Tod des Verlegers

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***

Mr. Elleridge senior hat in seiner Zeit auf Erden so manches Federvieh vom Himmel geholt. Zusammen mit dem Familienanwesen hat er seinem Sohn auch das dafür nötige Mordgerät vermacht: eine Schrotflinte.

Mit dem Temperament eines gereizten Stiers marschiert Mr. Eldritch, die Flinte in der Rechten, auf das Weidendickicht zu. Im Lauf steckt noch eine vierzig Jahre alte Schrotpatrone, an deren Funktionstüchtigkeit er keinen Gedanken verschwendet.

Boozer trottet betrübt in einigem Abstand hinterher, unsicher, ob seine Anwesenheit überhaupt erwünscht ist.

Schnaufend stoppt Mr. Eldritch vor der grünen Wand und fühlt sich wie der Prinz vorm Dornröschenschloss. Eine Axt, denkt er, wäre vielleicht die bessere Wahl gewesen. Aber jetzt nochmal umdrehen? Wer weiß, was diese räuberischen Troglodyten in diesem Moment anstellen!

Das hier ist biegsames Weidenholz. Irgendwie wird er sich schon hindurchquetschen können.

Er schiebt den rechten Ellbogen zwischen die Äste, dann die Schulter, die Flinte eng an die Brust gepresst. Sein Kopf durchdringt das Gestrüpp. Als das rechte Bein folgt, bemerkt er, dass der linke Fuß feststeckt, doch da befindet sich sein Schwerpunkt bereits weit jenseits der Längsachse.

Im Stürzen dreht er den Oberkörper. Die sich quer stellende Flinte verhakt sich. Mr. Eldritch umklammert sie mit beiden Händen, eingefroren in einem Neigungswinkel von fünfundvierzig Grad, und geht im Geiste seine Optionen durch.

Ein brechender Ast enthebt ihn einer Entscheidung.

Mit einem Aufschrei vollendet er den unterbrochenen Sturz. Der Kolben der Flinte schlägt neben seinem Kopf auf. Ein greller Lichtblitz und ein Donnerschlag sind Mr. Eldritchs letzte Wahrnehmungen.

***

Im Weidendom herrscht unwirkliches grünes Dämmerlicht. Die Sonne, die den Hochnebel endlich durchdrungen hat, zaubert funkelnde Lichtpunkte ins raschelnde Blätterdach.

Auf dem lockeren Boden liegt ein Mann mit versengten Augenbrauen und schwarzen Schmauchspuren im Gesicht. Sein Blick geht ins Leere; er ist weder wach noch völlig weggetreten. In diesem Zustand luzider Schockstarre hebt sich für ihn der Schleier vor der anderen Welt.

Stimmen wispern um ihn herum. Winzige graue Gestalten, keine größer als eine Maus, bewegen sich verschwommen am Rande seines Gesichtsfeldes.

Wird er sterben? – Das ist unsere Schuld! – Wir hätten ihm mehr Briefe schreiben müssen!

Der Mann versucht zu sprechen, aber es kommt nur ein rasselndes Husten heraus.

Seht doch! Er ist kaum verletzt! – Oh Jubel! Oh Freude! – Ruhig, er will uns etwas sagen!

»Verd… verdammte Räuber.«

Oh weh! Oh Jammer! – Er ist böse auf uns! – Was sollen wir tun?

Geben wir ihm seine Sachen zurück. Das wird ihn freuen.

Rund um den Mann bricht hektische Aktivität aus. Die Gnome bewegen sich so schnell, dass das menschliche Auge nicht folgen kann. Die Erde wirft Blasen wie ein Yorkshire Pudding im Backofen.

Bis er sich aufgesetzt hat, sind die Gnome verschwunden.

Vor ihm liegen die Dinge, die er vor zwanzig Jahren hier vergraben hat: eine verrostete Blechbüchse und ein Lederetui mit zwei vergoldeten Federn, einem Federhalter aus Elfenbein, einem Tintenfass und einem Stück Siegelwachs, an dem er winzige Zahnabdrücke entdeckt.

Fassungslos greift er nach der Büchse. Der Deckel liegt nur lose auf, und darunter sind sie alle versammelt: seine Verse und Gedanken, Charlottes Briefe und der eine Brief, den er nie verschickt hat. Den er geschrieben hat, als schon alles verloren war und nur er selbst es nicht wahrhaben wollte. Dass Charlotte auf Drängen ihres Vaters nicht ihn, einen Poeten gemeiner Herkunft, sondern einen Mann ihres Standes heiraten würde.

Seine Hände zittern, als er den Umschlag öffnet.

Den Brief liest er nicht. Den kennt er nach all den Jahren noch in- und auswendig.

Aber das Gedicht schmiegt sich wie von selbst in seine Hände. Er merkt nicht, dass er laut liest.

Am Baum im Nadir deines Himmelswegs

bin ich ein Blatt, das Sonnenschein verschmäht

das tags und auch des Nachts sich stets

voll Hunger nach dir reckt und dreht

dein weißes, klares Licht nur trinkt

mein Wandelstern, der nie versinkt

Während er liest, hängen zahllose Augenpaare an seinen Lippen. Die Gnome spüren, wie die Magie an diesen Ort zurückfließt, den Willard Elleridge einst für die Frau geschaffen hat, die er liebte. Hier wollte er sie bitten, ihn zu heiraten.

»Ich vergebe dir«, haucht Mr. Elleridge. Ein letztes Mal sieht er Charlotte vor sich, bleich und schön wie Mondlicht auf Neuschnee. Tränen zerplatzen zwischen den Zeilen.

Und Boozer rammt ihn mit voller Wucht, reißt ihn zu Boden und schlabbert überglücklich sein Gesicht ab. Mr. Elleridge packt lachend seinen Hund und drückt ihn an sich.

»Guter Junge«, prustet er. »Guter Junge! Hey, das reicht jetzt aber!«

Immer noch weint er, aber sein Herz ist leicht. So leicht und eins mit dieser und der anderen Welt, dass er Dinge sieht und hört, die den meisten Menschen für immer verborgen bleiben.

Wir hatten kein Zuhause, wispert eine dünne, alte Stimme, die nur Mr. Elleridge hören kann. Es gibt nicht mehr viele Orte, an denen wir leben können. Als wir diesen Garten fanden und die vergrabenen Worte darin, wussten wir, dass wir hier willkommen sein würden.

»Meinetwegen seid willkommen«, schnieft Mr. Elleridge (oder nennen wir ihn einfach Willard, denn so gut kennen wir ihn inzwischen).

»Sofern ihr den Garten wieder in Ordnung bringt«, fügt er mit der Eldritch-Stimme hinzu, und unter der Erde huschen die Gnome aufgeschreckt in alle Richtungen davon, um ihren guten Willen zu beweisen.

***

»Mr. Elleridge«, ruft Mrs. Swanson von der Gartenpforte her. »Hatten Sie ein wenig Zeit zum Nachdenken?«

Willard blickt von seinem Kartoffelacker auf, wo er gerade munter vor sich hin pfeifend die erste Ernte einfährt.

»Ach, Anne, meine Liebe! Selbstverständlich habe ich nachgedacht. Sie hatten recht mit dem Zettelchen. Ich entschuldige mich für mein garstiges Benehmen.«

Mrs. Swanson strahlt übers ganze rosige Gesicht. »Mein lieber Willard! Ich wusste, dass man Sie nicht aufgeben darf.«

Willard kommt mit dem Drahtkorb zu ihr. »Erlauben Sie, dass ich mich mit einem bescheidenen Geschenk bei Ihnen bedanke?«

»Wenn ich so charmant gefragt werde, kann ich nicht ablehnen«, erwidert Mrs. Swanson kokett.

Er reicht ihr den Korb über die Pforte. Darin liegt eine einzige Kartoffel von der Größe eines Kürbisses.

»Du meine Güte!« Mrs. Swanson quellen die Augen über. »Darf ich die mit zum Markt nehmen? Bestimmt gewinne ich damit das Preiswiegen!«

Willard lacht bei der Vorstellung. »Warum nicht? Aber falls jemand nach Ihrem Geheimnis fragt, sagen Sie besser, Sie hätten Pferdemist genommen.«

Sie zwinkern einander zu.

»Und falls ich Sie nach Ihrem Geheimnis frage, Willard?«

Er lächelt. »Dann würde ich sagen, dass zwanzig Jahre genug sind.«

Unter der

Weltenesche

Veronika Lackerbauer

Der Wetterbericht hatte im Verlauf des Tages verbreitet Niederschläge prognostiziert, von Norden kommend bis an den Alpenrand. Noch war davon allerdings nichts zu spüren. Der schwere Duft von Flieder in voller Blüte, vermischt mit Waldmeister, hing in der Luft, und die frisch ausgetriebenen Blätter entfalteten sich zögerlich im wärmer werdenden Sonnenlicht. Noch schwirrten emsige Bienen und Hummeln durch die beinahe sommerliche Abendluft, doch bald schon würde sich der träge Spätfrühlingstag seinem Ende zuneigen.

Allenfalls die Geschäftigkeit der brummenden, summenden Insekten hätte ein Hinweis darauf sein können, dass dieser Abend noch für Überraschungen gut sein würde.

***

Annika saß am geöffneten Fenster ihres Zimmers und ließ den Blick über den übervollen Fliederbusch hinweg in den Garten und zum Waldrand schweifen. Für Annika war schon der Weg hinunter in den Garten unerreichbar weit. Sehnsüchtig betrachtete sie die hohen, schlanken Fichten, die verheißungsvoll mit ihren nadeligen Ästen zu winken schienen. Den wolkenlosen Himmel zerschnitten nur die Kondensstreifen zweier Flugzeuge, die sich in unterschiedlicher Richtung kreuzten. Wohin ihre Reise wohl ging?

Für Annika blieb nur der Blick aus dem Fenster. Nicht nur, weil sie, an ihren Rollstuhl gefesselt, gezwungen gewesen wäre, jemanden um Hilfe zu bitten, um die Stufen von der Terrasse hinunter auf den Kiesweg zu bewältigen, sondern auch und vor allem deshalb, weil sie einen Berg von Aufgaben vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, der erledigt werden wollte.

Hier im Institut traute man ihr zum ersten Mal in ihrem Leben etwas zu – anders als zu Hause, wo ihr Vater sie umsorgt und verhätschelt hatte, als wäre sie mit ihren dreizehn Jahren immer noch ein Wickelkind. Viele Krankenhausaufenthalte hatten einen regelmäßigen Schulbesuch unmöglich gemacht, auch wenn sie zu Hause und im Krankenbett viel selbstständig nachgeholt hatte. Ihre Lehrer waren nachsichtig gewesen, doch auch einig in der Überzeugung, dass es bei ihr nicht allzu viel Sinn hatte, Leistung einzufordern. Und ihre Mutter … Sie hingegen hatte sich mehr und mehr von Annika zurückgezogen. Am Anfang stand der Schock nach Annikas Geburt, als man ihrer Mutter noch im Kreißsaal gesagt hatte, dass eine Bürde auf ihr lastete, die ihr ganzes Leben prägen würde. Zunächst ließ sich vielleicht noch hoffen, dass das Kind sich fangen würde, später einmal in der Lage wäre, ein eigenständiges Leben zu führen. Doch mit jedem Jahr, das Annika älter wurde, schwand die Hoffnung. Als die Prognose der Ärzte, dass sie nie richtig laufen lernen würde, sich bewahrheitete, begann ihre Mutter sie abzulehnen. Die Mutter sah in ihr immer nur das, was sie seither den Fluch nannte.

 

Die Ärzte hatten dafür einen lateinischen Begriff, der nüchterner beschrieb, was Annika fehlte: Spina bifida – ein offener Rücken. Etwa einmal unter tausend Geburten trat diese oft weitreichende Fehlentwicklung im Rückenmark auf. Die Frage, warum sie ausgerechnet Annika getroffen hatte, war müßig, trotzdem wurde ihre Mutter nicht müde, sie immer wieder zu stellen und mit dem Schicksal ihres Kindes, das gleichzeitig das ihre war, zu hadern.

Hier im Institut, das Internat und Behandlungszentrum in einem war, konnte Annika zum ersten Mal ohne das Gefühl leben, eine Enttäuschung zu sein. Hier war sie nicht die andere. Jedes Kind, das hierher kam, hatte mit dem einen oder anderen Problem zu kämpfen, ein Rollstuhl schien dabei noch nicht das Schlimmste zu sein, was einen treffen konnte. Obwohl sie glücklich war, einmal nicht aus der Masse herauszustechen, und trotz ihres Ehrgeizes, das Abitur aus eigener Kraft zu machen, sehnte sie sich an diesem herrlichen Frühlingstag wieder einmal nach dem Unerreichbaren: Wie mochte es wohl sein, wenn man einfach aufstehen und hinüber zum Waldrand laufen konnte?

***

Weshalb tust du es nicht einfach?, flüsterte ein zartes Stimmchen in Annikas Ohr.

»Weil ich es nicht kann«, erwiderte Annika ohne Nachdenken. Es war die Antwort, die sie auf so vieles in ihrem bisherigen Leben bekommen hatte: Du kannst das nicht. So lange hatte sie diesen Satz gehört, bis sie ihn zu ihrem eigenen gemacht hatte.

Der Vater hatte ihn liebevoll gesagt, tröstend. »Mach dir nichts daraus. Du kannst dafür andere Sachen.« Was genau sie konnte, was andere nicht auch oder sogar besser beherrschten, diese Antwort war er ihr schuldig geblieben. Am Ende blieb die Gewissheit, dass sie wieder einmal vor einer unüberwindbaren Hürde stand, und die konnte schon eine Stufe oder eine Unebenheit sein. Auf dem Spielplatz hatte es für sie keine Schaukeln gegeben, keine Wippe und schon gar kein Klettergerüst. Im Sommer gab es kein Schwimmbad, keinen Baggerweiher und keine Strandparty. Es gab kein Beach-Volleyball und kein Leistungsturnen für sie, auch wenn sie den Mädchen ihrer Klasse sehnsüchtig von der Tribüne aus zugesehen hatte, wie sie Handstandüberschlag auf dem Schwebebalken geübt hatten. Sie lernte nicht Schwimmen und nicht Radfahren. Sie bekam keine schmutzigen Hosen und keine aufgeschlagenen Knie. Für die Kinder in ihrer Nachbarschaft und ihre Klassenkameraden wurde sie irgendwann unsichtbar. Anfangs hatten sie nach ihr gefragt, hatten sogar versucht, sie trotz ihres Rollstuhls mitzunehmen, doch es war zu mühsam, sie war eine Last, ohne sie ging es leichter. Da waren die Einladungen seltener geworden. Und ihr Vater hatte nur wieder gesagt: »Macht doch nichts. Du kannst doch sowieso nicht mitspielen.« Er hatte versucht, sie aufzuheitern, indem er ihr Berge von Büchern kaufte. Lesen, ja, das konnte sie. Ausdauernd, weil ihr das Stillsitzen nicht schwerfiel. Oder malen. Er kaufte ihr Leinwand und Pinsel. Und eine Geige. Alles, was man im Sitzen tun konnte, wozu nur Denken und Konzentration nötig waren.

Wenn ihre Mutter sagte: »Das kannst du nicht!«, dann fühlten sich die Worte für Annika wie Schläge an. Es schwang immer ein Vorwurf mit, so als ob es ihre Schuld wäre, wenn sie wieder einmal die Erwartungen ihrer Mutter enttäuschte. Und aus »Das kannst du nicht!« wurde »Das lohnt sich nicht!« Schwimmtherapie für den Bewegungsapparat – lohnt sich nicht. Reitstunden auf dem Therapie-Pony – was soll das bringen? Ein Spezialrollstuhl für Sport, wozu denn das? Es lohnt sich nicht. Du kannst das nicht.

Unsinn, kommentierte die kaum hörbare Fistelstimme und riss Annika aus ihren Gedanken.

»Ich kann aber nicht laufen«, wiederholte Annika.

Wer spricht denn vom Laufen? Wer will denn laufen, wenn er fliegen kann?

***

Gerade, als Annika einwenden wollte, dass sie doch auch des Fliegens keineswegs mächtig war, spürte sie, wie sie den Kontakt zu Sitz und Lehne ihres Rollstuhls verlor. Etwas zog sie mit enormer Macht durch das offene Fenster hinaus in die fliederschwere Abendluft. Aus ihrer neuen Perspektive sah sie, dass sich im Westen bereits Wolken türmten, und hörte ein leises Grollen, das das nahende Gewitter ankündigte. Den Weg zum Waldsaum, der ihr vom Fenster aus eben noch unüberwindlich erschienen war, legte sie in einem Wimpernschlag zurück. Nach der flirrenden Vorgewitterschwüle fühlte sich die Kühle des schattigen Blätterdachs angenehm auf der Haut an.

Annika wusste gar nicht, wie ihr geschah. Beinahe schwerelos und mit solcher Leichtigkeit hatte sie sich in ihrem Leben noch nie fortbewegt. Unzählige Male hatte sie sich ausgemalt, wie es wäre zu gehen. Doch wie viel besser noch als jede Fantasie war dieses Gefühl: Sie flog!

Behände wie ein kleiner Vogel schlängelte sie sich zwischen Ästen hindurch, tauchte in frisches Blätterwerk ein und landete schließlich auf einer sonnengefluteten Lichtung. Von oben sah sie Dinge, die sie hauptsächlich aus Büchern kannte: Im weichen, saftigen Gras wuchsen leuchtendgelbe Butterblumen, üppiger Löwenzahn und noch eine Menge von anderen weißen, violetten, blauen und gelben Wiesenblumen. In der Mitte der Lichtung ragte eine riesige, uralte Esche in den Himmel.

Der Baum schien Annika magisch anzuziehen. Sie wollte in seiner Nähe sein, die raue Borke seines Stamms mit der Hand berühren. Annika landete und ließ sich im Schatten der Esche nieder.

Sie lehnte sich mit ihrem schmerzenden Rückgrat gegen den aufrechten Stamm und folgte mit ihrem Blick, den Kopf weit in den Nacken gelegt, dem Baum bis in die feinen Verästelungen seiner ausladenden Krone. Aus dieser Perspektive erschien es ihr, als ob das Blätterdach des Baumes den Himmel abstützte und seine weiten Äste die ganze Erde umspannten.

***

Da nahm Annika wieder eine leise, flüsternde Stimme wahr. Sehnst du dich nicht nach der Zeit zurück, zischte die, als du noch ein kleines Kindchen warst? Das Leben war so viel einfacher damals, nicht?

Annika dachte daran, wie sie auf den Schultern ihres Vaters durch die Welt geritten war. Seine kräftigen Beine hatten die ihren ersetzt. Sie waren wie ein seltsames Wesen mit einem Unterleib und zwei Köpfen gewesen, das lachte und sang. Dort oben hatte Annika sich unverwundbar gefühlt. Doch inzwischen war sie ihrem Vater viel zu schwer, er konnte sie nicht mehr so auf dem Rücken tragen. Je älter sie geworden war, desto seltener wurde der Klang ihres Lachens.

Die Leichtigkeit des Moments war mit einem Mal verflogen, so als hätte das Stimmchen mit seinem Einwurf alle Fröhlichkeit und Unbeschwertheit von der Lichtung gesogen.

Als kleines Kind war ihr Leben leicht gewesen, ja, weil sie so viel von dem noch nicht gekannt hatte, was man ihr später verwehren würde. Weil sie noch nicht hatte ermessen können, wie anders sie war.

Annikas Blick glitt an ihren Beinen entlang und ihr Magen verkrampfte sich. Sie packte mit beiden Händen ihre Oberschenkel und rüttelte daran. Von einer plötzlichen Wut gepackt, griff sie nach einem Stöckchen, das sie im Gras fand, und warf es nach ihren eigenen Füßen.

Ach, könnte sie sie doch ausreißen, diese dummen, nutzlosen Stelzen!

***

Da vernahm sie eine weitere krächzende Stimme. Und wie wird das wohl weitergehen? Hämisch setzte sie hinzu: Eine Last bist du, dein Leben lang. Allen, die du liebst!

Annika erinnerte sich daran, was ihre Mutter oft seufzend sagte: dass sie sie ihr Leben lang brauchen würde. Sie würde immer auf die Hilfe anderer angewiesen sein. Was nützte es da schon, wenn sie jetzt lernte und übte, um einen guten Schulabschluss zu bekommen? Am Ende würde sie doch nie so leben können wie normale junge Frauen.

Angst ergriff Annika und schnürte ihr die Kehle zu. Eine Angst, die sie bereits oft verspürt hatte, wenn sie sich ihr späteres Leben ausmalte. Sie glaubte, keine Luft mehr zu bekommen. Die Furcht verdrängte die Wut und verdeckte jeden positiven Gedanken, so wie die größer werdenden Wolkentürme die Sonne verdunkelten. Die ersten Regentropfen platschten schwer auf die Blätter der Esche und fielen hinunter in das hohe Gras. Sie trafen ihre nackten Arme und die feinen Härchen sträubten sich. Gleich würde sie richtig nass werden.

Mach dich nicht schmutzig. Pass auf, dass du nicht nass wirst. Bleib im Haus. Die gut gemeinten Ratschläge, die die engen Grenzen ihres bisherigen Lebens noch enger gefasst hatten, gellten automatisch in Annikas Kopf wider. Nur ja nicht noch mehr Arbeit machen. Ohnehin schon hatten ihre Eltern genug mit ihr zu tun. Nicht das auch noch. Vorsichtig sein. Achtsam. Eine Erkältung steckte ihr ohnehin geschwächtes Immunsystem schlecht weg, wie schnell wurde daraus Schlimmeres. Ans Bett gefesselt, nicht nur an den Rollstuhl, und gezwungen, noch mehr Hilfe in Anspruch zu nehmen. Doch warum eigentlich? Wenn sie jetzt durchnässt wurde und eine Lungenentzündung bekam, dann ging es vielleicht zu Ende. Dann fiele sie endlich niemandem mehr zur Last. Und Annika überlegte, dass sie vielleicht besser einfach hier sitzen bleiben sollte, durchweicht vom Regen. Was spielte es schon für eine Rolle?

***

Da meldete sich die erste Stimme wieder zu Wort. Eindringlich sagte sie:

Woher kommst du?

Wohin gehst du?

Was ist dein Glück?

»Glück!« Annika spie das Wort förmlich aus. »Wer redet denn von Glück? Wie könnte jemand wie ich je wirklich glücklich sein?«

Das Stimmchen piepste: Wie viel braucht es denn dazu?

Annika schwieg. Mindestens, so dachte sie trotzig, braucht es dazu Beine!

Deine Beine sind nicht das Problem, fuhr die leise Stimme sie so scharf an, als hätte sie jedes ihrer gedachten Worte genau gehört. Du bist blind und taub! Sieh hin!

Annika blickte sich irritiert um, denn die Lichtung hatte sich nicht verändert. Das emsige Summen der Bienen hatte allerdings aufgehört, auch die Insekten zogen sich vor dem Regen zurück. Die goldgelben Blütenköpfe der Butterblumen wippten auf ihren dünnen Stängeln, wenn ein Wassertropfen sie traf. Sie beugten kurz die Köpfchen, dann richteten sie sich selbstbewusst wieder auf.

Zögerlich streckte Annika ihre Arme aus und strich über das feuchte Gras auf dem Boden. Jetzt prasselte der Regen bereits mit dicken Tropfen auf das Blätterdach der Esche nieder. Ein großer, brauner Vogel, der unter dem Baum Schutz gesucht hatte, ließ einen krächzenden Laut vernehmen. Es roch nach feuchter Erde.

In Annika reifte ein Entschluss. Sie wusste nicht, woher er plötzlich kam, doch er war da und er ließ sich nicht mehr abschütteln. Entschlossen stemmte Annika ihre Füße in den weichen Waldboden und schob sich, mit dem Rücken fest an den Stamm der Esche gedrückt, hoch. Es kostete sie große Anstrengung, bis sie auf ihren wackeligen Beinen stand. Der harte Baumstamm stützte sie. Jetzt regnete es in Strömen. Ohne Unterlass fielen die Tropfen auch durch die schützenden Blätter der Esche. Annika fing einen Regentropfen mit der Zunge und ließ die kalte Flüssigkeit im Mund zergehen. Ein Grinsen glitt unwillkürlich über ihre Lippen.

Sie wusste nicht, wie lange sie dort gelehnt hatte. Annika verlor jedes Gefühl für Raum und Zeit, vielleicht stand der Moment auch einfach still unter der Esche. Obwohl es immer noch regnete, fühlte Annika, dass es an der Zeit war zurückzukehren. Womöglich sorgte man sich bereits um sie.

***

Als die besorgten Betreuer Annika völlig durchnässt und fröstelnd vom Regen auf den Stufen zur Terrasse fanden, fürchteten sie bereits das Schlimmste. Der umgestoßene Rollstuhl lag am Fuß der steinernen Treppe.

Doch Annikas Augen strahlten.

Sie bestand darauf, auf den Arm ihrer Erzieherin gestützt, selbst zum Haus hinauf zu steigen. Ihre Schritte waren ungelenk und langsam, glitten auf den nassen Stufen mehrmals ab, aber Annika ließ sich endlich einmal nicht davon beirren. An diesem Frühlingsabend hatte Annika unter der Weltenesche etwas erfahren, was ihr niemand mehr würde nehmen können:

In der Vergangenheit zu leben, machte traurig.

In der Zukunft zu leben, machte Angst.

Aber wenn du glücklich sein willst, genieße das Hier und Jetzt.

Und: Glücklichsein hängt nicht davon ab, ob man seine Beine bewegen kann.

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