehen.«

»Ich habe keine Lust auf Ihre Spielchen. Entweder, Sie zeigen sich jetzt, oder das war es mit der Story, verstanden?«

»Schon klar. Drücken Sie den Knopf. Bitte.«

Ich sollte einfach gehen, dachte Nicole und drückte den Knopf.

***

Ein warmer Lichtstrahl fiel auf den Schuhmacher. Oberkörper und Arme der Kunstharzfigur bewegten sich ruckelnd.

»Es war ein Schuster ohne seine Schuld so arm geworden, dass ihm endlich nichts mehr übrig blieb als Leder zu einem einzigen Paar Schuhe«, schnarrte eine Tonbandstimme, die immer noch genauso blechern klang, wie Nicole sie aus ihrer Kindheit in Erinnerung hatte.

»Meine Güte!«, stöhnte sie. »Muss ich mir das jetzt bis zum Ende anhören?«

»Fast. Achten Sie auf die Wichtel!«

»Ich weiß nicht, wie viel Sie für Ihre Geschichte haben wollen, aber der Preis befindet sich gerade im freien Fall.«

»Es geht mir nicht um Geld.«

»Schade.«

Mit wachsender Ungeduld verfolgte sie, wie der Schuster beim Aufwachen erst ein, dann zwei, schließlich vier Paar Schuhe auf dem Tisch vorfand und die Lampe das in starres Entzücken gegossene Gesicht des stets gleichen Käufers im Türrahmen erhellte. Was hatte sie als Kind nur so toll daran gefunden?

»Als es Mitternacht war, da kamen zwei kleine, niedliche nackte Männlein«, schepperte der Erzähler, während die stotternde Mechanik die Wichtelmänner auf den Tisch spazieren ließ.

»Drei«, korrigierte Nicole automatisch.

»Gut beobachtet«, sagte der dritte Wichtel, der als einziger bekleidet war, und vollführte einen Bocksprung über die Schultern des Männchens vor ihm.

»W-wie machen Sie das?« Nicole suchte mit den Augen nach der verräterischen Linse eines Projektors, nach Schnüren und Drähten, nach irgendwas, dass geeignet war, ihre schrill protestierende Rationalität ruhigzustellen. »Das gehört nicht zur Installation.«

»Sie ließen nicht nach, bis alles zu Ende gebracht war und fertig auf dem Tische stand«, sagte die Tonbandstimme, »dann sprangen sie schnell fort.«

»Hoppla!« Der dritte Wichtel wich im letzten Moment seinen rückwärts wandernden Kollegen aus. Dann wandte er sich Nicole zu. »Wie sieht’s aus? Können wir?«

***

Wie betäubt ging Nicole Richtung Ausgang. Da ist ein Wichtel in meiner Handtasche. Ein dickes, bärtiges Männlein in Hawaii-Shorts und Polohemd.

 

Sie mühte sich mit dem Drehkreuz ab. Reiß dich zusammen! Da ist kein Wichtel in deiner Handtasche!

Als ihr Auto in Sichtweite kam, klappte sie die Tasche auf. Der Schlüssel schmiegte sich wie von selbst in ihre Hand. »Danke«, sagte sie geistesabwesend.

»Keine Ursache«, sagte der Wichtel in der Handtasche.

Nicole blieb schwankend stehen, als ihre Füße in einen befristeten Streik traten. Okay. Handtasche. Wichtel. Darf ich schreien? Egal, ich schrei jetzt.

Danach betrachtete sie ihre zitternden Fäuste.

»Hier.« Eine winzige Hand reichte ihr ein Päckchen Traubenzucker. »Das hilft.«

»Wie? Das war noch in der Tasche?«

»Lag unter dem abgelaufenen Gutschein für die kostenlose Autowäsche. Wurde höchste Zeit, dass hier mal jemand aufräumt.«

»Du räumst … Was? Hör sofort auf damit!«

»Als ob man von einem Menschen jemals Anerkennung erwarten dürfte,« maulte der Wichtel und zog geräuschvoll eine Nase voll Rotz hoch.

Sie sank auf den Fahrersitz, schloss die Augen und atmete tief durch. »Schön, Herr Wichtel. Warum der Märchenpark? Hätten wir uns nicht, was weiß ich, am Schwanenteich oder in einem Parkhaus treffen können?«

»Nein.«

Sie schrie auf, als die Stimme direkt vor ihr erklang. Der Wichtel saß jetzt auf dem Lenkrad und ließ vergnügt die Beine baumeln.

»Ahh … Du verdammter kleiner … Ich meine, Sie verdammter …« Sie verstummte. »Entschuldigung. Ich bin bloß … Ich treffe mich nicht jeden Tag mit Märchenfiguren.«

»Können wir beim Du bleiben? Ich bin übrigens Lutz.«

»Lutz. Aha.«

»Ist ’n Pseudonym. Also, das mit dem Wichtelmärchen …« Lutz breitete die Arme aus, dass die Schweißflecken unter seinen Achseln sichtbar wurden. »Ihr Menschen beherrscht die Kunst, alles auszublenden, an das ihr nicht glauben wollt. Ich hätte Kasatschok auf deiner Nase tanzen können, ohne dass du mich bemerkt hättest.«

»Warum konnte ich dich dann sofort sehen?«, warf Nicole ein.

»Weil du erwartet hast, Wichtel zu sehen. Du hast deinen Geist geöffnet, ihn sozusagen auf das Niveau eines fünfjährigen Kindes zurückgeschraubt.«

»Ist das wie bei diesen Schielbildern, auf denen man plötzlich den Eifelturm zwischen lauter bunten Strichen sieht?«

»Häh?«

»Ach, schon gut …«

Lutz zuckte mit den Schultern und kratzte sich ungeniert im Schritt. »Also, fahren wir jetzt zu mir?«

»Zu dir? Soll das ein Witz sein?«

»Ich wohne bei Manfred.«

»Oh.«

»Und der ist gerade auf einer Buchmesse.«

»Weiß er, dass du Frauen mit nach Hause bringst?«

Lutz glotzte Nicole an, als hätte sie etwas unsagbar Dämliches von sich gegeben. »Manfred weiß überhaupt nicht, dass es mich gibt.«

***

Das Gefühl, sich einen Seitwärtsschritt von der Realität entfernt zu haben, begleitete Nicole auf der ganzen Fahrt durch die Stadt. An einer roten Ampel betrachtete sie die Menschen, die vor ihr die Straße überquerten, als wäre die Windschutzscheibe ein Fernseher, in dem eine Dokumentation über neu entdeckte Lebensformen lief. Ich gehöre nicht mehr zu ihnen.

Der Gedanke ließ sie schaudern. Da stolpern sie blind durchs Leben, während Wichtelmänner und wer-weiß-was-alles sie durch den Schleier ihrer Ahnungslosigkeit beobachten. Und sich wahrscheinlich kaputtlachen.

Sie zuckte zusammen, als der Fahrer hinter ihr auf die Hupe drückte. Die Ampel stand auf Grün. Beim Anfahren würgte sie den Wagen beinahe ab.

Lutz räusperte sich. »Kriegst du’s hin, dass das nicht öfter passiert?«

»Hast du Angst, ich könnte einen Unfall bauen? Ich sage einfach, mein Wichtel hätte mich abgelenkt.«

»Das ist es nicht.« Lutz, der mit flatternden Hawaii-Shorts breitbeinig über den Lüftungsschlitzen stand, spähte über ihre Schulter durch die Heckscheibe. »Ich will bloß nicht, dass du Aufmerksamkeit erregst.«

Nicole lachte auf. »Sind wir in so einer Agenten-Nummer? Ist der Wichtel-Geheimdienst hinter dir her?«

»Das ist nicht witzig. Rechts abbiegen!«

»Moment. Ist der Wichtel-Geheimdienst hinter dir her?«

Lutz bohrte mit säuerlichem Gesichtsausdruck in der Nase. »Was ich hier mache, ist höchst illegal.«

»Nasebohren ist illegal?«

»Mich zu offenbaren. Die würden mich ohne viel Federlesen als Gartenzwerg in irgendeinen Vorgarten stellen.«

»Was? Gartenzwerge sind …?«

»Sag bloß, das wusstest du auch nicht!«

»Mein Gott! Das ist … Wie können sie nur!«

»Ha! Wahahaha! Du solltest dein Gesicht sehen!« Lutz holte keuchend Luft, bevor ihn die nächste Lachattacke durchschüttelte.

»Vielen Dank.« Nicole verspürte den Wunsch, ihren winzigen Mitfahrer aus dem Fenster zu schnipsen. »Weißt du was? Ich liefere dich bei der Polizei ab. Die können dich ins Zeugenschutzprogramm nehmen.«

»Nein!« Lutz riss die Augen auf. »Wenn die Menschen wissen, dass es uns gibt, kann unser Geheimdienst einpacken.«

»Und für so einen Wahnsinnsplan suchst du ausgerechnet mich aus?«

»Weil du gut bist. Du hast diese ganzen Preise gewonnen. Beste Reportage. Beste Enthüllungsstory. Und so weiter.«

Nicole warf einen zweifelnden Blick auf den kleinen Kerl, der sich beiläufig das Schwarze unter dem Daumennagel hervor pulte und es auf den Beifahrersitz schnippte. Klar, sie war stolz auf das, was sie erreicht hatte. Aber meistens kam es ihr vor, als hätte sie ihre Erfolge auf Kosten anderer errungen. Ihre bescheidene Zurückhaltung bei den Preisverleihungen war keinesfalls gespielt gewesen.

»Selbst, wenn ich gut wäre – ohne Beweise brauche ich gar nicht erst anzufangen.«

»Ist alles auf Manfreds Rechner. Du denkst doch nicht, ich hätte das alles bloß erfunden?«

Nicole schnaubte sarkastisch. »Du bist schon ein unheimlich vertrauensvolles Kerlchen. Aber ich glaube dir. Wegen Holly. Sie wirkt viel lebensechter als alles, was Manfred je geschrieben hat.«

Lutz reckte die Brust vor und grinste gewinnend, als wären Fernsehkameras auf ihn gerichtet. »Weil er seine Figuren aus Klischees und Wunschträumen zusammenbastelt. Aber Holly hat ein reales Vorbild. Eine gute Bekannte von mir. Sie heißt sogar so.«

»Die würde ich zu gerne kennenlernen.«

»Wenn du wüsstest … Oh, wir sind da!« Lutz hielt sich die Nase zu, blies die Backen auf und sprang in die Handtasche.

***

Nicole parkte am Straßenrand im Schatten alter Platanen.

»Con- Manfred scheint es ganz gut zu gehen, was?« Sie blickte an den cremefarbenen, stuckverzierten Fassaden der Stadtvillen entlang. Die meisten Autos, die hier abgestellt waren, hätte sie sich kaum leisten können, und die Miete für eine der Wohnungen erst recht nicht.

»Mal so, mal so«, sagte die Handtasche. »Immer, wenn er ohne meine Hilfe zu schreiben versucht, wird ihm klar, dass er null Talent besitzt. Dann kannst du ihn total vergessen.«

»Das meinte ich zwar nicht, aber ich kenne das Gefühl. Manchmal denke ich, ich schreibe den größten Schrott zusammen. Aber wenn ich es einen Tag sacken lasse, bin ich eigentlich doch ganz zufrieden damit.«

»Als hätte über Nacht jemand nachgebessert, was?« Lutz’ Stimme klang sarkastisch.

»Quatsch. Das sind einfach diese blöden Selbstzweifel. Alle Künstler haben die.« Nicole blieb stehen, als wäre sie gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt. »Lutz!«, zischte sie.

»Hmm?«

»Da lungert ein Mann vor dem Eingang herum.«

Die Handtasche klappte einen Spaltbreit auf. »Du hast recht. Sehr verdächtig.«

»Kennst du ihn?«

»Nö.«

Der Mann blickte in ihre Richtung. Nicole fühlte ein Kribbeln im Bauch, das ihr sagte, sie solle lieber umdrehen, ins Auto steigen und mit Vollgas davonbrausen.

»Was soll ich tun?«

»Äh. Ihn erschießen?«

»Hast du eine Pistole?«

»Hast du keine? Hier unten liegt so ’ne weiße Patrone. Ordentliches Kaliber, aber … warum ist die so leicht?«

»Das ist keine Patrone!«, brauste sie auf.

»Sondern? Nein, sag’s nicht! Das würde mir bestimmt schlaflose Nächte bereiten.«

Als hätte er schlagartig das Interesse an dem Haus verloren, wandte der Fremde sich ab und kam mit raschen Schritten auf Nicole zu. Er wirkte gehetzt und ausgezehrt auf sie, wie jemand, der drei Tage ohne Essen und Schlaf von Wölfen durch die Wildnis gehetzt worden war.

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