Gleichberechtigung im Kinderzimmer

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Frauenfrage -> Männerfrage -> Kinderfrage

Ein Brief von Eltern zu Eltern

Hallo, liebe Mit-Eltern und Mit-Elterinnen, sowie sonstige Interessenten und Interessenteriche!

Wir schreiben Euch dieses Kapitel (nur dieses!) in Form eines »lockeren« Briefes, weil wir ein paar Themen ansprechen wollen, die oft recht »verbissen« diskutiert werden. Wahrscheinlich ist das auch kaum zu vermeiden, sobald sich Menschen in sie »vertiefen«, die unterschiedliche Lebenserfahrungen, Ansichten und Zielvorstellungen haben. Uns geht es bei diesen Themen hier aber nicht um tiefe »Einsichten«, sondern um eine allgemeine »Übersicht«, damit nicht länger, wie es heute noch üblich ist, ausgerechnet das wichtigste »übersehen« wird. Wir möchten den richtigen Stellenwert der »Kinderfrage« sichtbar machen – möglichst ohne uns in Einzelproblemen zu verfransen.

In diesem Buch wollen wir zeigen, unter welchen Bedingungen es am besten klappt, daß Menschen in Frieden und Freiheit miteinander leben können, sich wohlfühlen, sich gut verstehen, kurz und bündig: sich und anderen ein schönes Leben machen – nicht nur heute und morgen, sondern lebenslänglich.

Weil uns aufgefallen war, daß dieses schöne Leben ausgerechnet zwischen Eltern (oder »Elternteilen«) und ihren Kindern oft nicht so recht gelingt, haben wir vor vielen Jahren beschlossen, uns als Eltern einfach an die Regeln zu halten, die zwischen Menschen sonst allgemein anerkannt sind und auch ganz gut funktionieren. Andere Eltern machten sich ähnliche Gedanken, nicht zuletzt angeregt durch einige Veröffentlichungen, beispielsweise das Fischer-Taschenbuch Die Gleichberechtigung des Kindes von 1976 (das es aber schon lange nicht mehr gibt). Sie alle blieben ganz normale Eltern mit all den Sorgen, Hoffnungen, Freuden und Ärgernissen, die zum Elterndasein gehören. Sie haben lediglich ihre Kinder grundsätzlich anders angesehen und behandelt, nämlich nicht als »Zöglinge«, die »gehorchen« sollen, im Notfall »verdroschen« werden und überhaupt noch nicht richtig zählen, sondern eben als gleichberechtigte Mitmenschen.

Wir möchten nun aber nicht diese Eltern – und auch nicht ihre Kinder – als leuchtende Vorbilder hinstellen, die alles richtig machen und deshalb keine Probleme haben. Erstens stimmt das nicht, und zweitens würde es nichts nützen. Was manche Leute für vorbildlich halten, kann andere geradezu abschrecken. Die Menschen sind eben verschieden, und Ihr selbst legt sicher auch Wert darauf, Euch von bestimmten anderen deutlich zu unterscheiden. (Gerechterweise werdet Ihr wohl zugeben, daß es diesen anderen mit Euch genauso gehen könnte.) Jeder hat seine Vorlieben, Gewohnheiten und Ideen, die ihm ganz selbstverständlich sind, die aber andere Leute ziemlich unmöglich finden.

Weil die Menschen so verschieden sind und das auch bleiben wollen, ist es so wichtig, daß sie wenigstens in einem Punkt alle gleich sind, wenn sie friedlich Zusammenleben wollen: Alle Menschen müssen akzeptieren, daß nicht alle Menschen gleich sind. Sie müssen ihre Verschiedenheit gegenseitig anerkennen. Einfach gesagt: Sie müssen tolerant sein. Leben und leben lassen. Tu mir nichts, ich tu dir auch nichts.

Bekanntlich geht es in der Welt aber nicht so friedlich zu, wie die meisten Menschen heute sich das wünschen. Wir erwähnen das »heute«, weil es noch nicht lange her ist, daß Kriege für etwas Selbstverständliches gehalten wurden und sogar richtige Begeisterung auslösen konnten. Der Krieg als normales oder jedenfalls »letztes« Mittel der Politik ist sogar heute noch nicht überall abgeschafft. Aber nicht nur Militärs üben Gewalt aus.

Auch sonst gibt es jede Menge Streit und Zank und Kämpfe. Wild gewordene Fußballfans, prügelnde Polizisten, Terroristen von links gegen reiche Schweine, Terroristen von rechts gegen arme Schweine, Schlägertrupps und Hausanzünder, massenweise vergewaltigende Männer und mißhandelnde Eltern und und und: Viele Menschen tragen offenbar unter den gegebenen Umständen viel Gewalt mit sich herum. Wenn es keine Gesetze und keine Polizei gäbe, wäre das Leben unter den heutigen Bedingungen vielleicht wirklich ein Krieg aller gegen alle. Immer wenn sich besonders abscheuliche Gewalttaten häufen, gibt es Diskussionen darüber, »woher diese Gewalt kommt«. Und dann sagen manche (früher sagten das fast alle, auch berühmte Wissenschaftler), der Mensch sei nun mal leider böse, er habe einen Trieb zur Gewalt, einen »Aggressionstrieb« und was noch alles, jedenfalls seien die Menschen von Natur aus nicht dazu veranlagt, friedlich zusammenzuleben. Sie müßten künstlich, von außen, mehr oder weniger mit Gewalt, dazu gebracht werden, keine Gewalt anzuwenden (jedenfalls nicht »auf eigene Faust«; wenn sie »von oben« befohlen wird, gilt selbst die brutalste Gewalt als rechtens). Letztlich sei der Mensch nur durch Strafen – und die Angst vor Strafen – zu rücksichtsvollem und verantwortlichem Handeln zu bringen. Wenn also Menschen gewalttätig würden, liege das erstens an ihrer Natur und zweitens daran, daß ihre Angst vor Strafen nicht stark genug sei. So werden dann strengere Gesetze gefordert, härtere Strafen, mehr Polizei und mehr »Mut zur Erziehung«.

Jetzt kommen wir mal zwischendurch zu einem anderen Thema. Ihr wißt ja ebenso wie wir, daß es zwischen zwei Menschengruppen nicht nur einen kleinen Unterschied gibt, sondern auch jede Menge Probleme. Nicht selten wird sogar vom »Krieg« oder »Kampf der Geschlechter« gesprochen, von der »Herrschaft« des »Patriarchats«, vom »starken Geschlecht« und den »Waffen der Frau«. Noch vor achtzig Jahren hatten die Männer gegenüber ihren Ehefrauen offiziell das »Züchtigungsrecht«. Wenn die Frau dem Mann nicht gehorchte, durfte der Mann die Frau so lange verprügeln oder einsperren oder sonstwie bestrafen, bis sie »zur Einsicht kam« und wieder tat, was der Mann verlangte.

Das ist heute anders. Ein paar Männchen meinen zwar, daß das eine schöne Zeit gewesen sei, aber nur wenige würden wohl im Ernst diese Zustände wieder einführen wollen – und wenn, dann würden sie es nicht schaffen, weil die Mädchen und Frauen sich das nicht gefallen lassen würden.

Die Zeiten haben sich geändert; genauer gesagt, sie wurden geändert, von Frauen und Männern, die die alten Gesetze für falsch hielten. Gesetze fallen nicht vom Himmel, weder die alten noch die neuen, sondern werden von Menschen gemacht. Wenn sich das Bewußtsein, das Denken der Menschen verändert, werden über kurz oder lang auch die entsprechenden Gesetze geändert. Gesetze hinken also oft hinter der Wirklichkeit her.

Andererseits aber können dieselben Gesetze gleichzeitig auch so gestaltet sein, daß sie der Wirklichkeit »voraushinken«. Zum Beispiel steht im deutschen Grundgesetz der Satz: »Männer und Frauen sind gleichberechtigt.« (In der Verfassung der DDR stand: »Mann und Frau sind gleichberechtigt.«). In der Wirklichkeit werden aber Frauen nicht nur weiterhin offiziell benachteiligt – etwa durch geringere Löhne für gleiche Arbeit oder schlechtere Chancen auf alle möglichen Führungsposten –, sondern sie werden auch im Privatleben von Männern oft nicht so respektvoll behandelt, wie es ihnen als Gleichberechtigte zustehen würde. Die Gleichberechtigung steht zwar im Gesetz, aber die Wirklichkeit hinkt dem Gesetz hinterher. So heißt es in einem Zeitungsartikel vom 18.01.94:

»Bonn (dpa) – Für die Gleichberechtigung von Frauen und Männern muß mehr getan werden. Das meinen mehr als 60 % der Bürgerinnen. Vor allem in Ostdeutschland wird in dieser Beziehung der Frust immer größer. Dies ergab die zweite repräsentative Umfrage zu diesem Thema, deren Ergebnisse Bundesfrauenministerin Angela Merkel gestern vorstellte. Gegenüber derselben Befragung vor zwei Jahren sei festzustellen, daß der Stand der Gleichberechtigung unverändert ungenügend sei, sagte Merkel.«

Die Wirklichkeit ist also noch nicht soweit, wie das Gesetz es will, und wie wir es wollen. Das Gesetz ist eine Sache, aber das alltägliche Denken und Tun der Menschen – ja klar, auch ihr Fühlen – ist eine andere Sache. Wenn von »Gleichberechtigung« gesprochen wird, können Gesetze und etwa statistische Tatsachen gemeint sein oder aber eher die persönliche Einstellung der Menschen, ihr Bewußtsein, ihr Verhalten. »Gleichberechtigung« hat also zwei Aspekte, einen öffentlichen und einen privaten. Das gleiche gilt auch für den Begriff »Recht«. Bestimmte Rechte habe ich aufgrund der »Rechtslage«, also der staatlichen Gesetze, und für die ist die staatliche »Rechtsprechung« zuständig; viele andere Rechte kann ich nicht auf dem »Rechtsweg« einklagen, aber trotzdem berufe ich mich sehr oft auf sie: wenn ich mich »ungerecht« behandelt fühle, wenn ich mich »rechtfertige« oder »rechthaberisch« bin und so weiter. Oft bedeutet die Silbe »recht« nichts anderes als »richtig« im Sinne von »wahr« oder auch »gut«, was dann schon die Brücke baut zu »gerecht« im Sinne von »fair«. So wie es heute noch Kinder gibt, die ihre Eltern als »streng, aber gerecht« bezeichnen, gab es vor hundert Jahren Frauen, die dasselbe über ihre Männer sagten. Wie würde das klingen, wenn das heutzutage eine Frau über ihren Mann sagen würde? Oder wenn sie ihn »gnädig« und »nachsichtig« nennt?

Viele sprachliche Ausdrücke zeigen sehr deutlich, ob Menschen gleichberechtigt miteinander umgehen oder ob der eine sich als »etwas Besseres« aufspielt und sich das »Recht« nimmt, den anderen »von oben herab« anzusehen, anzusprechen, zu beurteilen, zu »behandeln«. Wenn eine Frau sagt, ihr Mann würde ihr dies oder jenes »nicht erlauben«, und wenn ein Mann sagt, seine Frau habe ihm dies und jenes »verboten«, dann wissen wir sofort, wer von den beiden »die Hosen anhat«. Allerdings gibt es keine Obertanen ohne Untertanen. In der Vergangenheit haben sich Menschen mit Zuständen zufriedengegeben und sich Sachen gefallen lassen, die wir Heutigen nur sehr schwer begreifen können. In Deutschland haben wir das aktuelle Beispiel aus der früheren DDR; aber wir können auch an viel brutalere Diktaturen denken, an die Sklaverei oder die Hexenverfolgungen, um zu sehen, wie stark sich das menschliche Gefühl für Normalität und Gerechtigkeit verändern kann, wie zeitgebunden die Maßstäbe sind, an denen Menschen sich gefühlsmäßig und gedanklich orientieren.

 

Allerdings: Das Rechtsempfinden des Menschen steht in enger Verbindung mit den jeweiligen Machtverhältnissen. Der Satz: »Wer die Macht hat, hat das Recht« gilt zwar heute nicht uneingeschränkt, kommt aber auch nicht von ungefähr. In vordemokratischen Zeiten dienten die Gesetze in erster Linie den Mächtigen, den Herrschenden. Im Laufe der Jahrhunderte haben aber die Ohnmächtigen, die Beherrschten zunehmend an Selbstbewußtsein gewonnen, ihren andressierten blinden Gehorsam abgelegt, Widerstand geleistet, sogar Revolutionen durchgekämpft. Dabei ist nicht zu übersehen, daß Frauen zwar an dieser Entwicklung zur Demokratie immer beteiligt waren, daß aber hauptsächlich die Männer von ihr profitierten. Das Motto »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit« der Französischen Revolution war wörtlich so gemeint; die Schwestern, die Frauen, hatten weiterhin politisch nichts zu sagen. Menschenrechte wurden eindeutig als Männerrechte verstanden.

Inzwischen, aber erst seit diesem Jahrhundert, haben die Frauen auch politisch eine Stimme, das Wahlrecht, aber die patriarchalische Tradition ist noch nicht Vergangenheit. Sogar dort, wo Frauen tatsächlich die gleichen Rechte wie Männer haben, haben sie keineswegs die gleiche Macht. Feministinnen fordern deshalb jetzt nicht nur »Gleichberechtigung«, sondern »Gleichstellung« für die Frauen, notfalls durch Quotenregelungen (die sicherstellen, daß bei gleicher Qualifikation eine Frau einem Mann vorgezogen wird, solange in den jeweiligen Positionen Frauen noch unterrepräsentiert sind). Denn: »Wer wartet und nur auf Bewußtseinswandel setzt, der muß sich auf weitere hundert Jahre einlassen.« (Bundestagspräsidentin Rita Süßmuth, zitiert in: Die Zeit, 28. 01. 94)

Vielleicht stört es Euch, liebe Mit-Bewußtseinswandelnde, daß wir so zwischen Vergangenheit und Gegenwart hin- und herspringen. Aber wenn man die geschichtlichen Entwicklungen nicht berücksichtigt, hält man die eigenen Erfahrungen und Gewohnheiten leicht für selbstverständlich und kümmert sich nicht um die Bedingungen, unter denen sie so und nicht anders geworden sind. Man hält Zustände für »natürlich« und dauerhaft, die doch in Wirklichkeit Folgen konkreter menschlicher Entscheidungen und damit keineswegs unveränderlich sind. Die demokratische Staatsform, in der wir heute leben, ist keine Selbstverständlichkeit, sondern eine Errungenschaft, die auch wieder verlorengehen kann. Andererseits leben wir noch lange nicht in einer friedlichen und gerechten Gesellschaft. Gerade heutzutage hängt sehr viel davon ab, ob die Leute sich für öffentliche Angelegenheiten interessieren und wofür sie sich engagieren.

Damit sind wir schon beim nächsten Thema, der Frage, worauf es dabei in allererster Linie ankommt. In allererster Linie kommt es heute und morgen darauf an, wer sich für die öffentlichen Belange engagiert. Wir benutzen eine einfache Unterscheidung und sprechen von »Machtmenschen« auf der einen und »Mitmenschen« auf der anderen Seite. Wir sind sicher, daß das Patriarchat längst tot wäre, wenn die »Mitmenschen« nicht so lange das hingenommen (und mitgemacht) hätten, was die »Machtmenschen« so alles unternommen haben.

»Machtmenschen« und »Mitmenschen« haben verschiedene Weltanschauungen und Prioritäten. Unterschiedliche Dinge erscheinen ihnen als mehr oder weniger wichtig, wertvoll, gut. Ein paar Andeutungen genügen, um den Unterschied zu verdeutlichen: Die »Mitmenschen« legen besonderen Wert auf Gemeinsamkeit mit anderen, sie haben einen starken Gruppen-, Freundschafts-, Familiensinn, ihnen ist Zusammenarbeit angenehmer als Konkurrenz, ihr Wir-Gefühl ist stärker als ihr Ich-Gefühl, sie bevorzugen Anzeichen der Gleichheit mit anderen gegenüber Anzeichen der Ungleichheit, sie betonen Verständnis, Einfühlsamkeit, Harmonie mehr als Durchsetzungsvermögen, Autorität, Rechthaberei. Sie haben kein Problem, mit anderen Menschen von gleich zu gleich zu verkehren, sich einzuordnen, neben ihrem eigenen Standpunkt auch andere Standpunkte als berechtigt, als gleichberechtigt anzuerkennen. Na, und so weiter. »Mitmenschen« sind eben Mitmenschen. »Machtmenschen« sind natürlich auch Mitmenschen, keine »Gegenmenschen« oder gar »Unmenschen«. Sie sehen ihre Mitmenschen aber eher als Konkurrenten an, die nicht grundsätzlich neben, sondern entweder über oder unter ihnen stehen. Das Machen, Eingreifen, Andern, Kontrollieren, Befehlen, Besitzen, Festhalten, Manipulieren, Führen, Herrschen, Belehren, Im-Griff-Haben, Regieren, Missionieren, Erobern, Unterdrücken und so weiter ist ihr Lebenselement. Sie sehen andere Leute seltener und weniger klar als Subjekte an, öfter und stärker als Objekte. Sie selbst erleben sich freilich nicht als Unterdrücker oder Ausbeuter, sondern sprechen gern vom Formen, Helfen, Fördern, Entwickeln, sogar vom Dienen und besonders von Verantwortung.

Genaugenommen haben wir hier nicht – grob genug – zwei Menschentypen beschrieben, sondern zwei Einstellungen, Denkweisen, Mentalitäten. Die kommen erstens in jedem Menschen vor, zweitens aber in unterschiedlicher Stärke, und drittens kommt es immer noch auf die Zusammenhänge und Situationen an. Der Manager, der in seinem Betrieb der absolute Macher ist, kann zu Hause, wenn er vielleicht mit einem weinenden Baby allein ist, dessen Windel gewechselt werden müßte, in totaler Hilflosigkeit verzweifeln. Und die Sekretärin, die im Büro den Ruf hat, immer verständnisvoll und auf Harmonie bedacht zu sein, kann etwa ihren Kindern gegenüber durchaus als ziemlicher »Drachen« auftreten, sie herumkommandieren, bei Ungehorsam bestrafen und ähnliches. Trotzdem kann man bei vielen Menschen deutlich erkennen, daß sie, alles in allem, für das Machen, die Macht, das Oben-unten-Denken eine starke Ader haben, während andere mehr die mitmenschliche Mentalität zeigen.

Kommen wir zurück zu den »öffentlichen Angelegenheiten« und der Frage, wer sich für diese engagiert, dann kommen wir zu einer erschütternden Feststellung: Demokratie hin, Demokratie her, es gibt heute noch massenhaft Machtmenschen, und logischerweise sind es vor allem diese Leute, die sich in allen Bereichen (Politik, Wirtschaft, Kultur, Bildungswesen …) nach den mit Macht ausgestatteten Positionen drängen. Die Mitmenschen andererseits lassen häufig »die da oben« werkeln und tun, sie halten sich raus, schimpfen nur ein bißchen, wenn die Macher zuviel Mist machen, aber im Prinzip kümmern sie sich um ihre eigenen Angelegenheiten, nennen Politik oft ein »schmutziges Geschäft« und überlassen es denen, die sich darum reißen. Wenn die Menschheit sich selbst ausrottet – und wir alle wissen, daß sie auf dem besten Wege dazu ist –, dann nicht zuletzt deshalb, weil die Mitmenschen nicht begriffen haben, daß sie die öffentlichen Angelegenheiten nicht den Machtmenschen überlassen dürfen.

Wir machen jetzt mal wieder einen Absatz und greifen das Geschlechterthema auf. Bekanntlich finden sich unter den Machtmenschen heutzutage mehr Männer als Frauen. Ob das immer so war, ist unter den Fachleuten umstritten. In den letzten Jahren setzt sich aber immer mehr die Erkenntnis durch, daß von Natur aus nicht die Männer das »starke Geschlecht« sind, sondern die Frauen. Als sich im Lauf der Evolution das menschliche Bewußtsein entwickelte und damit das Wissen um die eigene Sterblichkeit, mußten die Männer erkennen, daß sie biologisch extrem benachteiligt sind. Bei den in Horden lebenden Jägern und Sammlern kannten die Männchen wahrscheinlich lange Zeit nicht einmal ihren eigenen Beitrag zur Fortpflanzung (evolutionstheoretisch gesagt: zur Erhaltung der Art). Bestimmt aber konnte das einzelne Männchen nie sicher sein, ob es sich wirklich nützlich gemacht und ein Kind gezeugt hatte, während sich das einzelne Weibchen über ihre Mutterschaft naturgemäß nicht im unklaren war. Wenn eine Mutter an ihr unausweichliches Sterben dachte, wußte sie, daß ihre Kinder (ihr eigen »Fleisch und Blut«) sie überleben würden. Das gab ihr ein sicheres Gefühl von Wichtigkeit, Bedeutung, eine unbezweifelbare Existenzberechtigung. Diese Sicherheit stand den Männchen nicht zur Verfügung. Sie konnten sich mit ihrer stärkeren Muskelkraft zwar auf andere Weise nützlich machen (als Arbeiter, Beschützer, Versorger, Erfinder …), aber jedenfalls mußten sie um Anerkennung und Ansehen viel mehr kämpfen als die Weibchen. (Noch heute gibt es offensichtlich mehr männliche Angeber und Wichtigtuer als weibliche.)

Die einzige Möglichkeit für ein Männchen, sich als stolzer Vater fühlen zu können, bestand darin, sicherzustellen, daß überhaupt nur er als Vater (Erzeuger) in Frage kam. Wenn die Weibchen nicht mehr die Möglichkeit hatten, sich alle möglichen Sexualpartner auszusuchen, sondern wenn ein bestimmtes Männchen ein oder mehrere Weibchen in seinen Besitz nahm, dann konnte er sicher sein, daß er der Vater ihrer Kinder war und somit ein Teil von ihm seinen Tod überleben würde.

Es gibt noch eine Reihe anderer Gründe für einen ursprünglichen Minderwertigkeitskomplex des männlichen Geschlechts (das äußerlich sichtbar versagen kann, um nur ein Beispiel zu nennen). Insgesamt spricht vieles dafür und eigentlich nichts dagegen, die Herrschaft des Mannes, das Patriarchat, als Reaktion auf die natürliche Unterlegenheit des Mannes zu deuten. Der Einfachheit halber benutzen wir jetzt das Wort »Ohnmacht« für den Zustand der Abhängigkeit, Unsicherheit, relativen Unwichtigkeit, ja Bedeutungslosigkeit im frühmenschlichen Selbstverständnis. Wer einerseits eine andauernde existentielle Unzufriedenheit spürt, andererseits keine Möglichkeit sieht, diesen Zustand zu ändern, der fühlt sich hilflos, eben: ohnmächtig. Um aus dieser Ohnmacht herauszukommen, haben die Männer die Macht ergriffen; mit Muskelkraft, Erfindergeist (Waffen), nicht zuletzt mit Hilfe der Frauen, die zunächst gar nicht bemerken konnten, was da vor sich ging und woran sie zumindest dadurch mitwirkten, daß sie sich nicht energisch genug zur Wehr setzten. Egal. Nach dieser Theorie entstand die Männerherrschaft als Antwort auf die natürliche Überlegenheit der Frau. Die Männer wollten nicht länger »unten« sein, also strebten sie, auch mit Gewalt, nach »oben« und sorgten – zunächst durch religiöse, dann auch durch staatliche Gesetze – dafür, daß die Frauen sie nicht mehr von da »oben« vertreiben konnten. Die Frauen mußten »unten« bleiben, machtlos und rechtlos. (Frauen, die das nicht akzeptieren wollten, wurden zum Beispiel im ausgehenden Mittelalter millionenfach als »Hexen« verbrannt.) Das ging am leichtesten, wenn man die Frauen gar nicht als richtige Menschen ansah und sie von Kindheit an so behandelte, daß sie diese Ansicht selbst als die einzig mögliche, also die richtige, ansahen. Nach zahlreichen Untersuchungen sind auch heute noch nicht wenige Frauen der Ansicht, dem minderwertigen Geschlecht anzugehören, und sind von sich aus bereit, sich einem Mann unterzuordnen.

Wenn alle diese Überlegungen einen wahren Kern enthalten (was wir annehmen), können wir sagen, daß »der Mann« zunächst einmal berechtigt war, aus seiner Ohnmacht in die Richtung der Macht, nach »oben«, zu streben. Er wollte sich nur sichern. Sein Fehler lag dann in einer – verständlichen – Übertreibung. Aus heutiger Sicht (wo wir Erfahrungen mit bewußt gestalteten demokratischen Verhältnissen haben) wäre es damals richtig gewesen, wenn der Mann in bezug auf Macht und Recht mit der Frau einfach nur gleichgezogen hätte, statt von einem Extrem ins andere zu fallen.

Es ist nicht ganz sinnlos, aus heutiger Sicht so über die »graue Vorzeit« zu spekulieren. Damals konnte es die Idee der Gleichheit aller Menschen noch gar nicht geben. Aber heute gibt es sie. Wenn die modernen Menschen verstehen, daß die Männerherrschaft ursprünglich nicht als Machtmißbrauch des ohnehin stärkeren Geschlechts entstand, sondern als Übertreibung des berechtigten Interesses von Männern, ihre in existentiellen Fragen unsichere und abhängige Position aufzuwerten, dann ist für beide Geschlechter der Weg zu einer friedlichen Koexistenz geebnet. Unter demokratischen Vorzeichen hat kein Mensch das Recht, sich über andere Menschen zu erheben. Und umgekehrt kann von keinem Menschen verlangt werden, sich von anderen Menschen bevormunden und unterdrücken zu lassen. Es besteht also heute die Aufgabe, überall dort, wo die Gleichberechtigung aller Menschen noch nicht erreicht ist, Wege zu finden, die diesem Ziel dienen – ohne in die alten Fehler zu verfallen und Machtkämpfe über die »Mittellinie« des »Unentschieden« hinaus zu führen.

 

Weil wir in unserer Weltgegend in Sachen Gleichberechtigung der Geschlechter trotz allem schon ziemlich »verwöhnt« sind, werfen wir mal einen Blick über den europäischen Tellerrand. Hier ein paar Sätze von Bangladeschs berühmtester Schriftstellerin, der Feministin Taslima Nasrin, gerichtet an ihre Geschlechtsgenossinnen:

»Wenn du ein Mensch bist, zerreiße die Fesseln und richte dich auf. Sprenge die Ketten mit deinen Händen, denn es sind deine Hände. Laufe mit deinen Füßen, denn es sind deine Füße.

Schaue dem Leben mit deinen Augen ins Gesicht, denn es sind deine Augen. Lache, denn der Mund, die Augen, das Gesicht, sie sind dein. Du gehörst dir ganz und gar. Du gehörst nur dir selbst.

Sieh, sie kommen, um dich zu beißen, dich zu schmecken, dich zu zerreißen; sie sind nur ein anderes Wort für Tod. Sie sind ein anderes Wort für Barbarei, und sie sind gekommen, um dich zu trinken, zu verschlingen, zu zerbrechen. Das sind Männer. Das sind keine Menschen.

Nimm dich in acht, Frau. Die Männer, die zu dir kommen, leben mit ungezügelter Leidenschaft, mit ungezügelter Wut.«

Wenn man die Lage der Frauen in Bangladesch kennt, wundert man sich über diese Töne nicht. Eher bewundert man den Mut dieser Frau (für deren Ermordung am 23. September 1993 eine Belohnung von 1250 US-Dollar ausgesetzt wurde). Aber wenn sie innerhalb von 42 kurzen Zeitungszeilen viermal den Satz schreibt:

»Das sind keine Menschen, das sind Männer«, dann kann man wohl auf den Gedanken kommen, daß auch hier ein berechtigtes Anliegen in Form einer Übertreibung vertreten wird. Zwei weitere Sätze: »Ich bin stolz, daß ich eine Frau bin. Und weil ich eine Frau bin, ist jeder Blutstropfen in mir rein.«

(Alle Zitate aus der tageszeitung, 29. 01. 94, S. 13/14)

Vielleicht klingen solche Übertreibungen nicht besonders schlimm. Es sind ja nur Worte. Es sind aber Worte, denen nicht einmal die aufgeklärtesten Männer zustimmen können. Ein Mann kann solche Aussagen verstehen, er kann Verständnis für sie haben, aber er kann mit ihnen nicht einverstanden sein. Und die Männer, die eigentlich gemeint sind (die in Staat, Kirche, Gesellschaft und Familie Herrschenden), haben durch solche Aussagen einen Vorwand, sich mit dem berechtigten Anliegen der Autorin, der unterdrückten Frauen, nicht beschäftigen zu müssen. Gerade weil das Macho-Verhalten, der Chauvinismus, die Kraftprotzerei der Männchen nicht Zeichen von Stärke sind, sondern von Schwäche (die verborgen und überspielt werden »muß«, solange sie nicht in das – auch von Frauen gepflegte – männliche Rollenklischee paßt), gerade deshalb sind die Männer nicht in der Lage, die Wahrheit der Frauen zur Kenntnis zu nehmen. Wären die Männer wirklich stark, könnten sie diese Wahrheit verkraften. Sie könnten den Versuch wagen, sich einmal gedanklich in die Lage einer unterdrückten und ausgebeuteten Frau zu versetzen. Weil sie aber innerlich schwach sind und die künstliche Fassade der äußeren Macht dringend benötigen, um so etwas wie Selbstachtung erleben zu können, lehnen sie es als unmännlich, unwürdig, »weibisch« ab, die Welt auch vom Standpunkt der Frauen aus zu betrachten. Viele Männer können es sich einfach psychisch nicht leisten, die Überlegenheit ihres Geschlechts auch nur versuchsweise in Frage zu stellen. Der Männlichkeitswahn, »oben« zu sein, kann einfach angesehen werden als Mittel gegen die wahnsinnige Angst davor, »unten« zu sein. (Und diese Angst wird natürlich geschürt, wenn Frauen ihnen sogar das Menschsein absprechen …)

Sobald man aus dem Streit, welches Geschlecht von Natur aus besser, wertvoller, stärker sei, ausgestiegen ist, kann man als Mann ruhig eine biologische Überlegenheit der Frau anerkennen, weil man dadurch nicht benachteiligt wird. Die Gleichberechtigung der Geschlechter ist keine natürliche Sache, sondern eine künstliche. Wenn Männer und Frauen sich auf dieses Prinzip verständigen, haben beide Seiten den Vorteil, nicht mehr um Vormacht und Vorrechte gegeneinander kämpfen zu müssen. Dann kommt der menschliche Verstand erst richtig zum Zug und kann für viele Probleme Lösungen ersinnen, die jeweils alle Beteiligten zufriedenstellen. Das beste Beispiel für eine solche Lösung kennt schon jedes Kind: Wenn sich zwei Menschen etwas teilen wollen, ohne darum (wie etwa Tiere) zu kämpfen, ist die gerechte Lösung, daß der eine Mensch die Sache teilt und der andere die Teile verteilt. Das ist eine typische Friedensregel. Sie führt eigentlich immer zu beiderseitiger Zufriedenheit, besonders wenn zusätzlich ausgemacht wird, daß die Rollen des Teilers und des Verteilers abwechselnd gespielt werden. Haben wir alle schon genügend über die Prinzipien nachgedacht, die hinter dieser Regel stecken? (Ein Hauptprinzip ist wohl die Kooperation: Gerechtigkeit ist nicht die Sache eines einzelnen, sondern umfaßt alle Beteiligten.)

Voraussetzung dafür, daß solche Friedensregeln gefunden und praktiziert werden, ist der Wunsch aller Beteiligten, daß alle Beteiligten mit dem Ergebnis zufrieden sein können. Und wenn nicht alle diesen Wunsch, also dieses gefühlsmäßige Wollen haben, müssen sie wenigstens einsehen, also verstandesgemäß akzeptieren, daß Frieden, Gerechtigkeit und Zusammenarbeit grundsätzlich für alle besser sind als ständige Kämpfe um kurzfristige Vorteile.

Die Welt sähe anders aus, wenn dieser Wunsch oder wenigstens diese Einsicht allgemein vorhanden wäre. Und nun kommt die entscheidende Frage: Liegt es wirklich in erster Linie am Patriarchat, an der Dominanz des Mannes, daß die Menschen auch unter demokratischen Bedingungen nicht friedlich Zusammenleben? Daß es so viel Gewalt, Ungerechtigkeit, Unvernunft und Unglück gibt? Haben diejenigen recht, die die Schuld immer wieder den Männern zuschieben?

Natürlich sind wir anderer Meinung. Betrachtet man die menschlichen Dinge mit kühlem Kopf, kann sich der Eindruck aufdrängen, daß sich hinter der Männerherrschaft über die Frauen eine ganz andere Herrschaft verbirgt: die der Erwachsenen über die Kinder.

Wir werden dieses Thema in unserem Buch selbstverständlich genauer behandeln. Im Augenblick erscheint es uns wichtig, zu erwähnen, daß sich die Erwachsenenherrschaft (oft auch »Adultismus« genannt, von lateinisch »adultus« = erwachsen) genaugenommen gar nicht »verbirgt«: Diese Herrschaft tritt überall offen zutage. Was den meisten Menschen noch verborgen ist, ist nicht die Tatsache des Adultismus selbst. Auch seine schädlichen Auswirkungen sind weitgehend bekannt: Tausende von »Therapeuten« führen die Probleme Erwachsener immer wieder auf Kindheitserfahrungen zurück. Regelmäßig heißt es dann, die Erwachsenen sollten jetzt richtig erwachsen werden, sich von ihrer Kindheit verabschieden, sich »reif« verhalten, nicht mehr so, wie es in ihrer Kindheit angemessen oder nötig war. Kinder seien nun mal ohnmächtig, abhängig, hilflos, aber jetzt seien sie Erwachsene und keine Kinder mehr. Der Einfachheit halber formulieren wir zusammenfassend: Die Erwachsenenherrschaft sei zwar nötig, weil Kinder eben Kinder seien, aber jetzt sei es nötig, sich aus der Opferrolle zu befreien und das Leben in die eigene Hand zu nehmen. Und nun der »verborgene« Punkt: Den meisten Menschen ist noch unbekannt, daß die Erwachsenenherrschaft unter demokratischen Bedingungen keineswegs nötig ist. Die meisten Menschen können sich einfach nicht vorstellen, wie das Leben mit Kindern ohne eine – mehr oder weniger strenge oder milde – Erwachsenenherrschaft funktionieren könnte.

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