Heimkehr

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Kapitel drei

Danielle wusste, dass sie ein schlechtes Leben geführt hatte – ein Leben, welches durch ihren schlechten Geschmack in Männern, ihren Drang zu übermäßigem Genuss von Drogen und Alkohol und ihre Abneigung zu jeglicher Art von Autorität geprägt war. Sie wusste es und stand dazu. Dazu zustehen war, das wusste sie, ein wichtiger Teil des Bewältigungsprozesses. Aber ein positiver Faktor dieser schrecklichen Vergangenheit war, dass sie sie beweglich gehalten hatte – von Wohnort zu Wohnort, Bundesstaat zu Bundesstaat.

Von siebzehn bis fünfundzwanzig hatte sie in neun verschiedenen Städten in fünf verschiedenen Staaten gelebt. So kam es, dass sie Millseed in Texas kannte.

Millseed war ein Scheißort. Als sie vor vier Jahren hier gewohnt hatte, war die winzige Stadt schon am Ende gewesen. Die weniger als vierhundert Einwohner waren kaum genug, den Supermarkt und den Gemischtwarenladen zu unterhalten. Sie lagen in der Stadtmitte wie zwei zerquetschte Fliegen auf einer staubigen Windschutzscheibe.

Es gab nicht einmal ein echtes Wohngebiet in dieser Stadt. Häuser waren hier und dort entlang der unmarkierten zweispurigen Straßen platziert und kurz vor der Stadtgrenze, die eine bessere Welt versprach, lagen zwei Trailer-Parks. Danielle hatte in einem dieser Parks sieben sehr schwierige Monate lang gewohnt. Meth hatte den Park erobert und sie wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, gerade dieser Droge zu widerstehen. Der Mann, mit dem sie zu der Zeit gelebt hatte, war abhängig und saß derzeit eine Haftstrafe wegen mehrfachen Drogenhandels ab.

Aber als sie vor etwas weniger als zwei Tagen in Millseed angekommen war, war sie direkt an dem Trailer-Park vorbeigefahren. Sie war tatsächlich überrascht, dass der Park noch nicht zusammengefallen war. Sie war ungefähr eine halbe Meile weiter gefahren zu einem Gebäude, welches, so hatte sie gehört, mal ein Schlachthaus gewesen war. Es war ein unauffälliges Gebäude, das sich hinter einem leeren, von Unkraut, Ranken und stacheligen Büschen bedeckten Gelände versteckte. Das Gebäude sah noch schlimmer aus, als sie es in Erinnerung hatte. Das schmucklose und schmutzige Aussehen sprach von ruchlosen Geschehen in der Vergangenheit. Nach der Schlachtung von zahllosen Schweinen, war es zur Herstellung von Meth und zweitklassigem Ecstasy genutzt worden. Sie wusste dies, wegen der Gesellschaft, die sie früher gepflegt hatte. Die gleiche lahmarschige Gruppe, die sie nach Millseed geführt hatte.

Aber jetzt fragte sich Danielle, ob sie aus einem anderen Grund nach Millseed geleitet worden war – vielleicht war es göttliche Fügung. Sie hasste die Tatsache, dass dieser Ort der erste gewesen war, der ihr eingefallen war als sie die Idee gehabt hatte. Aber er war perfekt.

Während sie vor dem Schlachthaus stand und das überwachsene Feld betrachtete, dachte sie darüber nach, dass das Leben manchmal wie ein Kreis erschien, der sie zu einem Ort zurückgebracht hatte, dem sie nur knapp entkommen war. Sie rauchte eine Zigarette, etwas, dass sie nicht mehr getan hatte, seit sie dieser traurigen Stadt entkommen war, und dachte über den nächsten Schritt nach.

Sie hatte ihren Vater hierhergebracht, um ihn umzubringen und jetzt hatte sie den Punkt, von dem es kein Zurück mehr gab, erreicht. Ein sehr großer Teil von ihr wollte Chloe anrufen und ihr alles erzählen. Zumindest wollte sie ihre Schwester wissen lassen, dass sie in Sicherheit war. Sie fand, dass sie Chloe zumindest das schuldig war.

Außerdem…was sie getan hatte, hatte Auswirkungen auf sie beide. Danielle nahm an, dass sie den Folgen ihrer Tat nie entkommen würde…. dass sie die Konsequenzen für den Rest ihres Lebens tragen würde. Für Chloe würde es etwas Anderes sein. Sie würde das Trauma, zu versuchen, die Tat ihrer Schwester verstehen zu können, ihr Leben lang mit sich herumtragen.

Danielle gefiel es nicht, dass sie Chloe vermisste. Sie hatte fast zehn Jahre sehr gut ohne ihre Schwester gelebt. Nur… sehr gut war eine echte Übertreibung. Sie hatte während dieser Jahre überlebt – mehr nicht.

Sie nahm einen letzten Zug von ihrer Zigarette, ließ sie fallen und trat sie aus. Sie hasste den Geschmack, aber die gewohnte Handlung schien irgendwie passend. Sie hatte eine halbe Packung verpafft während des letzten Tages und es hatte geholfen, sie zu beruhigen. Sie war jedoch immer mehr davon überzeugt, dass sie nach Abschluss dieser Affäre nie mehr ganz zu der Angewohnheit zurückkehren würde.

Es war, als beträte sie eine andere Welt, als sie zurück ins Schlachthaus trat. Vielleicht eine dieser postapokalyptischen Welten, die im Fernsehen so populär waren. Irgendwann war das Büro-Ende des Gebäudes abgerissen und in Stücken abtransportiert worden. Man konnte noch kleinere Beton- und Metallstücke am Ende des Feldes entdecken, welche fast schon von der dichten und unnachgiebigen Vegetation eingenommen worden waren. Nur das große Rechteck aus Beton, welches die Schlachtungen beherbergt hatte, war zurückgeblieben. Der Boden war voller Flecke, die alle in Richtung der eingelassenen rostigen Metallgitter verliefen. Selbst mit ihrer derzeitigen Laune konnte Danielle sich nicht vorstellen, was alles durch diese Gitter gelaufen war.

Sie überquerte, was sie den „Boden des Todes“ nannte in Richtung eines der zwei großen Räume am hinteren Ende des Gebäudes. Sie waren nur durch eine halbe Wand vom Boden des Todes getrennt, zwei separate Räume mit direktem Zugang.

In einem Raum hing Aiden Fine an seinen Armen an einem Seil, das mit einer Metallschiene in der Decke verbunden war. Danielle vermutete, dass die Schiene und Seile früher dazu gedient hatten, angebundene Schweine langsam ihrem Tod zuzuführen. Aber derzeit hielten sie ihren Vater fest. Die Arme wurden durch das Seil, welches um seine Gelenke gebunden war, fast perfekt senkrecht gehalten.

„Danielle“ sagte er. „Bitte…denk nach. Du musst dies nicht tun.“ Seine Stimme klang verstört und trocken. Wenigstens weinte er nicht mehr. Gott, sie hatte es gehasst, als er bei der Überquerung der Grenze zu Texas geweint hatte. Selbst die laute Musik hatte sein Weinen im Kofferraum nicht ausblenden können.

„Das wieder?“ fragte sie. Sie saß auf einem niedrigen Haufen hölzerner Paletten, die in die Ecke geworfen worden waren. Sie sah ihren Vater an, sie verstand, dass sie ihm dies angetan hatte und fragte sich, was für eine Art Monster aus ihr geworden war.

„Danielle, ich…“

„Was?“

„Es tut mir leid“

Sie trat auf ihn zu und sah ihm in die Augen. Die Art, mit der seine Arme nach oben gezogen waren fügte ihm Schmerzen zu und er war offensichtlich müde. Seine Füße standen fest auf dem Boden aber der Winkel, in den seine Arme gezwungen waren, tat ihm sicher mehr als nur ein wenig weh.

„Was tut Dir leid?“ fragte Danielle.

Er schien einen Moment darüber nachzudenken. Sie fragte sich, ob er tatsächlich darüber nachdachte, alle seine Verbrechen zuzugeben. Aber am Ende schwieg er. Danielle nickte, die Stirn in Falten gezogen, und ging zu einer kleinen Plastiktüte, die sie an der Seite des Raumes aufbewahrte. Die Tüte beinhaltete Plastikflaschen mit Wasser und Kräcker. Sie öffnete eine der Wasserflaschen und ging zu ihm zurück.

„Aufmachen“, befahl sie.

Er kniff die Augen zusammen und für einen kurzen Augenblick glaubte sie, Wut in ihnen zu erkennen. Aber schnell veränderte sich der Ausdruck in eine Art unterschwelligen Mitleids, als er den Mund für das erste Wasser in über vierundzwanzig Stunden öffnete.

Sie goss die Flüssigkeit langsam in seinen Mund und er trank gierig. Sie hörte nicht auf zu gießen bis er anfing, zu husten. Als sie fertig war schraubte sie den Verschluss auf die Flasche und ging zurück zu den Paletten.

„Was willst Du?“ fragte Aiden. „Ich weiß nicht, was Du glaubst, dass ich getan habe, aber…„. „Lass uns nicht herumspielen, Dad. Es war nur eine Frage der Zeit. Ich weiß, es bricht Dir das Herz, dass ich nicht mehr das acht Jahre alte Mädchen bin, das Du schikanieren und herumschubsen kannst. Es muss Dich treffen, dass Du nicht mehr auf mich herunterblicken kannst. Gott… was hätte ich dafür gegeben, wenn ich Dir dies damals hätte antun können…“. „Es geht um Deine Mutter?“ Er hörte sich fast überrascht an und das verärgerte Danielle noch mehr.

„Teilweise. Zum größten Teil. Wir wissen es, Dad. Wir haben das Tagebuch gesehen.“

„Welches Tagebuch?“

Danielle stand langsam von ihrem Sitz auf den Paletten auf, ging auf ihn zu und schlug ihn hart ins Gesicht. Sein Körper schwang ein wenig, das Seil und die Schiene knarrten.

„Versuch es nochmal,“ sagte sie.

Aiden Fine sah sich erschrocken in dem leeren Raum um und versuchte offensichtlich, sich irgendeinen Quatsch auszudenken, der sie glücklich machen würde. „Lass es“ sagte sie. „Ich will die Wahrheit. Wir haben das Tagebuch und wir haben es gelesen. Wir wissen es, Dad. Wir wissen alles.“

Sie sah zu, wie seine Augen versuchten, sich auf sie einzustellen. Sie sah zu, wie er sich durch einen Strudel von Emotionen arbeitete – von Verärgerung über Angst zu Ablehnung. Am Ende wählte er Hilflosigkeit.

„Bitte, Danielle, denk darüber nach.“

„Habe ich,“ sagte sie und drehte ihm den Rücken zu. „Vielleicht etwas zu viel.“

Sie ging zu der Plastiktüte zurück und fischte zwei weitere Gegenstände heraus: Ein unbenutztes Tuch und das Tagebuch ihrer Mutter. Sie legte das Tagebuch auf die Paletten und brachte das Tuch zu ihrem Vater. Langsam presste sie es gegen seinen Mund und drückte hart. Als genug Spannung erreicht war, knotete sie die beiden Enden hinter seinem Kopf zusammen, jetzt hatte sie einen einfachen, aber effektiven Knebel.

Sie ging zurück zu den Paletten, setzte sich und öffnete das Tagebuch. „Welche Teile möchtest Du zuerst hören?“ fragte sie. „Die Teile, in denen Mum ziemlich sicher war, dass Du es in ihrem Bett mit einer anderen Frau triebst – Rughanne Carwile, solltest Du es vergessen haben – oder die, wo sie ehrlich davor Angst hatte, dass Du sie umbringen würdest?“

 

Sie genoss die klagenden Töne, die ihr Vater durch den Knebel machte. Sie brachten sie dazu zu denken, dass ihr Plan funktionieren könnte. Sie hatte ihr Telefon irgendwo im ländlichen Virginia aus dem Fenster geworfen. Ihr Auto war hinter dem alten Schlachthaus im Gestrüpp auf dem Platz, der wohl früher der Wendeplatz für Lieferwagen gewesen war, geparkt.

Sie war im Grunde derzeit unsichtbar. Sie hatte einen Kassettenrekorder, um sein Geständnis aufzunehmen und eine Pistole, um ihm eine Kugel zwischen die Augen zu jagen. Sie glaubte nicht, dass er ihr einfach ein Geständnis ablegen würde, und das war okay. Sie hatte nichts dagegen, ihn schwitzen zu lassen. Die einzige Frage war, wie lange sie Geduld beweisen würde.

Sie fing an, zu lesen. Sie las schelmisch, als ob sie einem Kleinkind eine Gute-Nacht-Geschichte vorlas. Sie beobachtete ihn, wollte sehen, ob die Worte ihn trafen. Ja, sie wollte ihm weh tun, sie war bereit, das zuzugeben. Sie fragte sich, ob sie sich zu weit aus dem Fenster gelehnt hatte – ob sie sich letztendlich so weit von der Logik entfernt hatte, dass es kein Zurück geben würde.

Kapitel vier

Rhodes war schon da als Chloe in Johnsons Büro ankam. Sie schien sich gerade gesetzt zu haben und war noch dabei, sich in einem der ungemütlichen Sesseln auf der Besucherseite von Johnsons Schreibtisch einzurichten. Sie schoss Chloe einen eher aufgeregten Blick zu, der Chloe half, sich in die Situation einzufinden. Sie musste sich selbst daran erinnern, dass sie hocherfreut gewesen wäre, zu so einem augenscheinlich wichtigen Fall gerufen zu werden, hätte sie nicht mit ihrem eigenen persönlichen Drama zu kämpfen.

Chloe setzte sich in den Sessel neben Rhodes. Johnson, auf der anderen Seite des Schreibtisches, nickte ihr zu, während er die letzten Wörter in sein MacBook tippte. Er ließ seine Schultern übertrieben fallen und seufzte als er sich in seinem Stuhl zurücklehnte und sie ansah.

„Danke an Sie beide, dass Sie so schnell und kurzfristig gekommen sind. Wir haben einen Fall vorliegen, von dem ich glaube, dass er Ihnen beiden gut liegen könnte. Wir haben zwei ermordete Männer innerhalb von vier Tagen, beide in den Vororten von Baltimore. Es waren beide Männer mittleren Alters, beide verheiratet. Bis jetzt hat die Polizei keine Ideen. Es landete auf meinem Tisch und da habe ich sofort an Sie beide gedacht.“

Chloe sah Rhodes an. Der Ausdruck auf ihrem Gesicht erinnerte Chloe an einen Rodeo Bullen, der ans Gitter gedrückt auf den Moment wartete, in dem es sich öffnete damit er lostoben konnte. Dies machte die Formulierung dessen, das sie im Begriff war, in Worte zu fassen, noch schwieriger. „Es tut mir leid, aber ich kann im Moment keinen Fall annehmen.“ Es tat weh, es zu sagen. Die Worte fühlten sich an wie Stacheldraht, der aus ihrer Kehle kam.

Johnson grinste, aber es war kein amüsiertes Grinsen. „Wie bitte?“

„Ich habe versucht, es nicht zum Problem werden zu lassen aber meine Schwester wird vermisst. Es sind nun fast achtundvierzig Stunden. Mein Vater wird auch vermisst.“

Johnson zwinkerte mehrmals als würde er versuchen, seinen Kopf klar zu bekommen. Man konnte ihm ansehen, dass er versuchte zu begreifen, was ihre persönlichen Probleme mit dem Fall zu tun hatten. Direktor Johnson war ein ehrenhafter Mann, der sie immer gut behandelt hatte, aber er war auch die Art von Mann, die davon überzeugt war, dass die Arbeit immer und vor Allem Vorrang hatte.

Nach einem Augenblick nickte er. „Ich weiß. Ein Freund hat mich angerufen. Ein gewisser Kommissar, mit dem Sie, glaube ich, gerade gesprochen haben. Er rief mich an, um mich auf dem Laufenden zu halten – nicht, weil Sie betroffen sind, sondern weil es allgemeine Zuvorkommenheit ist, die er mir manchmal zuteilwerden lässt, wenn er mit Fällen zu tun hat, die Verbindungen zum FBI haben könnten. Also ja… ich weiß von Ihrer Schwester, Ihrem Vater und dem kleinen bisschen Beweismaterial vor Ort. “

Chloe war am Boden zerstört als sie das hörte. So viel zur Käfighaltung meiner persönlichen Dämonen, dachte sie.

„Dann verstehen Sie also“ sagte Chloe.

Johnson rutschte scheinbar unbequem in seinem Sessel hin und her. „Was ich verstehe ist, dass Sie ein persönliches Interesse an dem Fall haben und deshalb überschnell urteilen. Dem Kommissar zufolge gab es offensichtlich eine Art Auseinandersetzung in dem Haus, aber die Sachlage für Entführung – und er glaubt, dass Sie dies anpeilen – ist höchstens spärlich.“

„Sir, Sie würden sicherlich anders denken, wenn Sie die Geschichte kennen würden und…“

„Aber ich kenne sie nicht. Und deshalb vertraue ich Graves und der Polizei. Sollte sich herausstellen, dass sie etwas anderes im Spiel vermuten, lassen sie es mich wissen. Wir können den Fall nicht anders behandeln als andere Polizeifälle, Fine.“

Chloe fühlte Wut in sich aufsteigen, aber gleichzeitig meldete sich ein klügerer Teil in ihr und ergriff das Wort. Sie verstand, was Johnson vorhatte und irgendwie war sie ihm sogar fast dankbar. Er versuchte, sie zu beschäftigen. Er versuchte, sie mit Arbeit abzulenken, während die Polizei versuchte, das Verschwinden ihrer Schwester und ihres Vaters aufzuklären. Die Tatsache, dass es tatsächlich ein Fall zu sein schien, der ihr und Rhodes bestens liegen würde, machte die Sache nur noch besser.

„Fine…Sie müssen den Polizisten erlauben, ihren Job zu machen“, sagte Johnson. „Und während die Polizisten ihr Bestes tun, müssen Sie sich auf das Ihre konzentrieren. Dazu kommt, dass ich Ihnen unter keinen Umständen erlauben kann, sich in einen Fall zu mischen, der nicht in den Zuständigkeitsbereich des FBI fällt. Selbst wenn ich die Gelassenheit aufbringen könnte, Ihnen zu erlauben, nach ihrer Schwester zu suchen. “

„Aber ich könnte helfen.“

„Ich bin sicher, dass Sie das könnten. Und sollte die Sache in den Händen des FBI landen, werde ich Sie vielleicht sogar als Leiter einsetzen.“

„Aber, Sir…“

„Ich hasse es, in diesem Fall ein Arsch sein zu müssen, Fine, aber bitte erinnern Sie sich, wer sie sind. Sie haben einen Job und ich erwarte, dass Sie ihn erfüllen. Sollten Sie Urlaub nehmen wollen, alles klar. Ich werde ihn bewilligen. Aber sollte ich herausfinden, dass Sie im Fall um ihre Schwester mitmischen… “

Er hielt inne, um ihr die Chance zu geben, den Satz in ihrem Kopf selber zu beenden. Sie wusste, dass er Recht hatte, aber es ärgerte sie, dass er so leichtfertig mit der Tatsache, dass die Schwester eines Agenten vermisst wurde, umging.

„Sie haben zwei Möglichkeiten, Fine. Entweder, Sie nehmen frei, sitzen herum und warten darauf, dass die Polizei Antworten findet, oder Sie fahren mit Rhodes nach Baltimore und finden für uns einen Mörder.“

Chloe fühlte sich in die Enge getrieben. Sie wusste, dass sie sich mit dem Verschwinden ihrer Schwester beschäftigen würde, hätte sie die Zeit. Und bis es eine FBI Angelegenheit war – sollte es jemals eine werden – könnte sie viel Ärger kriegen, wenn sie sich in einen Nicht-FBI Fall einmischte.

Oder Sie konnte sich mit Arbeit ablenken. Die Entscheidung war klar, obwohl ihr Herz vor Trotz zu erstarren schien. „Ich will den Fall“, sagte sie.

„Gut“ sagte Johnson. „Sie tun mir ehrlich leid. Aber ich bekäme genauso viel Ärger wie Sie, sollten Sie sich in den Fall einmischen.“

„Ich weiß, Sir.“

Er nickte und zögerte einen Moment als ob er sicherstellen wollte, dass sie keine weiteren Kommentare zu der Sache machen wollte. Chloe sah zu Rhodes hinüber und bemerkte, dass ihrer Partnerin während des Austauschs recht unwohl geworden war. Sie sah aus wie ein Kind, das vom Sofa aus abwartete, ob ein kleiner Streit zwischen Mutter und Vater in einen riesen Kampf ausarten würde.

„Wie ich sagte“, sagte Johnson “zwei tote Männer innerhalb von vier Tagen. Beide verheiratet. Keine Hinweise, keine Anhaltspunkte… außer, dass sie beide in der gleichen Gegend wohnten – anderthalb Meilen voneinander entfernt, glaube ich.“

Er besprach die Details des Falles – wie meistens waren es nicht viele – und Chloe versuchte ihr Bestes, sich zu konzentrieren. Aber ihre Gedanken liefen immer wieder zurück zu Danielle und was sie wohl gerade durchmachen musste. Sie nahm an, dass sie sich niemals ganz davon lösen würde können, egal, an was für einem Fall sie arbeitete.

Es war nicht das erste Mal in ihrer jungen Karriere, dass sie sich ernsthafte Sorgen darum machte, dass ihr vergiftetes Familienleben ihre Zukunft negativ beeinflusste und sie nichts dagegen tun konnte.

Kapitel fünf

Nach einer schlaflosen Nacht traf Chloe Rhodes am nächsten Morgen auf dem FBI Parkplatz, um von dort mit einem Dienstwagen die Reise anzutreten. Sie fuhren um sechs Uhr morgens, um den zähen Verkehr auf der Ringautobahn, dem Beltway, zu umgehen. Chloe bemerkte, dass Rhodes versuchte, nicht zu glücklich auszusehen – ein nicht sehr erfolgreicher Versuch, den sie durch lange Schlucke Kaffee zu verdecken versuchte. Sie tat so, als müsse sie sich dabei extrem aufs Fahren konzentrieren.

„Es ist in Ordnung“, sagte Chloe. „Sie stecken jetzt mit mir in der Sache, also können Sie alle Fragen stellen, die Ihnen einfallen“. Achselzuckend fuhr Rhodes auf den Beltway in Richtung Maryland. “Ich denke, Sie haben den Kern gestern Abend in Johnsons Büro erfahren. Danielle ist verschwunden. Eigentlich nichts Außergewöhnliches…so hat sie früher gelebt, immer einfach gekommen und gegangen wie es ihr gefiel. Aber dieses Mal ist anders, weil ich auch keine Idee habe, wo mein Dad ist.“

„Es macht Sinn für Sie, das Schlimmste anzunehmen“, sagte Rhodes. „Nach allem, was Sie letztes Jahr durchgemacht haben. Das bringt mich zu der Hauptfrage: Warum haben Sie sich nicht frei genommen?“

„Weil ich mich dann in den Fall gemischt hätte. Und ich arbeite lieber offiziell an einem FBI Fall und überlasse es der Polizei in Washington herauszufinden, wo meine Schwester ist, als gefeuert zu werden, weil ich mich während meiner freien Tage nicht aus einer Untersuchung raushalten konnte.“

„Vom Feuer in die Bratpfanne“, seufzte Rhodes.

„So ungefähr“.

„Auch wenn ich Sie verärgern könnte: Ich denke, Johnson hat Recht. Wenn es nicht in den Zuständigkeitsbereich des FBI fällt, müssen Sie einfach den Polizisten vertrauen.“

„Ich weiß. Aber das ist schwieriger, als man denkt, wenn ein Geschwisterteil vermisst wird.“

„Ich werde nicht einmal versuchen, so zu tun, als wenn ich das nachfühlen könnte“, sagte Rhodes. Ihre Stimme spiegelte die Emotionen wider. Es war klar, dass sie es wirklich meinte.

„Nett von Ihnen“, entgegnete Chloe.

Ehrlich hatte der ganze Austausch Chloe nur noch mehr aufgeregt. Sie fragte sich, ob sie vielleicht überreagierte. Johnson hatte den Eindruck gemacht, dass es eigentlich keine riesen Sache war und Rhodes stimmte ihm im Prinzip zu.

Sie schwiegen für eine Weile, während Rhodes immer weiter nach Norden fuhr. Kurz bevor sie in Baltimore einfuhren, setzte ein leichter Regen ein. Sie schafften es kurz vor Beginn der Rush-Hour in die Innenstadt. Chloe studierte die spärlichen Informationen, die sie hatten. Lediglich ein paar frisch ausgedruckte Seiten in einer Mappe, die Johnson ihnen gegeben hatte. Die Adresse des letzten Opfers war ins Navi eingegeben, eine kleine Siedlung, ungefähr zwei Meilen außerhalb der Innenbezirke.

„Fine, versprechen Sie mir etwas?“ fragte Rhodes, während sie auf die Adresse zufuhren.

„Ich gebe keine Versprechen“ antwortete Chloe. Sie hatte es als Witz gemeint, aber es klang eher harsch. „Aber ich kann versuchen, mein Wort nicht zu brechen.“

„Okay, das muss reichen. Bitte seien Sie ehrlich mit mir und sagen Sie mir, wenn der persönliche Scheiß Sie beeinträchtigt während wir an diesem Fall arbeiten. Nur einmal möchte ich, dass wir einfach nur an einem Tatort ankommen und einen Fall binnen vierundzwanzig Stunden lösen. Keine Komplikationen, keine Rückschläge.“

„Ja, dazu kann ich Ihnen mein Wort geben.“

Das Gespräch schien die Spannung im Auto gebrochen zu haben. Als sie in der Siedlung ankamen, fühlte Chloe sich fast normal. Klar, sie dachte alle paar Sekunden an Danielle, aber sie erinnerte sich auch daran, wie leichtfertig Danielle in der Vergangenheit gewesen war. Wenn man ihre Vergangenheit bedachte, dann war ihr Verschwinden eigentlich gar nicht so merkwürdig.

Stimmt, aber Dad auch?

Sie verbannte den Gedanken, als Rhodes das Auto vor einem zweistöckigen Haus, eine exakte Kopie aller anderen Häuser in der Straße, parkte. Man konnte nicht behaupten, dass es nicht traumhaft war. Es war einfach, aber prachtvoll. Die Art Haus, die man als “danach’ in den Renovierungsprogrammen im Fernsehen sah.

 

„Bereit?“, fragte Rhodes.

Chloe schluckte die sarkastische Antwort, die ihr auf der Zunge lag, herunter. Sollte Rhodes sie wegen der Danielle-Situation mit Samthandschuhen anfassen, war sie sich nicht sicher, ob sie den Fall durchziehen konnte.

„Bereit“, war alles, was sie hervorbrachte, als sie aus dem Auto in den leichten Regen stieg.

* * *

Der bis jetzt zuständige Kommissar war ein schlaksiger Mann namens Anderson. Er saß am Küchentisch, als Chloe und Rhodes das Haus betraten. Er sah von dem iPad, auf dem er etwas mit dem Daumen wegwischte, auf und legte es entschuldigend zur Seite als er aufstand. Chloe schielte kurz auf den Bildschirm und sah, dass er durch Beweisfotos geblättert hatte.

„Ben Anderson“, stellte er sich vor und streckte ihnen seine Hand entgegen.

„Agenten Fine und Rhodes,“ erwiderte Chloe, seine Hand schüttelnd. „Haben Sie lange gewartet?“

„Nur um die zehn Minuten. Aber ich war natürlich in den letzten sechzehn Stunden drei oder vier Mal hier, um ein Gefühl für die Sache zu kriegen.“

„Waren Sie hier nach der Entdeckung der Leiche?“ fragte Chloe.

„War ich. Ich war der Zweite am Tatort.“

„Wo wurde die Leiche gefunden?“ fragte Rhodes.

Anderson winkte sie zum hinteren Teil des Hauses, während er das iPad aufhob. Er lief durch die Küche und öffnete eine Tür, die nach draußen führte. „Hier draußen auf der hinteren Veranda…. Obwohl, da gibt es nicht viel zu sehen.“

Sie traten auf die Veranda. Chloe konnte zuerst nichts auch nur irgendwie Interessantes entdecken. Es war eine nette Veranda mit Aussicht auf einen großen, sehr grünen Garten. Ein Grill stand in der hinteren Ecke, durch eine Hülle, mit dem Logo der Baltimore Ravens, geschützt. Die wenigen Möbel in der Mitte der Veranda waren schön, aber nichts Besonderes – wahrscheinlich von Wayfair oder Costco. Es nieselte draußen noch immer, was leichte Wasserflecken auf den Holzboden verursachte. Chloe bemerkte einen komma-förmigen Blutfleck auf den Latten – ungefähr die richtige Größe, um einen Kopf teilweise zu umzirkeln.

„Das Opfer war Bo Luntz“, sagte Anderson. „Seine Frau, Sherry, fand ihn, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Es war ihr Hochzeitstag. Sie fand ihn hier, auf dem Boden der Veranda. Sie hat für eine Weile alles irgendwie ausgeblendet. Sie hat nicht einmal die schwarze Socke, die ihm fast bis in die Kehle gestopft worden war, in seinem Mund bemerkt. Sie sagt, sie kann sich vage erinnern, sie beim ersten Anblick gesehen zu haben, aber… sie stand komplett neben sich – verständlicher Weise.“

„Das Blut“, bemerkte Chloe während sie in die Knie ging. „Es lässt vermuten, dass er nicht nur stranguliert wurde. Gab es Hinweise auf einen Kampf?“

„Nein. Nichts war umgefallen, nichts war ungewöhnlich. Das einzige Indiz ist der offensichtliche Schlag auf den Kopf, entlang der Stirn.“

Mit diesen Worten reichte er Chloe das iPad, welches er getragen hatte. Er hatte ein Bild der Leiche aufgerufen. Chloe vergrößerte das Bild von Bo Luntz“ Stirn. Da waren eine eindeutige Delle und der Anfang eines Blutergusses zu sehen. Aufgrund der Form der Delle vermutete sie, dass sie von einem Gegenstand von vielleicht fünf oder sechs Inches Breite, mit flachem Ende, stammte.

„Der Bluterguss sieht frisch aus“ bemerkte Rhodes, die über Chloes Schulter geschielt hatte. „Wie lange nach der Entdeckung wurde die Leiche weggebracht?“

„Ungefähr eine Stunde später, würde ich sagen. Und nach Frau Luntz Aussage war das Blut noch nass, als sie die Leiche fand. Also nehmen wir an, dass er ein bis zwei Stunden vor ihrer Heimkehr ermordet wurde.“

„Keine Fingerabdrücke auf der Socke in seinem Mund?“ fragte Chloe.

„Keine. Auch drinnen keine Abdrücke. Keine Hinweise auf Einbruch…. nichts.“

Rhodes begann, die Ausdrucke von Johnson zu durchsuchen. Sie versuchte, die Papiere durch ihren Körper vor dem Regen zu schützen. „Bo Luntz, zweiundfünfzig Jahre alt, ein Kind, angestellt bei Mutual Telecom. Keine Vorstrafen. Können Sie noch etwas hinzufügen, Kommissar Anderson?“

„Nach vorläufigen Befragungen von Nachbarn und Freunden wissen wir, dass der Mann sehr beliebt war. Er war freiwilliger Feuerwehrmann, half bei Wohltätigkeitsveranstaltungen wann immer er konnte. War Assistenztrainer bei einem Amateur-Footballverein. Ich selbst habe mit fünf Leuten gesprochen und wir haben noch mindestens ein Dutzend mehr in der Akte. Der Mann war blütenweiß.“ Chloe nickte, aber sie hatte diese Geschichten schon oft gehört. Die meisten Männer konnten nach außen hin blütenweiß erscheinen, aber sie wusste, dass man nach ein wenig graben, Risse in der sauberen Fassade fand. Risse, die oft zu sehr dreckigen Geheimnissen führten.

„Haben Sie eine Idee, warum ihm eine Socke in den Hals gestopft wurde? “ erkundigte sich Chloe.

„Keine Ahnung. Wir haben die Schubladen oben durchsucht in der Annahme, wir könnten das Gegenstück finden, aber kein Glück.“

„Herr Kommissar, können wir den Namen und die Nummer des zuständigen Leichenbeschauers haben?“

„Klar“, erwiderte er, während er schon die Kontakte in seinem Telefon durchblätterte.

„Und was ist mit dem ersten Opfer?“ fragte Chloe.

„Sein Name war Richard Wells. Er lebte ungefähr zwölf Meilen von hier in der kleinen Stadt Eastbrook. Eine sehr ähnliche Nachbarschaft zu dieser hier. Die Polizei in Eastbrook bearbeitet den Fall, aber ich habe einige der Details, wenn Sie sie möchten.“

„Ja, bitte.“

„Im Großen und Ganzen eine genaue Kopie der Geschehnisse hier. Wells wurde tot in seinem Schlafzimmer aufgefunden, sein Kopf mehr oder weniger zerschmettert und eine schwarze Socke im Mund. Als Personen waren die beiden aber sehr unterschiedlich. Wells wurde letztes Jahr geschieden. Es gibt Gerüchte über ein Alkoholproblem. Er arbeitete als privater Unternehmer und seine wenigen Angestellten waren die einzigen, von denen wir Informationen bekommen konnten. Seine Ex-Frau ist schon wieder verlobt und lebt in Rhode Island. Beide seiner Eltern sind tot, keine Geschwister… Keiner da, dem man tiefergehende Fragen stellen konnte.“

„Also mehr oder weniger eine Sackgasse?“ fasste Rhodes zusammen.

„Mehr oder weniger,“ bestätigte Anderson.

Chloe studierte noch einmal die Latten, die die Veranda bedeckten. Sie studierte den Blutfleck, unfähig, den Anblick des Blutes auf dem Wasserkessel ihres Vaters aus ihrer Erinnerung zu verbannen. Er festigte sich in ihr und sie fühlte sich, als träte sie aus einem warmen Haus in einen Wintersturm. Und plötzlich war ihr klar, dass sie die Sache nicht ruhen lassen konnte: Danielles Verschwinden würde sie verfolgen – Fall oder nicht. Das Schlimmste war, dass Chloe anfing, Danielle dafür zu verurteilen. Sie machte sich Sorgen, dass die verstörte Frau, die ihre Schwester mal gewesen war, wieder zum Vorschein kam.

Sollte ich sie finden, kann ich das vielleicht verhindern dachte Chloe.

Es war verstörend aber während sie weiter Bo Luntz’ Blut betrachtete, gestand sie sich ein, dass es zur Rettung ihrer Schwester, wie zur Rettung von Luntz’ Leben, viel zu spät war.

* * *

Chloe hatte die Erfahrung gemacht, dass es zwei Arten von Leichenbeschauern gab: leise und fast mürrisch bei der Arbeit, oder sehr lebendig und fast ein bisschen zu sehr an ihrer Arbeit interessiert. Die Dame, die sie im Leichenschauhaus trafen und die den Auftrag hatte, sich um Bo Luntz’ zu kümmern, gehörte zu der zweiten Sorte. Sie hieß Gerda Holloway und sie sah eher nach Single-sucht-Single Fernseh-Show als nach Arbeit mit Toten aus. Selbst Chloe musste das gute Aussehen der Frau zugeben als sie sie, Haare im Pferdeschwanz und mit Brille im Bibliothekarinnen-Stil, in der Eingangshalle begrüßte.

„Agenten Rhodes und Fine“, entgegnete Rhodes nachdem Holloway sich ihnen vorgestellt hatte.

„Kommen Sie mit nach hinten“ lud Holloway ein. „Die Leiche ist präpariert, aber sie können ihn gerne sehen, bevor ich anfange richtig zu arbeiten“.

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