Leadership als Co-Creation

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Astrid Frischknecht

Leadership als Co-Creation

Wenn Führung zur gemeinsamen Sache wird

ISBN Print: 978-3-0355-0838-3

ISBN E-Book: 978-3-0355-0893-2

1. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© 2017 hep verlag ag, Bern

www.hep-verlag.com

Abstract

Hierarchische Macht ist schon länger nicht mehr für eine erfolgreiche Führung genügend. Der alles könnende Held oder die göttliche Königin mögen zwar von Medien und Gesellschaft gesucht werden, doch ist die Komplexität der Welt für niemanden alleine tragbar. Beziehungsgestaltung, Mehrperspektivität, Ambiguitätstoleranz, das Gefühl für das Seinwollende und Zukünftige sowie Entwicklung und organisationale Lernprozesse sind gefragt. Leadership wird damit zum relationalen Tätigsein verschiedener Personen im Hinblick auf das, was in der Zukunft liegt. Das vorliegende Buch verbindet Veränderungs- und Leadershipkonzepte mit neurobiologischen Erkenntnissen sowie Innovations- und Lernprozessen. Damit öffnen sich neue Handlungsräume und Perspektiven.

Zum Geleit

»Co-Creation« – die kreative Gestaltung von Prozessen in kooperativer Gemeinsamkeit – ist seit vielen Jahren eines der Hauptthemen von Astrid Frischknecht, die ich vor gut einem Jahrzehnt bei Seminaren im Rahmen von expressiver künstlerischer Arbeit an der European Graduate School in Saas-Fee kennenlernte. Gerade ein solcher Rahmen ist prädestiniert für die Vermittlung zweier zentraler Aspekte in Coaching und Beratung, aber auch in Teamführung und – allgemeiner – für jegliche Art von Teamarbeit:

Erstens ist künstlerisch verstandenes Tun in vielen Bereichen (Tanzen, Musizieren, Theaterspielen usw.) auf Gemeinsamkeit ausgelegt, die nur dann gelingt, wenn persönliche Freiheit und Kreativität nicht im Gegensatz zur Dynamik der anderen in der Gruppe gesehen wird, sondern in einem ausbalancierten Miteinander. Die Achtsamkeit für die Beziehungen zwischen den Menschen in ihrer Dynamik ist dabei eine essenzielle Grundlage. Ansonsten droht das Chaos »jeder gegen jeden« oder aber die Rigidität in Form des Repetierens vorgefertigter Muster, die gerade nicht kreativ und adaptiv an neue Bedingungen und Herausforderungen sind.

Zweitens gelingt ein solches kreatives Tun nur dann, wenn von den Sinnen Gebrauch gemacht wird – also von einer Fokussierung auf abstrakten versprachlichten und kategorisierten Sinn abgelassen und auf die Sinnlichkeit zurückgegriffen wird. Dies darf nicht als Plädoyer gegen Wissen und Konzepte missverstanden werden, sondern als Mahnung gegenüber den Einseitigkeiten und Entfremdungen solcher notwendig abstrakten Gebilde, wenn diese nicht in der konkret erfahrbaren Lebenswelt verankert sind und immer wieder an diese rückgekoppelt werden.

Beide Aspekte sind auch für die Gestaltung unserer Lebens- und Arbeitswelt zentral, an der ja nicht nur »die da oben« mitwirken, sondern wir alle (freilich mit unterschiedlicher Machtbefugnis und damit auch Verantwortung). Sie sind damit zugleich auch Fundamente für die Wertschätzung des anderen – in seiner doppelten Bedeutung: als Gegenüber und als Andersartiger. Das im Buch an zentraler Stelle stehende Zitat: »If you judge a fish by its ability to climb a tree, it will live its whole life believing that it is stupid«, mag hier als Warnung davor dienen, dem anderen allzu schnell die eigenen Kategorien überzustülpen (auch wenn genauso richtig ist, dass nicht jeder für jede Aufgabe gleich gut geeignet ist. Differenzierung versus Gleichmacherei kann somit ebenfalls ein Aspekt von Wertschätzung sein).

Vieles von dieser Haltung wird in diesem Buch beschrieben und vermittelt. Möge es viele Menschen nachdenklich machen und/oder ermuntern und unterstützen, diese Leitideen auf ihrem Weg durch die Lebens- und Arbeitswelt umzusetzen.


Osnabrück, Juni 2017 Prof. Dr. Jürgen Kriz

Inhaltsverzeichnis

Abstract

Zum Geleit

Inhaltsverzeichnis

Le roi est mort, vive le roi

Freund oder Feind

Sichtweisen ändern

Möglichkeitsräume einnehmen

Veränderungen umsetzen

Autorin

Literatur

Abbildungsverzeichnis

Le roi est mort, vive le roi

Der König ist tot, lange lebe der König – oder in Anlehnung: Die Führung ist tot, lang lebe die Führung.

Tot ist aber ganz sicher die hierarchische Führung. Die Garde der selbstverliebten Allesbesserwisser hat abgedankt. Was wir zurzeit erleben, ist ein letztes Aufbäumen vor dem Untergang. Doch die Zeiten von Führung im Sinne von Auftragserteilung, Kontrolle und einer Person, die für alle entscheidet, sind vorbei. Margaret J. Wheatley kündigte dies bereits 1999 in »Leadership and the new science« an: »To lead the knowledge worker to accomplish business objectives, management becomes a social function in which relationships are key« (Wheatley 1999). 300 Jahre allgemeine Orientierung am Bild Mensch = Maschine sind vorbei. Es lebe die Führung, die sich an der Fähigkeit orientiert, in Beziehungen zu stehen und sich dabei gemeinsam wirkungsvoll und engagiert vorwärtszubewegen

Die französische Verkündigung: »Le roi est mort, vive le roi« wird hier nicht genutzt, um die Kontinuität der französischen Erbmonarchie sicherzustellen, sondern um die Kontinuität von Führung in einer anderen Generation und mit einem anderen Konzept zu verdeutlichen: organisationale Perspektive statt Hierarchie.

In den bisherigen Zeiten der Führung haben sich Hunderte Leadership-Bücher mit der guten Führungsperson und den individuellen Eigenschaften dieser einen Person beschäftigt. Eigenschaften wie charismatische Persönlichkeitszüge, Verhandlungsgeschick, Durchsetzungsvermögen und Begeisterungsfähigkeit wurden in mehrstimmigen, branchenübergreifenden Chorälen besungen. Am liebsten ein sportlicher Held, der in seiner Freizeit hohe Berge erklimmt oder Marathon läuft: ein »Prinz in silberner Rüstung«. Seine Rüstung reflektiert das Licht der Sonne und blendet uns, sein Publikum. Er, der Allesbesserwissende, weiß und genießt die Zeiten der Aufmerksamkeit, die ihm seine Rüstung (oder seine Rolle) schenkt. Er lässt seine Mitarbeitenden defilieren, ist nie um einen guten Spruch verlegen und sein strahlend weißes Lächeln bezaubert die Frauen und verschüchtert die Männer. Die alte Form von Führung: eine machtvolle Position in einem hierarchischen Betrieb. Bekannt ist das Bild des Patrons. Als gedankliche Anlehnung ist es hilfreich, um die Abhängigkeiten aufzuzeigen. Der Patron ist im schlechten Fall ein narzisstischer Mann, der sich, seine Familie und die Reichen und Mächtigen seines Milieus als wertvollere Menschen sieht als die Arbeiterinnen und Arbeiter in seiner Fabrik. Im besseren Fall versteht sich der Patron als umsorgender »Vater«, der seine Großzügigkeit gerne zeigt und denen schenkt, die Gehorsam und Respekt zeigen und sich ihrer Herkunft und Rolle entsprechend verhalten. Wehe aber, die Selbstbestimmung der Untergebenen wird zu groß oder richtet sich gegen die Ideen und Erwartungen des »Vaters«. Auch heute noch haben sich Unterstellte vor selbstherrlichen Vorgesetzten und Vorstandsmitgliedern in Acht zu nehmen, wenn sie sich durch Fragen und Ideen außerhalb ihres zugewiesenen Platzes bewegen. Denn Fragen und Ideen sind machtvolle zukunftsweisende Instrumente, insbesondere, wenn sie Platz erhalten, ihr Potenzial zu entfalten.

Fragen können neue Sichtweisen und Ideen öffnen. Neue Ideen sind das Potenzial für Innovation und Entwicklung, und Innovation und Entwicklung wiederum sind der unternehmerische Wesenskern. So ist ein guter Weg, Fragen zu stellen, um über etwas nachzudenken, das bisher als »so denkt und macht man es« galt. Eine gute Frage gestellt zu bekommen, kann helfen, Informationen zusammenzufügen, unsere vorhandenen Ideen auszuwerten und neue Ideen zu produzieren. Fragen sollen Menschen ermutigen, über das hinauszudenken und zu fühlen, was sie bisher in den Gesprächen gedacht und gefühlt haben. Fragen haben eine Wirkung für den Befragten. Hilfreiche Fragen, von Bob Stains von Essential Partners auch »fensteröffnende« Fragen genannt,

•verhelfen zu mehr Klarheit und Ausdrucksfähigkeit,

•motivieren zu größerer Komplexität im Denken und Fühlen und verhindern ein Verharren im Denken und Fühlen in bekannten Schablonen und herkömmlichen Mustern,

•führen hin zu mehr Konzentration und richten den Fokus darauf, dass Denken und Fühlen vielfältiger wird.

Im Gegensatz dazu gibt es bestimmte Arten von Fragen, die der befragten Person das Gefühl vermitteln, als würde sie in einen kleinen Raum gestoßen und ihr die Türe vor der Nase zugeschlagen. Bob Stains nennt sie entsprechend »türzuschlagende Fragen«.

 

Fragen haben auch eine Wirkung für denjenigen, der fragt. Fragen zu stellen erweitert das Verständnis über die Situation anderer Menschen und welche Bedeutung und Sichtweise sie haben. Fragen wirken sich auch auf die Beziehung aus. Sie verbessern oder erweitern die vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen, die realen und vorgestellten Verbindungen, sowohl zwischen dem Befragten als auch dem Fragenden und den anderen, die zuhören.

Fragen öffnen die Fenster in die Zukunft. Zum Beispiel eine Frage, die sich nach der gewünschten Zukunft für das Unternehmen erkundigt. Doch Zukunftweisendes und Werden-Wollendes ist nichts für schwache Manager. Donn Carr, ein amerikanischer Berater für Detailhandel und Shoppingcenters publizierte einen Artikel, wie man schwache Manager identifiziert. Was sind schwache Manager? Aus Carrs Sicht sind es Vorgesetzte dank Rolle und Titel, aber nicht aufgrund ihrer Handlungen. Der erste und wichtigste Indikator: Sie leben in der Vergangenheit. Sie orientieren sich an ihrer Karriere, ihren Erfahrungen und ihren Strategien, die bisher geholfen haben, ihre Positionen zu gewinnen und zu erhalten. Sie sehen Führung als etwas, das ihrer Persönlichkeit innewohnt und für das sie besonders geeignet sind. Führung ist für sie ein Konzept, in dem sie Befehle erteilen und in dem es andere gibt, die diese ausführen. Klar ist, dass Führung mindestens zwei Personen braucht. Die Führung entsteht durch das Zusammenspiel dieser beiden Personen: Die eine führt, und mindestens eine Person folgt. Damit wird deutlich, dass Führung in der Beziehung liegt, im Raum zwischen den beiden Personen.


Abbildung 1 Eine vorhersehbare Konversation

Der Beziehungsrahmen gestaltet die Kommunikation. In dieser Illustration wird ein hierarchischer Beziehungsrahmen abgebildet.

Gäbe es nur die eine Person, die führt, und niemanden, der umsetzt, wäre der Vorgesetzte ein Chef ohne Mitarbeitende, eine Person, die ihre Einzelfirma führt. Sie wäre dann ihr eigener Chef und würde sich selber führen: in Selbstführung. Führung als innere Zwiesprache, als innerer Dialog. Der Hamburger Psychologe Friedeman Schulz von Thun hat dafür die Metapher des inneren Teams gewählt.


Abbildung 2 Im Dialog mit dem »inneren Team«

Klärung in der Selbstführung entsteht durch Dialog mit sich selbst – wie hier mit dem Bild des inneren Teams dargestellt.

Die Klärung mit dem äußeren Team erfolgt, eingebettet in der alten Generation von Führung, in der Konzeption von Führung als/Führen und Folgen. Diesem Modell unterliegt der Grundsatz, dass es eine übergeordnete Position und eine unterstellte Position gibt. Es ist das Metamodell von Führung, wie wir sie heute leben: unser »Nährboden der Führung«. Solange wir in diesem Metamodell verhaftet sind, werden unser Handeln, unser Denken, unsere Fragen, die wir stellen, sowie die Situationen, die wir im Alltag erleben, nach diesem Modell verstanden. Manager, Vorstandsvorsitzende und HR-Fachleute fragen sich: »Wie gewinnen wir die besten Mitarbeitenden. Wie bildet man ein Team? Wie motiviert man Mitarbeitende?« Der Nährboden dieser Fragen ist das uns sehr gut bekannte Führungsmodell: Einer führt, andere folgen. Dabei schwingt auch Hierarchie mit. Der eine ist oben, der andere ist unten. Übergeordnet und unterstellt – Führen ist damit mit hierarchischer Macht verbunden. Um jemanden oder etwas unterzuordnen, kann man Kraft, Willensstärke, Gemütslage, bestimmte Logik einer Sichtweise, Verstrickung oder Täuschung anwenden. Diese verschiedenen Formen sind all jenen bekannt, die sich einer launisch-depressiven Person, einem schlauen Manipulator, einem gut aussehenden Narzissten oder einem hässlichen Tyrannen unterordnen mussten. Dabei definiert sich die übergeordnete Position nur dadurch, dass sich jemand unterordnet.

Folgen wir diesem Modell weiter, dann ist klar, dass man sich mit dem Führungshelden oder der Führungsheldin beschäftigen muss. Er oder sie ist die zentrale Figur, denn von ihm oder ihr, so die Idee, ist der Erfolg abhängig. Von einem Menschen, der nicht nur über außerordentliche individuelle Eigenschaften verfügt, sondern auch eine machtvolle Rolle in einem hierarchischen System einnimmt. Doch ohne Unterordnung löst sich diese Form von Führung auf.

»Wir haben dich hierher bestellt, weil wir mit dir über unsere Zusammenarbeit und dein Verhalten sprechen wollen.« Karla nickt und zwischen gepressten Lippen drückt sie ein »Ja« hervor. Ihre Hände halten sich gegenseitig und liegen auf ihrem Schoss. Das rechte Bein ruht scheinbar gelassen über dem linken. Sie überprüft sich innerlich: »Ja, so sitzt man, wenn man noch nicht alles verloren hat und das Verliererinnen-Etikett noch nicht an einem haftet.«

Die dritte Frau am Tisch führt aus: »Wir arbeiten hier zusammen und dazu gehört, dass alle Mitarbeitenden sich an gewisse Regeln halten.« Klara entspannt sich, sagt Ja und spürt hinter ihren Eingeweiden den sich entfaltenden Raum. Es ist ein Spiel mit Wörtern. Drei Frauen sitzen zusammen an einem kleinen runden Tisch auf farbigen Stühlen. Jeder Stuhl hat eine andere Farbe. Karla sitzt auf einem grünen, Karlas Chefin auf einem gelben und die Chefin der Chefin auf einem roten. Sie sitzen im Büro der Chefin von Karlas Chefin an einem Mittwochmorgen.

»Und diese Regeln müssen von allen eingehalten werden. Auch von dir«, fährt die Chefin der Chefin fort. Ihr Mund ist ungeschminkt und bleich. Hart bewegen sich die Mundwinkel beim Reden, und wenn sich der Mund schließt, bilden sich kleine Fältchen an den Rändern. ›Sie sieht bleich aus‹, denkt sich Karla und beobachtet die Wörter, die aus dem Mund dieser Frau taumeln. Eines dem anderen folgend und eines dem anderen gleichend, ohne dass das Wort oder die Sätze wüssten, zu welchem Zweck sie an diesem Mittwochmorgen in diesem Büro gesagt werden. Sie bauen sich auf wie eine Mauer aus weißen Backsteinen. Ein bisschen versetzt zueinander und eines wie das andere. So bleiben sie vor Karla stehen. Karla schaut sie an, sieht die Chefin der Chefin dahinter und weiß genau, was jetzt das Richtige ist. Sie sagt: »Ja«. Die weiße Backsteinmauer aus sich gleichenden, ordnungssuchenden Wörtern löst sich auf. Kein Krachen und Knacken oder Surren ist zu hören. Sie löst sich auf, wie das Hologramm in der Science-Fiction.

Was aber wird, wenn man die Konzeption von Führung anders definiert? Wenn die Orientierung nicht an der einen Person und ihren Eigenschaften stehen bleibt, sondern weiterverfolgt, was zwischen den Personen geschieht. Wenn man die Fähigkeit fokussiert, in Beziehungen zu stehen. Wenn man Führung als Fähigkeit, in Beziehung zu stehen, versteht und Beziehung als Raum verstanden wird, der zwischen Personen geschaffen wird.

Dann kann es eine neue Führung geben: eine Führung von mindestens zwei gleichberechtigten Personen, die miteinander in Beziehung stehen. Dann wird Führung als Co-Creation, als gemeinschaftlicher Prozess aller Beteiligten verstanden. Dann gehört zur Führung eine erfolgreiche Praxis der Zusammenarbeit. Fokussiert werden nicht mehr die individuellen Eigenschaften, sondern Wirkungsfelder auf der Meta-Ebene: Empowerment und Befähigung, horizontale Entscheidungsprozesse, laterales Denken, Teilen von Informationen, Networking, kontinuierliches Lernen, Wertschätzung und Verbindungsfähigkeit. Dafür würden Rahmenbedingungen geschaffen, damit, in den Worten des Kommunikationspsychologen Paul Watzlawick und seiner Kollegen aus dem Jahr 1973, »Lösungen zweiter Ordnung« geschaffen werden können. Das heißt, dass wir etwas tun, das außerhalb des bisherigen Musters, außerhalb der bisherigen Denkweise und Problemstellung liegt. Es ist ein Sprung in der Logik und liegt vielleicht auch ein bisschen außerhalb dessen, was wir heute noch allgemein als »gesunden Menschenverstand« bezeichnen.

Die Sage »Die Maultasch vor Hochosterwitz« illustriert diesen »Logiksprung«, eine Lösung zweiter Ordnung. In der Sage geht es um die Belagerung der Burg Hochosterwitz in Kärnten und den Versuch von Margarete Maultasch, Gräfin von Tirol, nach dem Tod ihres Vaters Herzogs Heinrich von Kärnten 1335 die Erbfolge anzutreten:

»Als Frau Margareta Maultasch mit ihrem Kriegsvolk die Drau herunterzog, flüchteten sich viele Herren und Landleute mit Frau und Kind in die Burg Hochosterwitz. Stark und unüberwindlich ist diese Burg auf einem hohen Felsen gebaut. An eine Eroberung von Hochosterwitz war nicht zu denken. Also machte sich das kriegerische Weib daran, die Festung zu belagern. Sie besetzte das Land rings um die Burg, so daß niemand hinein oder heraus konnte, und dachte, der Hunger werde den in der Burg eingeschlossenen Adel zur Übergabe zwingen. Wirklich gingen oben auf Hochosterwitz die Lebensmittel zur Neige; es herrschte ein solcher Hunger, daß die Leute sich nicht davor scheuten, Pferde, Hunde und Katzen zu schlachten. Als nur noch ein magerer Stier und zwei Vierling Roggen vorhanden waren, griff Herr Schenk von Osterwitz zu einer List. Er ließ den Stier schlachten, in seine Haut den letzten Roggen schütten und ihn alsdann über den Berg hinunterstürzen – als wenn sie noch im Überfluß zu essen hätten.

Als Frau Maultasch dies erfuhr, tat sie einen lauten Schrei: ›Ha, das sind Klausraben, die eine gute Zeit ihre Nahrung in die Kluft zusammengetragen haben, die werden wir nicht so leichtlich in unsere Klauen fassen. So wollen wir sie in ihrem Nest sitzen lassen und uns andere gemästete Vögel suchen!‹ Damit hob sie die Belagerung auf.«

Pehr (1960, S. 32)

Wollen wir »Lösungen zweiter Ordnung« nach dem Beispiel von Herrn Schenk von Osterwitz entwickeln und die Denkweise aufgeben, die zu den heutigen Problemen geführt hat, dann ist Führung nicht mehr nur eine Angelegenheit von Personen in Führungspositionen. Wirkungsvolle Mitgestaltung, Raum für neue Ideen und Wertschätzung für Bisheriges, Überraschendes und Unbekanntes sollten auf allen Ebenen einer Organisation ihren Platz haben. Doch haben Personen in Führungspositionen einen weiteren Blick aufgrund ihres Standorts in der Organisation. Damit haben sie eine größere Verantwortung. Dies nicht nur, weil sie durch ihren Standort besser gesehen werden, sondern auch, weil sie die Art von Praxis einführen können, die in ihrer Organisation am sinnvollsten ist. Vorgesetzte können Formen des Austauschs lehren und andere dazu einladen.

Dagegen herrscht oft noch die Vorstellung vor, dass zu viel Austausch und Fragen an Mitarbeitende diese überfordern würde. Dies zeigt sich zum Beispiel in Veränderungsprojekten. In Change-Prozessen ist immer wieder die Frage der Beteiligung der Mitarbeitenden zu klären. Eine oft gehörte Standardantwort zur frühzeitigen Beteiligung von Mitarbeitenden lautet: »Man kann den Mitarbeitenden im Verkauf oder im Callcenter oder in der Sachbearbeitung oder im Kundendienst die Frage nicht stellen, weil wir sie damit überfordern würden.«

Als problematisch wird von der Geschäftsleitung auch der Vorschlag erachtet, die Mitarbeitenden ihre Arbeitsgruppe selber wählen zu lassen. Von den Führenden wird befürchtet, dass die einzelnen Mitarbeitenden nicht genau wissen, was sie können, und dass sie ihre Kompetenzen dann am falschen Ort einbringen könnten. Angenommen wir betrachten diese Aussagen als Tatsachen, dann folge ich gerne Werner Lutz:

Tatsachen

soll man drehen wenden

zwischen den Fingern

um herauszubekommen

ob sie noch leben

oder längst verendet sind.

Werner Lutz (2011)

Lassen wir uns Aussagen wie »Man kann den Mitarbeitenden im Verkauf oder im Callcenter oder in der Sachbearbeitung oder im Kundendienst die Frage nicht stellen, weil wir sie damit überfordern würden« auf der Zunge zergehen, drehen und wenden wir sie, und untersuchen wir sie als Phänomene. Es sind Aussagen über Ängste und Sorgen – ausgesprochen von den Vorgesetzten. Es ist die Sichtweise der Vorgesetzten über die Mitarbeitenden, und damit ist es eine Botschaft der Vorgesetzten. Nach Schulz von Thun haben wir vier Ohren. Jede Botschaft können wir auf dem einen oder anderen Ohr hören:

•Das Ohr des Appells: Was soll ich tun, denken, fühlen, wenn ich das höre?

•Das Sachohr: Was ist der Sachverhalt, der hier angesprochen wird?

•Das Ohr der Beziehung: Wie redet diese Person mit mir?

•Das Ohr der Selbstoffenbarung: Was sagt diese Person über sich?

 

Was kann gehört werden bei der Aussage »Mitarbeitende kann man nicht beteiligen, sonst wären sie überfordert«? Eine kleine lustvolle und einfache Analyse der Aussage von Führungskräften entlang der vier Ohren:

•Im Ohr des Appells: Als Mitarbeitende sollen wir denken, dass unsere Vorgesetzten sich um uns kümmern.

•Im Sachohr: Es ist zu kompliziert für uns Mitarbeitende. Unsere Chefs wissen es besser.

•Im Ohr der Beziehung: Wir Mitarbeitende werden als Untergebene angesprochen.

•Im Ohr der Selbstoffenbarung, was Führungspersonen damit über sich selber sagen: Wir, Vorgesetzte, sind in dieser instabilen, unsicheren, komplexen und mehrdeutigen Welt verunsichert und besorgt und wüssten nicht, was wir machen sollten, wenn auch noch Mitarbeitende mitreden würden.

Das Ohr der Selbstoffenbarung, also hinzuhören, was die Botschaft einer Person über diese selber sagt, geht in der Dynamik der Kommunikation gerne verloren. Es ist aber sehr aufschlussreich. Denn das Gesagte teilt uns etwas über das Weltbild der Person mit, die spricht. Damit kann man durch Zuhören mehr über den Standpunkt anderer in Erfahrung bringen. Das ist nützlich, aber doppelbödig und mit Vorsicht zu nutzen. Denn alles, was man hört, denkt und mit seinen Sinnen wahrnimmt, ist geprägt vom eigenen Geworden-Sein (s. Leiter der Schlussfolgerungen).

Die Analyse nach den vier Ohren soll nicht dazu verleiten, respektlos zu werden oder Aussagen ins Lächerliche zu ziehen. Die Aussagen von Führungspersonen und Vorgesetzten in diesem Beispiel sind ernst zu nehmen. Gleichzeitig sind sie im Kontext der Berufswelt zu verstehen. Es sind Aussagen über Mitarbeitende. Mitarbeitende sind Menschen, die ein selbstbestimmtes Leben führen. Wir alle sind auch Mitarbeitende und mündige Bürgerinnen und Bürger, die im Rahmen unserer Möglichkeiten ein eigenständiges Leben gestalten. Wir arbeiten, wohnen, zahlen Rechnungen, entscheiden uns für das eine oder andere und pflegen vielfältige soziale Beziehungen, nicht nur mit Familie und Freunden, sondern auch mit Personen, die wir nicht zu unserem Freundeskreis zählen. Es sind Beziehungen auf gleicher Augenhöhe. Im Berufsleben sind wir nicht mehr Bürgerinnen und Bürger, sondern werden zu Mitarbeitenden und Vorgesetzten. Vorgesetzte sagen, was es zu tun gibt, und Mitarbeitende führen diese Anweisungen aus. Es wird eine Beziehung nach altem autoritären Schema: »Herr und Diener«.

Was rechtfertigt heute dieses hierarchische und autoritäre Verständnis? Wie wird ein hierarchisches Bild von Führung in der Wissensgesellschaft legitimiert? Vielleicht die Sichtweise, dass Mitarbeitende Führung und Schutz brauchen. Mitarbeitende brauchen vielleicht Schutz. Wenn man sich die Arbeitsbedingungen in der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert vor Augen führt, war Arbeitnehmerschutz unabdingbar:

»Als Matthew Crabtree ein achtjähriger Junge war, mussten seine Eltern ihn manchmal aus dem Bett heben. Sonst wäre er überhaupt nicht aufgewacht, so früh am Morgen. Dann wäre er zu spät zur Arbeit in die örtliche Textilfabrik gekommen, und es hätte dort Schläge gesetzt. Matthew wurde freilich auch dann geschlagen, wenn er an seinem langen Arbeitstag – von sechs Uhr morgens bis acht Uhr abends, dazwischen eine Stunde Pause – müde wurde. ›Die Angst vor den Schlägen war ein ausreichender Anreiz‹, sagte er viele Jahre später, ›sodass wir nach Möglichkeit unsere Arbeit erledigten‹. Crabtree hat das alles im Jahr 1832 vor einem Untersuchungsausschuss des englischen Parlaments geschildert.« (Fischermann 2011)

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