Seewölfe - Piraten der Weltmeere 194

Текст
Автор:
Из серии: Seewölfe - Piraten der Weltmeere #194
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Seewölfe - Piraten der Weltmeere 194
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Impressum

© 1976/2016 Pabel-Moewig Verlag KG,

Pabel ebook, Rastatt.

ISBN: 978-3-95439-530-9

Internet: www.vpm.de und E-Mail: info@vpm.de

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

1.

Die Küste dieses unbekannten Landes war wie eine grüne Wand, ebenmäßig, flach und dicht – undurchdringlich, wie es schien. Nirgendwo eine Erhöhung, ein Berg oder nur ein Hügel. Und über allem die gleißende Sonne, die offenbar den letzten Dunst aus diesem Land herauskochen wollte. Der mäßige Nordwest erwies sich als brauchbar für den Kurs der „Isabella VIII.“. Doch Abkühlung brachte er den Männern an Bord seit den frühen Morgenstunden nicht mehr.

„Platt wie ein Brett“, bemerkte Edwin Carberry grollend. „Platt wie ein gottverdammtes wurmstichiges Brett!“ Der Klang seiner Reibeisenstimme verklarte auch dem letzten der Crew, daß diese Küste wahrhaftig nichts Aufregendes barg.

Und wenn der Profos eine solche Feststellung traf, dann konnten sich die anderen getrost darauf verlassen und sich die Mühe schenken, auch nur den Kopf zu heben. Das bißchen, was sie noch auf dem Leib trugen, klebte an ihrer Haut, und jeder Quadratinch des harten Holzes, aus dem die schlanke Galeone gebaut war, fühlte sich glitschig an, wie mit einem feuchten Belag überzogen.

Philip Hasard Killigrew lächelte. Von seinem gewohnten Platz an der Schmuckbalustrade des Quarterdecks überblickte er das gesamte Schiff und alles, was sich an Deck abspielte. Letzteres war derzeit praktisch nichts. Verständlich, denn das feuchtwarme Klima in diesen Breiten glich für Europäer einem Hammerschlag. Zwar hatten die Männer schon das Ungewöhnlichste überstanden, was es überhaupt geben konnte – vom klirrenden Frost der Nordlande bis zur Gluthitze der Südseeinseln. Aber dennoch gewannen sie hier eine neue Erfahrung. Die Intensität der Sonne und die Luftfeuchtigkeit steigerten sich vor dieser fremden Küste in einem solchen Maße, daß auch der widerstandsfähigste Mann unweigerlich ermattete.

Die „Isabella“ rauschte unter Vollzeug über Backbordbug auf Südkurs. Die Kraft des Nordwestwindes reichte aus, das Tuch prall stehen zu lassen. Der leise Singsang der heißen Luft in Wanten und Pardunen wurde begleitet vom fast rhythmischen Knarren des laufenden und stehenden Gutes. Ein gleichfalls zuverlässiger Begleiter war die Küstenlinie, deren Verlauf sich seit Stunden in monotoner Parallelität dem Kurs der Galeone anpaßte.

Edwin Carberry, der sich soeben zum Gebrauch seiner Stimme hatte aufraffen können, hockte auf einer Taurolle, mit dem Rücken an den Fuß des Großmastes gelehnt. Er brauchte sich nicht aufzurichten, um über das Steuerbordschanzkleid zu spähen. Die anderen Männer lagen lang ausgestreckt auf den Decksplanken. Ausnahmslos trugen sie nur noch ihre derben Seemannshosen. Es gab nichts zu tun, der Nordwest ermöglichte es ihnen mit seiner Stetigkeit.

Nur wenige der Crew hielten sich unter Deck auf, in der vagen Hoffnung, dort Schutz vor der unbarmherzigen Sonne zu finden. Aber die unteren Decksräume hatten sich längst in einen Brutkasten verwandelt.

Hasards Söhne, die Zwillinge, saßen bei den Männern auf dem Vorkastell. Zwischen den beiden Jungen kauerte Arwenack, der Schimpanse, und knabberte gelangweilt an einer Brotfrucht. Der Ara-Papagei Sir John hielt sich indessen auf Distanz. Hoch oben auf dem Fockmars ließ er sich den Wind durch das aufgeplusterte Gefieder wehen.

Der Seewolf wandte sich zu seinem ersten Offizier um. Ben Brighton ließ das Spektiv sinken, mit dem er immer wieder die Küste beobachtete.

„Tropischer Regenwald, Sir. Wenn wir da an Land gehen, brauchen wir eine Stunde, um eine Meile zurückzulegen.“

„Ich weiß.“ Hasard nickte. „Es wäre sinnlose Zeit- und Kraftverschwendung.“

„Ich denke, es gibt vorläufig keinen Grund zur Eile. Unser Trinkwasser reicht noch für drei oder vier Tage und sogar länger, wenn wir rationieren.“

„Solange werden wir nicht suchen müssen. Der Dschungel kann nicht endlos sein. Im übrigen denke ich auch an unsere Proviantvorräte. Ein wenig Frischfleisch täte uns allen gut. Wenn mich nicht alles täuscht, wächst die Brotfrucht den Männern langsam zum Hals heraus.“

Ben Brighton grinste. Er deutete mit einer knappen Handbewegung zur Küste.

„Zumindest daran werden wir keinen Mangel haben. Wie ich gesehen habe, gibt es auch hier jede Menge Brotfruchtbäume.“

Der Seewolf mußte ebenfalls lächeln.

„Wenn irgend möglich, behalten wir das Zeug als eiserne Reserve. Dieses Land scheint größer zu sein als alle Südseeinseln, die hinter uns liegen. Also können wir hoffen, daß es hier eine reichhaltigere Tierwelt gibt.“

„Ein paar gebratene Tauben wären schon ein Hochgenuß“, entgegnete Ben mit einem leisen Seufzer.

In der Tat hatten sie sich in den letzten Wochen mehr und mehr zu Vegetariern entwickelt. Appetitliche jagdbare Landtiere hatten sie auf den Südseeinseln praktisch überhaupt nicht entdeckt, und selbst frischer Fisch war nichts für jeden Tag. Blieb nur noch das Pökelfleisch, und das war den Männern seit jeher ein Greuel.

„Diese Küste gibt mir Rätsel auf“, sagte Hasard nachdenklich. „Zwölf Tage ist es jetzt her, daß wir das große Riff hinter uns gelassen haben. Seit genau elf Tagen haben wir Land in Sicht, immer in Nord-Süd-Richtung. Wenn es eine Insel ist, dann muß sie mächtig groß und langgestreckt sein.“

Ben Brighton zuckte mit den Schultern.

„Ein Teil von Südostasien kann es jedenfalls nicht sein. Dann würden sämtliche Seekarten, die die Flotte der königlichen Lissy verwendet, nicht stimmen.“

„Das ist kein guter Grundsatz, Ben.“ Hasard schüttelte den Kopf. „Wie oft haben wir schon festgestellt, daß das kartographische Material mehr der Phantasie der Zeichner als der Wirklichkeit entspringt!“

„Ja, das mag daran liegen, daß wir uns häufiger in unbekannte Breiten vorgewagt haben als die meisten anderen Gentlemen.“

„Eben drum. Deswegen können wir nicht mit Sicherheit behaupten, dies sei auf keinen Fall ein Teil von Südostasien. Natürlich sind alle anderen Mutmaßungen genauso gerechtfertigt.“

Ben Brighton nickte, und mit einer bezeichnenden Kopfbewegung deutete er zum Poopdeck hinauf, wo Old Donegal Daniel O’Flynn am Backbordschanzkleid saß und mit geschlossenen Augen döste. Den Halbschatten, den er dort anfangs noch gefunden hatte, gab es nicht mehr, denn mittlerweile stand die Sonne senkrecht über ihnen am Himmel.

„Wenigstens gibt es einen an Bord, der haargenau Bescheid weiß“, sagte Ben und grinste.

Hasard wiegte den Kopf auf den Schultern.

„Ich will auch das nicht vom Tisch fegen, was Old O’Flynn sagt. Natürlich kennen wir alle seine Spukgeschichten, und jeder macht sich darüber lustig. Aber die Geschichten über ‚Terra Australis‘ hat er nicht selbst erfunden. Die haben schon andere lange vor ihm erzählt.“

„Ich weiß, ich weiß“, sagte Ben und nickte. „Willst du etwa allen Ernstes annehmen, wir hätten wirklich dieses sagenumwobene südliche Land entdeckt?“

„Unmöglich ist nichts. Erinnere dich nur an die Nordwest-Passage.“

„Aber da hatten wir doch genauere Anhaltspunkte. Über ‚Terra Australis‘ wissen wir nichts, buchstäblich nichts. Außer, daß es ein paar Zeichner gegeben hat, die auf die südliche Hälfte der Welt einen Klecks gemalt haben, weil es ihnen dort zu leer erschien. Sonst wäre noch zu sagen, daß wir uns nach wie vor nördlich vom Äquator befinden.“

Hasard zog die Augenbrauen hoch.

„Das muß nichts heißen. Was, wenn ‚Terra Australis‘ ein ganzer Kontinent ist, der oberhalb des Äquators beginnt und weit unterhalb endet?“

„Na, na!“ ereiferte sich Ben Brighton, der sonst stets die Ruhe in Person war. „Das scheint mir denn doch ein bißchen weit hergeholt. Ich gebe zu, daß wir schon einiges von der Welt gesehen haben, was kein anderer vor uns sah. Aber das muß ja nicht immer so bleiben.“

Der Seewolf wurde einer Antwort enthoben. Eine krächzende Stimme vom Poopdeck fuhr den beiden Männern dazwischen.

„Was, zum Teufel, redet ihr da! Könnt ihr es denn noch immer nicht glauben, was ein weitgereister alter Mann euch sagt?“

Der Seewolf und sein erster Offizier drehten sich langsam um.

„Himmel!“ sagte Ben Brighton und verdrehte die Augen. „Er war doch wacher, als wir glaubten. Jetzt haben wir den Salat.“

Hasard grinste nur.

Der alte O’Flynn rappelte sich mühsam auf und brauchte eine Weile, bis er seine Krücken aufgeklaubt hatte. Trotz seines Holzbeins war er ein unverwüstlicher Haudegen, der selbst in den wildesten Seegefechten noch immer seinen Mann gestanden hatte. Daß er jetzt die Mühe auf sich nahm, seinen Platz auf dem Poopdeck zu verlassen und sich den Niedergang zum Quarterdeck hinunterzuquälen, lag einzig und allein an dem Stichwort „Terra Australis“. Es mußte ihm wie Sirenenklang ins Ohr gestochen haben.

 

Auf die Krücken gestützt, baute er sich vor den beiden breitschultrigen Männern auf, deren Oberkörper von der südlichen Sonne nahezu bronzefarben gebräunt waren. Während Ben Brightons Statur eher als untersetzt zu bezeichnen war, bestach Philip Hasard Killigrew durch mehr als sechs Fuß Größe und schwarzes Haar, zu dem seine klaren blauen Augen einen ungewöhnlichen Kontrast bildeten.

„Natürlich sind wir ahnungslose Engel“, sagte der Seewolf mit todernster Miene. „Das wollen wir gern zugeben, Old Donegal.“

Der alte O’Flynn überhörte die Anspielung. Er nickte zustimmend und stieß ein Brummen aus, das zufrieden klang.

„Im großen und ganzen seid ihr prächtige Burschen. Deshalb gehe ich auch mit euch mitten durch die Hölle, wenn es sein muß. Aber die richtige Erfahrung kriegt man erst in meinem Alter. Das werdet ihr später selbst erkennen, ihr könnt es mir glauben.“

„In Ordnung“, sagte Ben Brighton. „Das kaufen wir dir ab. Aber was ist Erfahrung gegen eine verläßliche Seekarte?“

Old O’Flynn stieß die rechte Krükke auf die Planken.

„Daß du es immer noch nicht begriffen hast! Man kann nicht nur an das glauben, was man schwarz auf weiß sieht. Es gibt verdammt viele Dinge auf dieser Welt, von denen ein armseliges Menschenhirn nicht die geringste Ahnung hat. Ich sage euch, dieses Land“, er streckte den rechten Arm zur Küste hin, wobei er die Krücke mit hochhob, „ist kein anderes als ‚Terra Australis‘.“

„Hattest du schon wieder ein Gespräch mit dem Wassermann?“ erkundigte sich Hasard lächelnd.

„Du brauchst mich nicht zu verspotten, Mister Killigrew, Sir. Ich habe schon viele angesehene Männer von ‚Terra Australis‘ reden hören, als du noch in die Windeln ge …“

„Mit so einer Ausdrucksweise?“ fiel ihm Ben Brighton ins Wort. „Das müssen Burschen gewesen sein, die ihr größtes Ansehen bei den Spelunkenwirten in der Karibik genossen.“

„Manchmal glaube ich, ihr habt zu wenig Phantasie für die Wunder der Welt“, sagte Old O’Flynn kopfschüttelnd. „Warum, zum Teufel, könnt ihr euch nicht vorstellen, daß wir schon seit Tagen den australischen Kontinent im Visier haben?“

„Jetzt ist es schon ein Kontinent“, seufzte Ben Brighton, verschränkte die Arme vor dem breiten Brustkasten und stieß die Atemluft hörbar aus.

„In ein paar Wochen oder Monaten werden wir Gewißheit haben“, sagte Hasard. „Schließlich können wir dann unsere Aufzeichnungen über den Küstenverlauf zusammenfassen. Und das ist mehr wert als die Geschichten angesehener Männer.“

„Ihr werdet euch noch wundern“, knurrte der alte O’Flynn beleidigt. „Wartet erst mal ab, bis wir an Land sind. Da werden euch die Augen übergehen.“

„Ganz bestimmt!“ rief Ben Brighton lachend. „Ich wette, die Menschen tragen ihren Kopf nicht auf dem Hals, sondern unter dem rechten Arm.“

Hasard mußte sich abwenden, um ernst zu bleiben.

Old O’Flynn wollte zu einer zornigen Gegenrede ansetzen. Doch diesmal war er es, der unterbrochen wurde.

„Deck!“ ertönte eine helle Stimme aus dem Großmars. „Steuerbord voraus – eine Bucht!“

Mit dieser Meldung riß Bill, der Ausguck, die Männer aus ihrer Lethargie. Es wurde lebendig an Deck. Endlich gab es die Abwechslung, auf die sie so verdammt lange gewartet hatten.

Hasard nahm den eigenen Kieker, trat ans Steuerbordschanzkleid und suchte den Küstenstreifen ab. Ben Brighton tat es ihm nach.

Die ausgedehnte Bucht, die der Moses von seinem luftigen Platz im Ausguck entdeckt hatte, war etwa eineinhalb Seemeilen entfernt. Am südlichen Ende der Bucht schob sich eine Landzunge weit ins Meer.

2.

Das Wasser war glasklar und ruhig. Geradezu sanft leckte der schwache Wellengang auf gelbweißen Strand, der wie mit einem riesigen Hobel geglättet zu sein schien.

Es gab ein vernehmliches Knirschen und dann einen Ruck, als der Kiel des Beibootes vom Sand gehemmt wurde. Ferris Tucker und Smoky zogen die Riemen ein. Hasard folgte ihnen mit einem federnden Satz ins knöchelhohe Uferwasser. Gemeinsam zogen sie das Boot höher an Land, wo sie für einen Atemzug verharrten.

Der Dschungel war so lebendig wie überall in den tropischen Breiten der Welt. Schrille Stimmen drangen aus der unergründlichen grünen Tiefe. Kekkernde Laute ähnlich denen, die der Schimpanse Arwenack ausstieß, gellende Schreie und keifendes Gelächter, das an menschliche Stimmorgane erinnerte.

Als die drei Männer weiter den schmalen Streifen Sandstrand hinaufgingen, stob ein Schwarm buntgefiedeter Vögel aus den Baumkronen auf. Während sie mit wirbelndem Flügelschlag landeinwärts flohen, stießen sie ein ohrenbetäubendes protestierendes Gezeter aus.

Ferris Tucker, der riesenhafte rothaarige Schiffszimmermann, blieb stehen und stemmte die Fäuste in die Hüften.

„Habt ihr das gesehen?“ rief er verwundert. „Diese Viecher sehen alle aus wie Sir John im Kleinformat.“

„Vielleicht wachsen sie noch!“ Smoky, der bullige Decksälteste, grinste unbeeindruckt.

Hasard runzelte die Stirn. Auch er hatte diese papageienähnlichen Kleinvögel noch nirgendwo auf der Welt beobachtet. Aber vielleicht wäre es für Naturforscher oder Wissenschaftler nichts Neues gewesen.

Daß sie eben einen Schwarm von Sittichen aufgescheucht hatten, konnte keiner der drei Männer wissen.

Bei näherem Hinsehen bemerkte Hasard, daß dieser Regenwald offenbar doch seine Besonderheiten hatte. Da gab es riesige Baumfarne, wie er sie in den tropischen Breiten der Neuen Welt noch nirgendwo gesehen hatte. Aber auch Vertrautes war vorhanden – Kokospalmen, Brotfruchtbäume und Mangroven mit ihren Stelzwurzeln. Auf der Landzunge herrschte dagegen eine gemäßigte Vegetation vor, überwiegend Kasuarinen von niedrigem Wuchs.

Feuchte, stickige Luft schlug den Männern aus dem Dschungel entgegen. Dorthin vorzudringen, hatte keinen Sinn.

Hasard deutete zum Südende der Bucht.

„Sehen wir uns da drüben um.“

Ferris Tucker und Smoky folgten dem Seewolf, der mit weit ausgreifenden Schritten voranging. Radschloßdrehling und Entermesser waren die einzigen Waffen, die Hasard bei sich trug. Ferris und Smoky waren mit einschüssigen Pistolen und Entermessern ausgerüstet.

Aus den Augenwinkeln heraus sahen sie die „Isabella“, die zwei Kabellängen vom Ende der Landzunge entfernt vor Anker lag. Mit aufgegeiten Segeln lag die schlanke Galeone ruhig wie ein Klotz im schwachen Wellengang.

Wie eine Pier, von einer Laune der Natur angelegt, ragte die Landzunge mehr als hundert Yards weit schnurgerade in das kristallklare Wasser hinaus. Der Boden der kleinen Halbinsel war nur leicht gewölbt und mit knapp hüfthohen Kasuarinen überwuchert. Begleitet von der lärmenden Geräuschkulisse des Regenwaldes, drang Hasard als erster in das dichte Gestrüpp vor.

Dann, als er den höchsten Punkt der Landzunge erreichte, prallte er unwillkürlich zurück.

Ferris Tucker und Smoky, die sich hinter ihm raschelnd ihren Weg bahnten, verharrten gleichfalls.

„Das ist doch nicht zu …“ stieß der Schiffszimmermann hervor und unterbrach sich vor Überraschung selbst.

Eine Flußmündung teilte den Regenwald auf der nördlichen Seite der Landzunge. Aber das allein wäre noch kein Grund zur Verblüffung gewesen.

Nahe dem jenseitigen Ufer der Mündung, etwa eineinhalb Kabellängen entfernt, lag ein zweimastiges Schiff vor Anker. Es war kleiner als die „Isabella“ und von gedrungener Bauweise. Hasard schätzte es auf etwa einhundert Tonnen. Der Konstruktion nach handelte es sich um eine jener Karacken, wie sie im Mittelmeerraum üblich waren.

Sanft dümpelte der Zweimaster im Brackwasser. Der Namenszug am Bug war verwittert und auf die Entfernung nicht zu entziffern.

Keine Menschenseele rührte sich an Deck.

„Scheint so, als ob wir nicht die ersten Europäer im unbekannten gelobten Land sind“, murmelte Smoky.

Hasard wandte sich halb um.

„Das wird sich noch herausstellen. Ihr beide nehmt das Beiboot und pullt zurück zur ‚Isabella‘. Ben soll zwölf Mann einteilen und mit der großen Jolle in die Flußmündung schicken. Ich werde mich ein wenig umsehen und erwarte euch da drüben am Ufer.“

„Allein?“ fragte Ferris Tucker stirnrunzelnd.

Der Seewolf nickte.

„Von den Menschenfressern habe ich noch keine Spur entdeckt. Beeilt euch. Ich will wissen, was es mit diesem Zweimaster auf sich hat.“

„Waffen?“ erkundigte sich Smoky knapp.

„Musketen und Pistolen“, entschied Hasard. „Und genügend Pulver und Blei.“

„Aye, aye, Sir.“ Die beiden Männer wandten sich ab und liefen im Trab zurück zum Beiboot.

Hasard setzte seinen Weg durch das hüfthohe Gestrüpp fort. Die Landzunge war schmal und maß kaum mehr als zwanzig Yards. An der Flußmündung gab es keinen weißen Strand wie in der Bucht. Hier war der Uferstreifen, der das grüne Dickicht vom Wasser trennte, grau und morastig. Rinnsale durchzogen den Boden wie dunkle Adern. Vorsichtig setzte Hasard einen Fuß vor den anderen. Bei jedem Schritt sank er mit den Stulpenstiefeln bis zu den Knöcheln ein.

Unablässig spähte er zu der Karakke hinüber. Der Name des Schiffes begann mit einem „S“, soviel konnte er jetzt schon feststellen. Aber noch immer bewegte sich an Bord nichts. Kein menschlicher Laut war zu hören, der sich vom Lärm des Dschungels abgehoben hätte.

Eine plötzliche Bewegung entstand vor Hasards Füßen.

Der Seewolf stoppte seine Schritte und blickte in eins dieser fußbreiten Rinnsale, in dem etwas lebendig geworden war. Im nächsten Moment hatte er das Gefühl, seinen Augen nicht trauen zu können.

Das Tier, das er da offenbar aus seiner Ruhe aufgescheucht hatte, war eigentlich ein Witz. Er blinzelte verblüfft und wollte sich bücken, um zuzupakken. Aber es bewegte sich viel zu rasch, halb watschelnd, halb schwimmend. Der Körper des Tieres, etwa zwanzig Zoll lang, war dicklich und fast plump, das Fell ähnelte dem eines Seehundes. Das Erstaunliche war aber, daß dieses Tier den Schnabel und auch die Schwimmfüße einer Ente hatte – vier Entenfüße und einen Entenschnabel.

Hasard schüttelte ungläubig den Kopf. Er hatte nicht schnell genug reagiert, um das komische Etwas zu fangen. Jetzt verschwand es mit eiligen Watschelbewegungen im Dikkicht.

Ungewollt mußte der Seewolf an die Worte des alten O’Flynn denken. Die Welt war voller Wunder, und immer wieder gab es Entdeckungen, die alte Schulweisheiten einfach auf den Kopf stellten.

Hasards Aufmerksamkeit wurde abgelenkt, als unvermittelt Riemenschläge zu hören waren. Er blickte zum Ende der Landzunge und erkannte die Jolle der „Isabella“. Die Männer pullten mit kraftvollen Schlägen, und das Boot lief zügige Fahrt. Über dem Buschbewuchs der Landzunge waren weiter entfernt die Masten der Galeone zu erkennen.

Die Jolle nahte rasch heran. Schon von weitem sah Hasard, welche Männer aus der Crew Ben Brighton ausgewählt hatte.

Auf der Achterducht saß Edwin Carberry und hielt die Ruderpinne. Der Profos reckte sein mächtiges Rammkinn vor und spähte abwechselnd zu dem am Ufer wartenden Seewolf und zu dem fremden Zweimaster.

Die Riemen bedienten neben Ferris Tucker und Smoky der junge O’Flynn, Blacky, Gary Andrews, Matt Davies, Jeff Bowie, Sam Roskill, Bob Grey, Luke Morgan und Stenmark.

Hasard watete ins seichte Uferwasser und schwang sich an Bord, noch bevor der Kiel des Bootes Grundberührung hatte. Geschickt manövrierten die Männer die Jolle sofort wieder in Richtung Flußmitte. Hasard blieb aufrecht im Bugraum stehen, während sie auf die Karacke zuglitten.

„Komische Sache, was, wie?“ rief Ed Carberry von der Achterducht her. „Scheint so, als ob es da nicht eine einzige lausige Kakerlake an Bord gibt!“ Seine Reibeisenstimme dröhnte laut über die ruhige Wasserfläche und übertönte sogar den Lärm aus dem Regenwald.

„Weck die Kakerlaken mit deinem Gebrüll nicht auf“, empfahl Ferris Tucker grinsend. „Unnötigen Ärger brauchen wir wirklich nicht.“

„Wer hat denn hier gebrüllt, du Holzwurm?“ schnaubte Carberry. „Wenn ich mal ’ne sachte Bemerkung von mir gebe, ist das noch lange kein Grund, sich gleich in die Hosen zu machen. So was ist mir noch nicht passiert, daß ein erwachsener Mann das Flattern kriegt, wenn er nur einen verrotteten wurmstichigen Kahn sieht.“

Ferris Tucker wollte aufbrausen.

 

„Ruhe!“ mahnte Hasard. „Heb dir deine Kommentare für später auf, Mister Carberry.“

Der Profos schluckte, und Ferris Tucker quittierte es mit einem grimmigen Nicken.

Hasard konnte mittlerweile den Namenszug am Bug des Zweimasters entziffern.

„Speranza“, „Hoffnung“, stand dort in hölzernen Lettern, die von Wind und Seewasser sichtlich angegriffen waren. Dem Namen nach mochte es sich um ein italienisches Schiff handeln, doch es gab kein Nationalitätszeichen, das diese Vermutung untermauerte. Im übrigen war noch immer kein Lebenszeichen zu erkennen. Wenn sich wirklich eine Menschenseele an Bord aufhielt, dann konnte das Herannahen der Jolle mittlerweile nicht mehr unbemerkt geblieben sein.

Auf ein Kommando des Seewolfs holten die Männer die Riemen ein. Langsam glitt das große Beiboot der „Isabella“ auf die Steuerbordseite der Karakke zu. Eine wenig vertrauenerweckende Jakobsleiter hing von der offenen Pforte im Schanzkleid nach unten.

Hasard prüfte die Festigkeit der Hanfwindungen, ehe er aufzuentern begann. In Höhe des Schanzkleides gab er den Männern einen Wink. Nacheinander folgten sie ihm, wobei jeweils nur einer die Jakobsleiter benutzte. Edwin Carberry vertäute die Jolle.

Die Decksplanken waren glitschig, von einem dünnen moosähnlichen Belag überzogen. Es war anzunehmen, daß das Schiff bereits seit Wochen hier vor Anker lag.

Der Seewolf und seine Männer sahen sich um. Zeichen eines Kampfes gab es nicht, keinerlei Spuren einer Auseinandersetzung. Oder doch?

Hasards Blick fiel auf das offene Kombüsenschott, das halb aus seiner Verankerung gerissen war.

„Ferris, Smoky!“ sagte er und ging voraus. Die beiden Männer folgten ihm.

Hasard stieg als erster in das Halbdunkel der Kombüse. Fauliger Geruch schlug ihnen entgegen. Der Brechreiz, der augenblicklich in ihnen aufstieg, konnte nicht nur von verdorbenen Lebensmitteln herrühren.

Hasard tastete sich nach rechts voran, an irgendwelchen Schapps entlang, deren Holz sich fettig-glitschig anfühlte.

Unvermittelt stieß er mit der rechten Fußspitze gegen etwas Weiches. Er verharrte und blickte zu Boden.

Nur quälend langsam gewöhnten sich seine Augen an das Halbdunkel, das dort unten noch intensiver war.

Im nächsten Augenblick verstärkte sich der Brechreiz bis zur Unerträglichkeit. Doch gleichzeitig drückte ihm eine unsichtbare Faust die Kehle zu.

Es war ein menschlicher Körper, der dort am Boden lag, bestialisch zugerichtet.

Ferris Tuckers Stimme meldete sich in jähem Entsetzen aus der anderen Ecke der Kombüse.

„Um Himmels willen!“ Die Worte des hünenhaften Schiffszimmermanns gingen in einen gurgelnden Laut über.

Hasard drehte sich um und erfaßte jetzt die düstere Szenerie in ihrer ganzen grausigen Deutlichkeit.

Smoky stand im Licht, das durch das offene Schott hereinflutete, würgte und hielt sich die Hand vor den Mund.

Vier Menschen waren in diesem engen Raum auf furchtbare Weise gestorben. Ihr Tod war entwürdigend gewesen, ihre Mörder so unvorstellbar bestialisch, daß es selbst den Seewolf an den Rand der Fassungslosigkeit brachte.

„Denkt, was ihr wollt“, sagte Smoky mit erstickter Stimme, „ich muß hier raus. Nichts wie raus!“

Ferris Tucker und Hasard folgten dem Decksältesten. Ihnen ging es nicht viel besser als Smoky. Das freie Atmen an Deck tat ihnen wohl, auch wenn die Luft tropisch feucht und stickig war.

„Hol’s der Teufel!“ polterte Edwin Carberry. „Ich fresse meine eigenen Schuhe, wenn ihr nicht alle drei regelrecht grün im Gesicht seid.“

„Kein Wunder“, sagte Smoky und hielt sich den Magen. „Geht mal selbst da rein.“ Er deutete mit dem Daumen über die Schulter.

Hasard winkte ab. Er schilderte den Männern, was sie in der Kombüse entdeckt hatten. Mit geweiteten Augen starrten sie ihn an.

„Wie es aussieht, handelt es sich um den Koch, den Schiffsjungen und zwei weitere Männer“, erklärte Hasard. „Sie müssen überrascht worden sein, deshalb konnten sie wahrscheinlich keine Gegenwehr mehr leisten. Die Mörder waren Kannibalen. Menschenfresser.“

„Menschenfresser?“ entgegnete Gary Andrews verblüfft. „Wieso konntet ihr dann noch vier Tote finden? Menschenfresser würden doch nichts übriglassen, oder?“

„Mann, o Mann!“ brüllte Smoky in einem jähen Wutausbruch, mit dem er seinem Entsetzen Luft machte. „Vielleicht hast du schon mal von diesen Asiaten gehört, die nur die Innereien von ihren Hunden fressen. So! Und wenn du das Ganze auf die freundlichen Kannibalen in diesem freundlichen Land überträgst, dann weißt du, was sich da drinnen abgespielt hat!“ Smoky atmete schwer.

Betretenes Schweigen breitete sich aus. Gary Andrews senkte verlegen den Kopf.

„Wir müssen diesen armen Kerlen zur letzten Ruhe verhelfen“, sagte Hasard nach einer Weile. „Wer übernimmt das freiwillig?“

Edwin Carberry meldete sich zu Wort.

„Jeder von uns packt mit an. Das ist unsere Pflicht. Oder ist jemand anderer Meinung?“

Niemand widersprach.

„Also gut“, entschied der Profos. „Wir bringen die armen Teufel an Land und begraben sie dort. Ein Seemannsgrab können wir ihnen nicht bieten. Dazu sind die Küstengewässer zu flach.“

Der Seewolf packte mit an, als sie die furchtbar zugerichteten Leichen aus der Kombüse holten. Dann, während seine Männer die Toten in Segeltuch rollten und in die Jolle abfierten, untersuchte er die Achterdecksräume.

Seine Vermutung, daß sich außer den vier Männern in der Kombüse niemand an Bord aufgehalten hatte, bestätigte sich. Den Aufschluß, den er erhofft hatte, fand er in der Kapitänskammer.

So wertvoll das in Schweinsleder gebundene Logbuch war, so flüchtig und unvollständig waren die Eintragungen. Der Kapitän der „Seranza“ schien kein besonderes Interesse an Genauigkeit zu haben. Eine Entdekkernatur war er ganz gewiß nicht, denn es fand sich keinerlei Beschreibung von den Küsten dieses unbekannten Landes.

Doch in sorgfältiger Handschrift war immerhin vermerkt, daß die Karacke vor nunmehr dreizehn Monaten ihren Heimathafen Genua verlassen hatte. Angaben über Kurs und Bestimmungshafen waren bei Reisebeginn nicht eingetragen worden. Kapitän und Eigner der „Speranza“ war ein Genueser namens Nando Marchi, von dem auch die Eintragungen im Logbuch stammten.

Zwanzig Mann hatten zu Beginn der Reise unter seinem Kommando gestanden. Zwei Monate später, bei der Umsegelung des afrikanischen Kontinents, war einer der Mittschiffsleute an einer verschleppten fieberhaften Krankheit gestorben. Der Tote war der See übergeben worden, und Kapitän Marchi hatte die entsprechende Notiz im Logbuch mit der Befürchtung abgeschlossen, daß an Bord eine Seuche ausbrechen könne.

Nichts dergleichen war aber offenbar geschehen. Während die „Speranza“ den Gewässern des Indischen Ozeans entgegengesegelt war, hatte Marchi bei seinen Logbuch-Eintragungen immer mehr Sorglosigkeit walten lassen. Die Angaben über den jeweiligen Kurs waren lückenhaft. Die Namen der Häfen, die die Karakke in Afrika und auf dem indischen Subkontinent angelaufen hatten, waren dem Seewolf völlig unbekannt. Hatte Kapitän Marchi mit Absicht die größeren Hafenstädte gemieden? Es sah fast so aus.

Denn eins fehlte im Logbuch völlig: jedwede Angaben über die Ladung. Ein Kauffahrer war diese „Speranza“ also gewiß nicht, weil Handelsleute und die von ihnen beauftragten Kapitäne stets äußerste Genauigkeit an den Tag legten. Ein Pirat also? Auch diese Möglichkeit schied aus, denn mit ihren insgesamt acht Culverinen an Backbord und Steuerbord war die „Speranza“ lächerlich schwach armiert. – verglichen mit den meist hervorragend ausgerüsteten Hasardeuren der See.

Zu welchem genauen Zeitpunkt der Zweimaster das unbekannte Land erreicht hatte, ließ sich ebenfalls nicht feststellen. Nur soviel: Kapitän Nando Marchi hatte vor zweieinhalb Wochen in dieser Flußmündung ankern lassen, ein Beiboot ausgesetzt und war mit fünfzehn Mann aus seiner Crew flußaufwärts vorgedrungen. Insofern stimmte es also, daß sich außer den vier Männern in der Kombüse keine weiteren an Bord aufgehalten hatten.

Hasard schlug das Logbuch zu und legte es zurück auf das Pult. Die Luft in der engen Kapitänskammer war zum Schneiden dick. Auf dem Tisch standen eine leere Flasche und zwei Weingläser, die mit einer Staubschicht überzogen waren. Im Schapp neben dem Pult fand der Seewolf einen ganzen Vorrat an Rotwein. Hatte Marchi häufiger zu diesem Vorrat gegriffen als zu Federkiel und Tintenfaß?

Hasard verließ die Kapitänskammer. Seine Männer hatten am diesseitigen Ufer eine kleine Waldlichtung gefunden, wo sie die Toten begruben.

Бесплатный фрагмент закончился. Хотите читать дальше?
Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»