Gleichberechtigung im Kinderzimmer

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Sicher ließen sich die genannten Probleme auch anders bewältigen; aber wir haben uns von der Zielvorstellung leiten lassen, den »Weg zum Frieden« möglichst einfach verständlich und direkt nutzbringend zu beschreiben (anstatt beispielsweise auf akademische Gepflogenheiten Rücksicht zu nehmen oder auf tages- und parteipolitische Konsequenzen zu spekulieren). Genau genommen beschreiben wir nicht einen bestimmten Weg, der Schritt für Schritt gegangen werden sollte – wir können und wollen niemandem etwas »vorschreiben« oder gar »Vorschriften machen« –, sondern wir wollen einige traditionelle, aber heute durchschaubare Irrwege, Fallen, Abgründe, Stolpersteine, Hürden, Sackgassen … oder einfach Denkfehler kenntlich machen, deren Vermeidung den Blick freigibt zugleich auf Ziel und Weg und zugleich für »Kopf« und »Herz« und »Bauch«. Die Bestätigung, daß die Gleichberechtigung im Kinderzimmer funktioniert, ist für uns eine Selbstverständlichkeit, sagt aber noch nichts darüber, warum und wie sie funktioniert. »Selbstverständlich« ist die hundertprozentige Zustimmung der »Kinder« einfach deshalb, weil sie nicht mehr oder weniger passiv, als Objekte oder gar Opfer bestimmten elterlichen Verhaltensweisen ausgesetzt waren, sondern aktiv, als Subjekte und vielfach auch Ideengeber das Familienleben mitgestalteten, und zwar gleichberechtigt, also optimal. Auch in anderen Familien sind Kinder nicht passive Objekte, sondern aktive Mitgestalter; aber häufig bleibt ihnen keine andere Wahl, als um ihre Rechte, ihre Freiheit, ihre Selbstachtung gegen die Eltern zu kämpfen. Sie gestalten also nicht gute »Liebes«-Beziehungen gleichberechtigt mit, sondern finden sich in Machtbeziehungen verstrickt, in denen (mindestens) die Gesetze der Konkurrenz gelten, nicht die der Kooperation. Obwohl wir mit vielen Weisen der Meinung sind, daß es besser ist, eine Kerze anzuzünden, als über die Dunkelheit zu klagen, werden wir nicht ganz auf eine – allerdings kurze und bruchstückhafte – »Bestandsaufnahme« (nächstes Kapitel) und die darauf folgende Einordnung unseres Themas in »größere« Zusammenhänge verzichten. Um in dem zitierten Bild der »Weisen« zu bleiben: Unsere eigenen Kerzen brennen schließlich munter genug vor sich hin. In unserem Buch aber müssen wir erst einmal zeigen, warum es sich lohnen soll, daß auch andere Menschen sich um Kerzen und Streichhölzer bemühen, und dabei nicht riskieren, daß alles in Feuer und Flammen aufgeht, sondern erreichen, daß ihr Leben nur einfach wärmer und heller wird.

Zivilisation und Gewalt

Zusammengewürfelte Bestandsaufnahme

mit Gedankensplittern

Grundsatzaussagen

»Grundsätzlich bin ich ja auch gegen Gewalt«, sagt eine verzweifelte Mutter im Supermarkt, »aber der Kleine muß doch einsehen, daß ich ihm nicht alles kaufen kann, was er haben will!« Kinder müssen doch lernen, daß daß nicht Kinder brauchen Grenzen; eine starke Hand; Führung; Liebe …; natürlich sind Kinder Menschen, aber ich bin auch nur ein Mensch, da reißt eben manchmal der Geduldsfaden; platzt der Kragen; rutscht die Hand aus …

Solche Aussagen sind weit verbreitet. Sie haben ihre Gründe. Diese Gründe sind leicht zu verstehen.

Zusätzlich haben solche Aussagen gedankliche Hintergründe und handfeste Folgen. Die sind nicht so leicht zu verstehen. Die Hintergründe sind in der Regel nicht bewußt, die Folgen nicht beabsichtigt.

Wer solchen Aussagen widerspricht oder die entsprechenden (Miß-)Handlungen kritisiert, erreicht seinerseits kaum je das, was er erreichen wollte. Normalerweise fühlen sich die Angesprochenen persönlich angegriffen, und demzufolge verteidigen sie sich. Sie rechtfertigen ihre Gründe und Absichten desto energischer, je ernsthafter sie in Frage gestellt werden. Auf dieser Ebene finden seit langem und immer wieder praktisch überall, öffentlich und privat, Auseinandersetzungen statt, die genaugenommen zu nichts führen können. Denn wenn Besserwisser sich streiten, hat das bessere Wissen keine Chance. (Hinweis für unsere Leserinnen und Leser: Je mehr solcher Streitereien, die Sie selbst mitgemacht oder verfolgt haben, Sie sich jetzt in Erinnerung rufen, desto klarer wird Ihnen deren Struktur. Wir gehen davon aus, daß Sie selbst über für Sie viel überzeugendere Beispiele verfügen, als wir sie auf Dutzenden von Seiten präsentieren könnten.)

Elterliche Verantwortung

»Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr.« »Das Kind ist der Vater des Erwachsenen.« »Die Hand an der Wiege regiert die Welt.« Drei bekannte Sätze, die, wie viele ähnliche, die Bedeutung der Kindheit für das Leben des Menschen unterstreichen und zugleich an die Erwachsenen appellieren, die für die Gestaltung dieser Kindheit zuständig sind. Sie sollen sich ihrer Macht und ihrer Verantwortung bewußt sein oder werden. Es geht nicht um »Kinderkram«, sondern ums Ganze: »Die Kinder sind unsere Zukunft!«

Also propagierten die Vereinten Nationen »Rechte des Kindes«, unter anderem »Das Recht auf Liebe, Verständnis und Geborgenheit« (Kinderkonvention 1989). Ähnlich behauptet die deutsche Bundesregierung: »Jedes Kind hat ein Recht auf Liebe.« (Aktion »Keine Gewalt gegen Kinder«, 1992).

So werden Eltern von »oben« in die Liebespflicht genommen, ganz egal, wie die Kinder sich benehmen. Die Macht und die Verantwortung, die gerade Eltern in bezug auf ihre Kinder zugesprochen wird, überschreitet nicht selten die Grenze zum Größenwahn. In der Wirklichkeit erfahren Eltern immer wieder – oft schmerzlich – die Grenzen ihrer Macht: Sie schaffen es nicht immer, das Baby in den Schlaf zu wiegen, das Kleinkind zu trösten oder aufzumuntern, dem Schulkind wirksam zu helfen, den Gefährdungen der Jugendzeit vorzubeugen – generell wird die Macht der Eltern von so vielen anderen Mächten in die Schranken gewiesen, daß es sogar üblich geworden ist, brutale Gewalt als Folge elterlicher Ohnmacht (Hilflosigkeit) anzusehen; doch die Verantwortung bleibt bei den Eltern, und entsprechend anfällig sind sie für Schuldgefühle. (Je gründlicher Sie jetzt über die Begriffe »Macht« und »Verantwortung« nachdenken, desto deutlicher wird Ihnen, daß beide gedanklich die gleiche »Medaille« bezeichnen, aber seelisch ganz unterschiedlich empfunden werden können.)

Menschenverbesserer in Panik

Regelmäßig wenn Menschen besonders schreckliche Untaten verüben (wir denken jetzt, Anfang 1994, beispielsweise an die Situation im früheren Jugoslawien), reden kluge Leute von »Barbarei« und klagen darüber, daß die »Zivilisation« dem Menschen offenbar trotz aller Bemühungen etwas Äußerliches geblieben sei, nur »Firnis« oder »Tünche«. Unter dieser Oberfläche sei der Mensch eben doch ein »Wolf«, jedenfalls ein höchst gefährliches Wesen, absolut nicht »von Natur aus gut«, wie manche Träumer gelegentlich verkünden.

Auf der gleichen Linie liegen die meisten Reaktionen auf von Kindern und Jugendlichen verübte Gewalttaten. Dann werden strengere Gesetze und auch Erziehungsstrafen gefordert, liberale Umgangsformen kritisiert, Zucht und Unterordnung für die Jungen eingeklagt.

Alle diese Reaktionen sind gut zu verstehen. Im Schrecken über das, was Menschen fertigbringen, wird aber, scheint uns, übersehen, was es mit der vielgepriesenen Zivilisation tatsächlich auf sich hat. Dabei meinen wir nicht bestimmte Charakterzüge und Verhaltensweisen selbst, sondern wollen an die Methoden erinnern, mit denen Menschen seit jeher »zivilisiert wurden«. Die schlichte Unterwerfung – wenn nicht Versklavung und sogar Ausrottung – angeblich »wilder« oder »primitiver« Völker durch Abgesandte der Zivilisation kann ebenso wie die christliche Missionierung »mit Feuer und Schwert« oder durch Verbreitung von Höllenangst nicht beanspruchen, als Musterbeispiel für Frieden und Gleichberechtigung zu dienen. Mit welch brutalen Methoden die Kinder noch vor wenigen Jahrzehnten rigoros zur Anpassung an das gezwungen wurden, was die Erzieher jeweils für richtig hielten, steckt genügend Erwachsenen heute noch »in den Knochen«. Und daß die meisten Kinder in den zivilisierten Weltgegenden auch gegenwärtig noch mehr oder weniger offenen oder subtilen Gewalterfahrungen ausgesetzt sind, ist allgemein bekannt. So bleibt vorerst die Frage offen, ob in Wirklichkeit der »Primitive« und das Kind als gefährliche »Wölfe« anzusehen sind oder nicht vielmehr umgekehrt die »zivilisierten« und »zivilisierenden« Gewalttäter.

Eine befriedigende Antwort auf diese Frage ist für den Frieden auf Erden zentral. Denn wenn nicht das »Wesen« des Menschen verbessert, sondern das Unwesen der Menschenverbesserei abgestellt werden muß, um Frieden möglich – und wirklich – zu machen, dann … (Wir brechen hier ab, um Ihre eigenen Gedanken nicht zu stören. Je besser Sie es schaffen, die gestellte Frage noch nicht endgültig zu beantworten, desto interessanter und ertragreicher wird die weitere Lektüre für Sie sein.)

»Am Anfang war die Pest«

»Am Anfang war Erziehung« heißt ein seinerzeit vielbeachtetes, aber unserer Meinung nach längst nicht ausreichend bekanntes Buch von Alice Miller. Darin schildert die Autorin eindrucksvoll die Kindheit einiger extremer Verbrecher (zum Beispiel Adolf Hitler) und erklärt deren spätere Gewalttaten aus den einst selbst erlittenen Gewaltakten und Demütigungen, die von den jeweiligen Erwachsenen als gutgemeinte und notwendige »Erziehung« verstanden worden waren.

»Am Anfang war die Pest« heißt das zentrale Kapitel des neuesten Buches von Marianne Gronemeyer: »Das Leben als letzte Gelegenheit«. Überraschend, aber überzeugend erklärt die Autorin, wie die geistigen Grundlagen des heute als selbstzerstörerisch erkannten neuzeitlichen Lebensgefühls als Reaktion auf reale Schrecknisse im ausgehenden Mittelalter zu verstehen sind. Neben Kriegen und anderen Katastrophen war es besonders die Pest, die das traditionelle Gottvertrauen zerstörte, das damals ebenso die Natur umfaßte wie den Tod (die Sterblichkeit des Menschen nach Gottes Plan). Durch die Pest wurden der Tod und die Natur zu Feinden des Menschen, gegen die sich zu sichern das vorrangige Bedürfnis entstand. Ein Zitat zur Dimension des Chaos, das die Pest auch unter den Überlebenden anrichtete (S. 10):

 

»Über beinah vier Jahrhunderte (bis zum Jahr 1720) fällt der schwarze Tod die Menschen Europas in ungewissen Abständen aus dem Hinterhalt an. Der Bevölkerungsniedergang in Europa während der großen Pest von 1347 bis 1352 wird von den Historikern unterschiedlich beziffert. Die Schätzungen schwanken zwischen 30 und 50 Prozent der Gesamtbevölkerung. Über einzelne Städte und Regionen weiß man genauere Zahlen. Es gab Städte, in denen während eines oder zweier Jahre 50 bis 65 Prozent der Bewohner dahingerafft wurden.«

In der Schule haben wir gelernt, daß die Neuzeit mit der »Aufklärung« begann, der Befreiung aus dumpfem Aberglauben, einem kühnen Aufbruch der menschlichen Emanzipation. Nun sehen wir, daß in Wahrheit »panisches Entsetzen« (Gronemeyer) die Triebfeder war, die nur zu neuem Aberglauben führte: dem Aberglauben, die Natur durch Wissenschaft und Technik unschädlich machen zu können; sie so perfekt zu unterwerfen, zu beherrschen, umzugestalten, daß der Mensch sich sicher fühlen kann. Die Natur wurde nur erforscht, um sich ihrer bemächtigen zu können; in grenzenloser Überheblichkeit wurden Pläne zur Welt- und Menschenverbesserung entwickelt und über Jahrhunderte Projekte vorangetrieben, die heute als Auswüchse des »Machbarkeitswahns« durchschaut sind. Dieser selbst aber wirkt noch fast ungebremst weiter, ebenso wie die von Gronemeyer aus der gleichen Quelle abgeleitete »Beschleunigung des Lebenstempos« im sinnlosen Kampf gegen die »Zeitknappheit«. (Das »neue Denken«, das heute vielfach gefordert wird, aber doch oft schnell wieder in die alten Bahnen des Mächens, der Selbstüberschätzung und der Gewalt einmündet, würde von Marianne Gronemeyers brillanten Analysen – besonders auch von dem Buch »Die Macht der Bedürfnisse« – mehr profitieren, als wir hier andeuten konnten.)

»Das Leben als dauernde Trotzphase«

könnte beinahe wie eine Fortsetzung von Gronemeyers »Das Leben als letzte Gelegenheit« wirken. Das Buch stellt den zivilisierten Menschen dar als Widerstandskämpfer gegen alles, was nur im entferntesten nach Vernunft riecht. Die Mentalität des wohlerzogenen Individuums ist geprägt vom Beharren auf einmal gefaßten Vorurteilen, einmal vertrauten Gebräuchen und einmal eingeübten Verhaltensweisen; unverblümt geht die Rede vom Menschen als Gewohnheitstier, ganz so, als sei seine herausragende Fähigkeit nicht die Freiheit des Geistes, sondern Rechthaberei und Unbelehrbarkeit. »Ich bin alt genug«, verkündet stolz der Fix- und Fertigerzogene, »ich bin doch kein Kind mehr«, und setzt offen seine Ehre darein, mehr Denkarbeit in die Vertuschung oder Rechtfertigung seiner Fehler zu investieren als in deren Korrektur. Schlägt das Schicksal zu und zwingt ihn zu neuen Einsichten, so tut er alles, um nichts tun zu müssen, keine Konsequenzen zu ziehen, keine neuen Entscheidungen zu treffen, nichts zu lernen.

Die Autoren untermauern ihre Befunde mit zahlreichen Beispielen, von den Liebenden, die aneinander herummeckern, über die Lehrenden, die die Lernfreude zerstören, bis hin zu den Politikern, die ausgerechnet unter den machtgierigsten Egozentrikern erwählt wurden, um dem Gemeinwohl zu dienen, obwohl jedem klar ist, daß sie die Bürger nur ausplündern und an der Nase herumführen können. Aber die Einzelheiten des sprichwörtlichen »alltäglichen Wahnsinns« möchten wir unseren Leserinnen und Lesern ersparen. Jedenfalls zeigt der erste Teil des Buches »Das Leben als dauernde Trotzphase« eindrucksvoll, wie leicht es möglich ist, die moderne Welt als Tollhaus zu beschreiben, in dem fast immer genau das Unvernünftigste geschieht und das Gegenteil des (angeblich) Beabsichtigten erreicht wird.

Im zweiten Teil wird dann geschildert, wie die Menschen von frühester Kindheit an auf dieses Leben vorbereitet, ja »hingetrimmt« werden. Und hier finden sich zahlreiche Beobachtungen, die auch für unser Buch von Bedeutung sind. Allgemein gesagt wird den Kindern die Vernunft systematisch unsympathisch gemacht, indem die Erwachsenen ihnen das Vernünftige mehr oder weniger gewaltsam aufzwingen. In den Gehirnen der Kinder verkoppelt sich zwangsläufig das Vernünftigsein mit dem Gehorsam. Die Kinder wurden »zur Vernunft (französisch: raison) gebracht«, das heißt zur Unterordnung, zum Nachgeben. Dies verletzt natürlich ihren Stolz, ihren Ehrgeiz, ihren Freiheitsdrang, ihre Selbstachtung, ihr Gerechtigkeitsempfinden und beeinträchtigt ihr Gemeinschaftsgefühl, ihr soziales Gewissen, ihre Verantwortungsfähigkeit. Sie speichern unendlich viele Ohnmachts-, Unlust-, Verzichtserfahrungen, und wenn sie dann »groß« sind, streben sie nach Macht, Lust und Konsum ohne Rücksicht auf die Folgen. Ihren Verstand benutzen sie nur noch zur Selbsttäuschung und zur möglichst raffinierten Täuschung und Manipulation anderer.

Angeblich, so die Autoren, erreichen doch noch einige Exemplare ein Ende der Trotzphase, nämlich die »Altersweisheit«. Doch die bleibt kraft- und folgenlos. (Leider gibt es das Buch »Das Leben als dauernde Trotzphase« noch nicht. Wir wollten Ihnen damit Gelegenheit geben, Ihre gesunde Trotzfähigkeit gegen uns zu testen.)

Sprachgebräuche und Redensarten

Beim Militär ist das Prinzip Befehl und Gehorsam normal und sinnvoll. Das Militär ist hierarchisch, von »oben« nach »unten«, organisiert. Ganz oben werden Informationen verarbeitet und Beschlüsse gefaßt, ganz unten wird nur gehorcht. Damit »Schütze Arsch« auch wirklich tut, was ihm gesagt wird, drohen ihm schwere Strafen, falls er es nicht tut. »Die da unten« müssen vor »denen da oben« genügend Angst haben, damit das Militär funktioniert, damit die Menschen zum Krieg fähig werden, damit sie nicht denken, sondern töten und sterben.

In vordemokratischen Zeiten war die zivile Gesellschaft ähnlich organisiert, ebenso wie viele Institutionen, etwa Kirchen, Wirtschaftsbetriebe und auch: Familien. Der Vater war das Oberhaupt, die Mutter hatte ihm zu gehorchen und den Kindern zu befehlen, die Kinder waren »brav«, »artig«, »folgsam«, oder sie wurden bestraft, verstoßen, getötet. Als Belohnung für ihren Gehorsam stand den Kindern vor Augen, daß sie als Erwachsene später selbst zu den Befehlshabern gehören würden. (Internationale Militärweisheit: »Wer befehlen will, muß gehorchen können.«)

Mit der Einführung der Demokratie verschwanden nicht alle hierarchische Strukturen aus der Gesellschaft, auch nicht aus der Familie und der Sprache.

»Darf ich’s wagen, Sie zu fragen …?« »Darf ich bitten?« »Gestatten Sie?« »Darf ich noch ein Brötchen haben?« »Ich weiß nicht, was ich machen soll.« »Was erlaubt der sich?« Manche solcher Redensarten sind nur als Höflichkeit gemeint, aber unbestreitbar fragen Kinder oft, ob sie etwas »dürfen«, »sollen«, oder sogar »müssen«, und auch in heutigen Familien gibt es noch Eltern, die sich von vordemokratischen »Experten« einreden ließen, es sei richtig, Kindern etwas zu befehlen, zu erlauben, zu verbieten und sie bei Ungehorsam zu bestrafen, ansonsten zu loben oder zu belohnen. Das Kind wird kaum anders behandelt als ein Haustier. Kein Gedanke an Gleichberechtigung. Wie Kinder von Eltern, in Kindergärten und Schulen noch oft herumkommandiert werden, spricht für sich. Das gleiche gilt für eine große Zahl von Sprachgewohnheiten, die Kinder verächtlich machen, ihnen ihren Platz ganz unten zuweisen. (Wir bringen hier keine Beispiele, damit wir Ihnen nicht die Idee nahelegen, wir wollten Sie beschämen, falls Sie selbst … Das Problem liegt gerade darin, daß solche Sprachgebräuche ganz unschuldig beibehalten werden, aber dennoch Wirkungen zeitigen. – Vielleicht achten Sie einmal im Alltag darauf, wieviel Respektlosigkeit, Oben-Unten-Denken und damit Unfrieden in Sprachgewohnheiten auch von »Zivilisierten« und »Zivilisten« stecken kann.)

Die Würde des Kindes ist …

Sie ist sehr leicht »antastbar«, wie jeder weiß, obwohl doch eigentlich --- Sind Kinder nicht auch Menschen? Und hat die Würde des Menschen – ihre Unantastbarkeit! – nicht höchsten Rang in der Verfassung?

In Deutschland sagt das Gesetz seit 1980, daß »entwürdigende Erziehungsmaßnahmen« unzulässig sind. Aber wenn dann jemand, der »erziehungsberechtigt« ist, ein Kind demütigt, beleidigt, einsperrt, verprügelt oder sonstwie – unterhalb der Grenze zur Krankenhausreife – schikaniert, erklären die höchsten Juristen, daß dies die Würde des Kindes nicht verletze, weil es ja seiner Erziehung dienen soll.

Warum fällt es vielen Erwachsenen so schwer, den Begriff »Würde des Kindes« überhaupt zu denken? Ganz einfach: Die Leute verwechseln die Menschenwürde mit der Würde von Würdenträgern (»Ehrendoktorwürde«, »Hochwürden«, Funktionäre »in Amt und Würden«, vielleicht dereinst »in Würde ergraut«, »würdevoll gestorben« und »würdig bestattet«). Mit dieser Würde werden bestimmte Leistungen gewürdigt; etwa beim Storch genügt schon sein stolzes (»gravitätisches«) Stolzieren. Ein herumhampelndes Storchenkind würde niemals diesen würdigen Eindruck machen. Und nun erst die Menschenkinder! Plärren die nicht bei jeder Gelegenheit los, als wollte man sie vierteilen?

Um es kurz zu machen: Die Menschenwürde kommt jedem Menschen zu, unabhängig von jeglicher Leistung, gleichgültig, in wie »unwürdigen« Verhältnissen der Mensch leben mag oder wie »würdelos« er sich benimmt. Sie ist als unverlierbar gedacht und in den meisten Verfassungen als »unantastbar« festgeschrieben, damit sie wirklich keinem Menschen abgesprochen werden kann, auch nicht den Allerschwächsten, Allerärmsten und – nach Leistungsgesichtspunkten – Allerunwürdigsten. (Wäre das anders, hätten ja »entwürdigte« Menschen ihre Würde verloren und dürften dann behandelt werden, wie sie – als Menschen – eben nicht behandelt werden dürfen.) Genaugenommen kann es demnach gar keine im Sinne der Menschenwürde »entwürdigenden Erziehungsmaßnahmen« geben. Deshalb eignete sich dieser Gesetzestext (§ 1631 BGB: »Entwürdigende Erziehungsmaßnahmen sind unzulässig«) so gut als politischer Kompromiß. Der Satz klingt kinderfreundlich, besagt aber rein gar nichts. Der Gesetzgeber kann allerdings behaupten und sich einbilden, er hätte Kinder als Menschen anerkannt und versucht, sie vor den bösen Eltern zu schützen.

Für das Prinzip der Gleichberechtigung aller Menschen ist es wichtig, die doppelte Bedeutung des Wortes »Würde« zu durchschauen. Denn daß die Menschen auf der Leistungsebene ungleich sind, ist offensichtlich. Auf der Ebene der Menschenwürde aber sind alle Menschen gleich.

Ebenso ist es mit den Menschenrechten. Sie kommen ohne Unterschied allen Menschen zu und sind nicht, wie die meisten anderen Rechte, mit Pflichten verkoppelt. Vielmehr sind es »Schutzrechte« (im Unterschied zu »Ordnungsrechten«), die der Mensch in der Demokratie einfach hat, weil er Mensch ist, gleichgültig was er kann, will, tut. Auf der Ebene der Menschenwürde sind alle Menschen einschließlich der Kinder gleichberechtigt.

Nun ist es einfach, solche Sätze niederzuschreiben. Daß Frauen und Männer gleichberechtigt sind, ist formal schon lange anerkannt; trotzdem werden Frauen in vielen Bereichen massiv benachteiligt. Was das Verhältnis zwischen den Geschlechtern verzerrt, ist die patriarchalische Tradition. Was das Verhältnis zwischen den Generationen verzerrt, ist die adultistische (erwachsenenzentrierte) Tradition. Der Weg zum Frieden ist noch weit. Die »Würde des Kindes« gedanklich sehr weit zu trennen von jeglicher Leistung oder gar »würdevollem« Benehmen, ist unseres Erachtens ein wichtiger, ein unverzichtbarer Schritt in die richtige Richtung. (Wenn Sie mögen, könnten Sie sich jetzt einmal gründlich durch den Kopf gehen lassen, was Ihre ganz persönliche Menschenwürde für Sie bedeutet. Vielleicht prüfen Sie auch, ob Sie das komische Wort »unantastbar« als notwendig und richtig nachempfinden können. Und falls nötig wäre es gut, wenn Sie sich mit dem Begriff »Würde des Kindes« möglichst phantasievoll vertraut machen könnten. Natürlich alles nur, wenn Sie nicht denken, das sei »unter Ihrer Würde«.)

»Zivilisation« ohne Gewalt?

Zu dieser kleinen, schlaglichtartigen Bestandsaufnahme gehören auch die jungen Menschen (sicher sind es mehrere zehntausend, vielleicht sogar einige hunderttausend in Deutschland), die im großen und ganzen in ihren Familien so leben, wie sie und wir es allen Menschen wünschen, eben gleichberechtigt – ob sie und ihre Eltern das so nannten oder nicht. (Wir meinen hier ausdrücklich nicht die »antiautoritär Erzogenen«, sofern beispielsweise deren Eltern ihre eigenen Menschenrechte denen der Kinder unterordnen zu müssen glauben.) Sind die Kinder aus gleichberechtigten Familien vielleicht wilde, barbarische Gestalten, rücksichtslos, disziplinlos, verantwortungslos, ohne Moral, hilflos ihren Trieben ausgeliefert, gemeingefährlich oder sonstwie »unzivilisiert«, weil ihre Eltern sie nicht »zügelten«, nicht zum »Hören« und sonst »Fühlen« zwangen, ihnen nichts von den Werten und Tugenden »einbleuten«, die immer herhalten müssen, wenn es gilt, Macht und Gewalt gegen Schwächere zu rechtfertigen?

 

Nach allem, was wir wissen, sind sie das nicht. Die jungen Menschen, die wir gut genug kennen und befragen konnten, unterscheiden sich in ihrem Verhalten (»Benehmen«) von anderen nicht so, daß ihnen auf den ersten Blick eine Besonderheit anzumerken wäre. Einige fühlen sich deutlich privilegiert, die anderen machen sich über solche Vergleiche keine Gedanken. Für uns ist nicht entscheidend, ob sie die »besseren Menschen« sind, sondern daß sie in besseren Beziehungen lebten und leben (was sie ausnahmslos bestätigten), daß zwischen Eltern und Kindern weitaus weniger »Streß« bestand und besteht (dito), daß alle Beteiligten deutlich zufriedener mit sich und ihren Kindern/Eltern waren und sind (dito). Daraus folgt, daß also die vielen Sorgen und Kämpfe, Skrupel und Enttäuschungen, besonders auch die vielen inneren Verwundungen und Verwüstungen, die Kinder erleiden, weil ihre Eltern oder andere »Erziehungsberechtigte« sich im Namen irgendwelcher »zivilisatorischen« Werte zur Machtausübung gegen ihre Kinder berechtigt oder verpflichtet fühlen, daß all dies mindestens unnötig ist.

Die im Abschnitt »Menschenverbesserer in Panik« zitierte Beobachtung, daß dem Menschen die Zivilisation »etwas Äußerliches geblieben sei«, nur »Fassade«, »Firnis« oder »Tünche«, sagt möglicherweise überhaupt nichts über die »Natur des Menschen« aus, sondern nur etwas über reale Menschen, denen von außen allerlei angeblich Schmückendes aufgeklatscht (um nicht zu sagen: geklapst) wurde. Wenn Menschen die Chance haben, sich von Anfang an als Subjekte, aktiv und frei, die Welt zu erobern, die sinnvollen Werte der Zivilisation zu entdecken, sie sich von innen heraus anzueignen (statt sich ihnen unterwerfen und anpassen zu müssen), wenn sie nicht mehr oder weniger gewaltsam zur Zivilisation gezogen werden, sondern in die Zivilisation hineinwachsen können – dann stellt sich womöglich heraus, daß weder der Mensch noch die Zivilisation das eigentliche Problem ist, sondern die Art und Weise, in der die beiden miteinander in Verbindung kommen oder gebracht werden. Vielleicht wollen ja die jüngsten Menschen gar nicht so schreckliche Gestalten sein oder werden, wie es die »Agenten der Zivilisation« gern behaupten, um ihre Unentbehrlichkeit zu unterstreichen? Vielleicht ist weniger – an Macht, Druck, Besserwisserei und so weiter – mehr? Und vielleicht ist sogar nichts – an Ungleichberechtigung – das allermeiste?

Am Ende dieses Kapitels, so glauben wir, besteht immerhin die Hoffnung, daß Kinder nicht unbedingt als zu zivilisierende Objekte angesehen werden müssen, die Schwerarbeit und vielerlei Kämpfe erfordern. Vielleicht genügt es einfach, sich Kindern gegenüber genauso zivilisiert zu benehmen wie gegenüber anderen Menschen, die man mag, auch.

Daß das nicht nur eine Hoffnung für Familien ist (oder gar »Kinderkram«), wollen wir im nächsten Kapitel in groben Zügen deutlich machen.

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