Neue Schweizer Bildung (E-Book)

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Andreas Pfister

Neue Schweizer Bildung

Upskilling für die Moderne 4.0

ISBN Print: 978-3-0355-2010-1

ISBN E-Book: 978-3-0355-2011-8

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

© 2022 hep Verlag AG, Bern

hep-verlag.ch

Inhaltsverzeichnis

  Abstract

 1 SkizzeNeue Schweizer BildungBildungskulturChancenFinanzen

 2 UpskillingParadigmenwechselEin Volk von Akademiker*innenModerne 4.0Strukturwandel und Fachkräftemangel

 3 PositionenSchweizer SpezifitätenWirtschaftsverbände und Arbeitgeber*innenPolitik und Publikationen

 4 Bildungsmythen und StatistikMaturitätsquoteTertiärstufe: Abschlussquoten und BildungsstandVom Studium in den ArbeitsmarktSzenarienStudienerfolg

 5 Was lernen?Bildung 5.0Digitale SkillsDigitalisierung als Bildungsinhalt

  Nachwort

  Referenzen

 AnhangZahlenGrafiken

  Der Autor

Abstract
Reform des Schweizer Bildungssystems

Die Digitalisierung, Automatisierung und Robotisierung erreichen ein neues Level. Die digitale Revolution betrifft nicht nur die Industrie, sondern alle Branchen. Mehr noch: Sie verändert alle Lebensbereiche unserer Moderne 4.0. Der Strukturwandel betrifft die Schweiz besonders stark. Schweizer Qualität benötigt gut gebildete Fachkräfte, doch die Nachfrage nach Hochqualifizierten wird wenig wahrgenommen. Eine Bildungsreform ist eine pragmatische Antwort auf den Fachkräftemangel. Lebenslanges Lernen und Weiterbildung können eine verbesserte Grundbildung nicht ersetzen. Es braucht einen systematischen Ausbau von Bildung auf allen Stufen.

Moderne 4.0

Der Begriff «Industrie 4.0» bezeichnet den gegenwärtigen Stand der Digitalisierung in der industriellen Produktion. In Anlehnung daran kann man die Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche als «Moderne 4.0» bezeichnen. Teil dieser «Moderne 4.0» ist der fortlaufende Strukturwandel. Er ist Chance und Bedrohung zugleich. Die OECD rechnet damit, dass bis 2033 14 Prozent der Jobs durch die Digitalisierung verschwinden. Weitere 30 Prozent verändern sich tiefgreifend. Es entstehen neue Jobs in anspruchsvollen Bereichen, doch sie erfordern höhere Qualifikationen. Gegenwärtig findet eine doppelte Tertiarisierung statt: Zum einen erleben wir einen gesellschaftlichen Strukturwandel vom zweiten in den dritten Sektor. Gleichzeitig benötigt man für die neuen Jobs vermehrt tertiäre Bildung. Für diese neue Realitäten muss die Schweiz ihr Bildungssystem überdenken.

Veränderte Arbeit

Im Zuge der Digitalisierung wechselt ein Grossteil der Arbeit auf ein neues Level. Der Anteil physischer und manueller Arbeit nimmt ab, kognitive Tätigkeiten nehmen zu. Arbeiten heisst vermehrt organisieren, kommunizieren, programmieren, steuern, evaluieren. Upskilling ist das Gebot der Stunde. Es gilt, sich höher zu qualifizieren. Verschärft wird die Situation durch den demografischen Wandel. Die Babyboomer werden pensioniert und die Nettozuwanderung geht derzeit zurück. Nach einem Höchststand im Jahr 2013 beträgt sie 2019 noch 30700. Dieser Rückgang der Zuwanderung verschärft den Fachkräftemangel – besonders bei den Hochqualifizierten. 60 Prozent der Zugewanderten haben heute einen Hochschulabschluss. In der Schweiz sind erst 43 Prozent tertiär gebildet. Es fehlen vor allem Hochqualifizierte, aber nicht nur. Neben den Ärzt*innen braucht es Pflegende, neben Ingenieur*innen sind Elektroinstallateur*innen gefragt.

Dualer Erfolgsweg

Die Bildungsexpansion der Sechziger- und Siebzigerjahre setzte auf den akademischen Weg. Mitte der Neunzigerjahre fand eine Kehrtwende statt: Die Schweiz baute den dualen Weg mit Berufsmaturität und Fachhochschulen aus, der akademische Weg stagniert seither. Den Mangel an Hochqualifizierten deckt man mit Zuwanderung. Die Gymnasialquote tief zu halten, um die Berufslehre zu schützen, entspricht einer verbreiteten Grundhaltung in der Schweiz. Doch das Denkmuster der begrenzten Talente ist das falsche Bild. Angemessen ist das Bild von Potenzial. Kompetenzen entstehen, indem man sie bildet. Und zwar im Wortsinn: indem man sie fördert und entwickelt. Die Berufslehre wird dadurch nicht entwertet. Als Grundlage für tertiäre Bildung und lebenslanges Lernen behält sie ihren Wert.

Gemeinsam stark

Die Gesamtmaturitätsquote beträgt derzeit gut 40 Prozent. Das leichte Wachstum wird von der Berufs- und Fachmaturitätsquote getragen, sie erreichen heute 16 beziehungsweise 3 Prozent. Derweil stagniert die gymnasiale Maturitätsquote seit einem Vierteljahrhundert bei rund 20 Prozent. Dabei ist das Gymnasium keine Bedrohung für die Berufsmaturität. Kantone mit hoher Gymnasialquote haben in der Regel auch hohe Berufsmaturitätsquoten. Der akademische und der duale Weg sind gemeinsam stark.

Ein ähnliches Bild zeigt sich auf der Tertiärstufe: Die Hochschulquote steigt in den letzten zwanzig Jahren auf gut 30 Prozent. Auch hier wird das Wachstum von den Fachhochschulen und Pädagogischen Hochschulen getragen, ihre Quoten steigen auf 17 Prozent. Die universitäre Quote hingegen stagniert seit Jahren bei 15 Prozent. Zur tertiären Bildung gehört auch die höhere Berufsbildung mit einer Quote von 17 Prozent. Das führt zu einer Abschlussquote auf Tertiärstufe von knapp 50 Prozent. Damit liegt die Schweiz nur im Durchschnitt der OECD-Länder. Für die Schweizer Wirtschaftsstruktur ist eine durchschnittliche Quote nicht ausreichend. Der Anteil tertiär Gebildeter steigt zu langsam.

Bildungsmythen im Faktencheck

Alte Mythen prägen die Bildungsdiskussion. Arbeitslose Akademiker*innen sind ein solcher Mythos. Die Statistik zeigt: Bei den UH-Master- und FH-Bachelor-Absolvent*innen beträgt die Erwerbslosigkeit rund 2 Prozent. Der Schweizer Schnitt liegt bei 4 Prozent. Auch bei Geisteswissenschaftler*innen liegt die Erwerbslosenquote fünf Jahre nach Studienabschluss bei 1,9 Prozent. Im Durchschnitt der UH-Master liegt sie bei 2,3 Prozent. Absolvent*innen im Bereich der exakten und Naturwissenschaften weisen eine Erwerbslosigkeit von 4,6 Prozent auf, was am hohen Spezialisierungsgrad liegt. Geisteswissenschaftler*innen sind auch nicht überqualifiziert. Die Ausbildungsniveauadäquanz ist in allen Fachbereichen hoch. Bei den Geistes- und Sozialwissenschaften beträgt sie 82 Prozent, bei den Wirtschaftswissenschaften 85 Prozent.

Obwohl oft bemüht, ist die Dropout-Quote an der Uni kein Argument gegen eine neue Bildungsoffensive. Der Studienerfolg hängt vor allem von sozio-ökonomischen Faktoren ab. Die kantonalen Maturitätsquoten spielen da eine untergeordnete Rolle. Im Vergleich zu den kantonalen Unterschieden zwischen den Maturitätsquoten sind die Unterschiede zwischen den Dropout-Quoten gering. Die historische Entwicklung zeigt: Der Studienerfolg hängt nicht von der Anzahl Studierenden ab. Ausserdem gilt es auch beim Thema Dropout, das Ganze im Auge zu behalten und die Verhältnismässigkeit zu wahren. Wichtiger als die Abbruchquote ist die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt. Die Diskussion um die Dropout-Quote ist vor allem Empörungsbewirtschaftung. Die Studienerfolgsquote in der Schweiz ist hoch.

Neue Schweizer Bildung

Es braucht eine Maturapflicht für alle. Das heisst: Alle Jugendlichen in der Schweiz sollen entweder die Berufsmaturität, die Fachmaturität oder die gymnasiale Maturität erlangen. Der Anteil Jugendlicher, die eine gymnasiale Maturität erwerben, soll bis 2030 auf 30 Prozent steigen. Die Berufsmaturität soll flächendeckend eingeführt werden; ihr Anteil soll 50 Prozent betragen, jener der Fachmaturität 10 Prozent, der Anteil Abschlüsse für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, etwa Berufsatteste, ebenfalls 10 Prozent. Für die Berufsmaturität bedeutet das: Sie wird zum neuen Standard und so zum festen Bestandteil der neuen Lehre.

Es braucht eine neue Governance, die sowohl den dualen als auch den akademischen Weg umfasst. Den Hauptharst der Bildungsreform bilden die Absolvent*innen der Berufsmaturität. Mit der Maturitätspflicht wird die Sekundarstufe II Teil der obligatorischen Bildung. Innerhalb der Berufsmaturität soll es eine Binnendifferenzierung in ein Niveau A und ein Niveau B geben. Niveau A fokussiert auf die Fachhochschulen, Niveau B auf die erweiterte Allgemeinbildung und das lebenslange Lernen. Ziel der Berufsmaturität Niveau B ist die Stärkung der schulischen Kompetenzen innerhalb der Berufslehre. Tertiäre Bildung kann, muss aber nicht daran anschliessen. BM-Lernende mit Niveau B erlangen ebenfalls die Berechtigung zum Fachhochschulstudium. Ein Vorbereitungskurs verbessert den Studienerfolg.

 

Lehrgeld

Das Zusammenspiel von berufspraktischer und schulischer Bildung wird weiter flexibilisiert. Idealerweise findet die schulische Bildung in Blöcken während der gesamten Dauer der Lehre statt. Um die Doppelbelastung durch die Berufsmaturität zu mindern, braucht es eine Reduktion der Arbeit im Betrieb und/oder eine Verlängerung der Lehre wie in der BM2. Die Ausbildungsdauer wird verbundspartnerschaftlich mit den Organisationen der Arbeit neu geregelt.

Die Betriebe verstehen das Ausbilden als Pflege ihrer Zunft und als Dienst an der Gesellschaft. Gleichzeitig lohnt sich für sie das Ausbilden von EFZ-Lernenden. Gegenwärtig bremsen viele Betriebe die Entwicklung der Berufsmaturität, weil sie an BM-Lernenden kurzfristig nicht verdienen. Betriebe, die BM-Lernende ausbilden, sollen deshalb ein staatliches Lehrgeld erhalten. Dieses Lehrgeld wird über die Steuern erhoben.

Bildung und Ausbildung

Die neue Bildungsreform setzt auf die Wertschätzung des dualen Wegs. Sie sieht ein moderates Wachstum des akademischen und ein massives Wachstum des dualen Wegs vor. Der Ausbau des dualen Wegs etabliert eine neue Bildungskultur in humanistischer Tradition. Die Berufsmaturität versteht sich als erweiterte Allgemeinbildung. Ihre Bildungsziele werden von Bildungsexpert*innen gesetzt und verbundspartnerschaftlich festgelegt, nicht allein von den Organisationen der Arbeit. Mit der Berufsmaturität kehrt die Bildung in die Ausbildung zurück. Auch Berufslernende haben ein Recht auf Bildung, nicht nur Gymnasiast*innen.

Mehr Chancengerechtigkeit

Nachobligatorische Bildung steht grundsätzlich allen Menschen aus allen sozialen Schichten offen. Darauf ist man in der Schweiz zu Recht stolz. Doch es zeigt sich je länger desto mehr: Von höherer Bildung profitieren vor allem bildungsnahe Schichten. Warum ist das so? Und was kann man tun, um das zu ändern? Kampagnen und Appelle sind wichtig, doch sie reichen nicht. Soll man sie in Ruhe lassen, die Bildungsmüden und Bildungsfernen? Sollen sie erst später lernen, lebenslang und eigenverantwortlich? Das Lernen auf die lange Bank schieben, statt die Schulbank jetzt zu drücken – das geht zwar heute, doch es rächt sich morgen. Jugendliche werden mit schnellem Geld gelockt, mit schneller Unabhängigkeit. Ohne ausgebaute frühe Bildung bleiben sie im Rückstand. So findet kaum sozialer Aufstieg statt. So bleiben die Bildungsfernen unten, während die oben sagen: Es gibt kein Unten.

Soll man bildungsferne Jugendliche zum Glück zwingen? Ein wenig, ja. Es braucht den Schritt von der Chance zur Pflicht. Die Maturapflicht ist Ausdruck von Respekt vor bildungsfernen Jugendlichen. Respekt insofern, als man ernst nimmt, wie sie geprägt sind und funktionieren. Als Menschen nämlich. Jugendliche aus bildungsfernen Schichten entscheiden sich nicht aus eigenen Stücken für mehr Bildung. Der Punkt ist: Sie können nicht wollen. Ihre Denkweise, ihre kulturelle und soziale Prägung lässt das nicht zu. Das Gerede von Freiwilligkeit und Eigenverantwortung ist eine romantische Vorstellung – bestenfalls. Nicht zur Schule gehen zu wollen, ist das gute Recht der Jugend. Sie trotzdem zur Schule zu schicken, ist unsere Pflicht. Wir sind verantwortlich – nicht sie. Fürsorglich haben wir die Jugendlichen in die Pflicht zu nehmen. Und es braucht noch etwas: den Glauben an sie.

(In Auszügen erschienen als Gastkommentar in der NZZ : «Upskilling» – Schweizer Bildung für die Zeit nach der Pandemie. 22 . 3 . 2021 )

1 Skizze
Neue Schweizer Bildung

Die Schweizer Bildung wird auf ein neues Niveau gehoben.

 Wir schreiben das Jahr 2030. Die Berufsmaturität wurde flächendeckend eingeführt. Ihre Quote beträgt 50 Prozent, die der gymnasialen Maturität 30 Prozent, jene der Fachmaturität 10 Prozent. Der Anteil Abschlüsse für Menschen mit besonderen Bedürfnissen, z.B. Berufsatteste, beträgt ebenfalls 10 Prozent.

 Im Jahr 2050 liegen die gymnasiale Maturität einerseits und die Berufs- und Fachmaturität andererseits gleichauf. Ihre Quoten betragen je knapp 50 Prozent. Die Tertiärquote beträgt 75 Prozent.

 Die Schweizer Bildung hat eine Governance, die sowohl den dualen als auch den akademischen Weg umfasst.

Die Berufsmaturität wird fester Bestandteil der neuen Lehre.

 Das Zentrum der Bildungsreform stellt die Berufsmaturität dar.

 Es wird eine Maturitätspflicht eingeführt. Die Sekundarstufe II gehört neu zur obligatorischen Bildung.

Es gibt eine Binnendifferenzierung in die Niveaustufen A und B.

 Innerhalb der Berufsmaturität gibt es eine Binnendifferenzierung in ein Niveau A und ein Niveau B. Niveau A fokussiert auf die Vorbereitung für die Fachhochschule, Niveau B auf die erweiterte Allgemeinbildung und das lebenslange Lernen.

 Ziel der Berufsmaturität Niveau B ist die Stärkung der schulischen Kompetenzen innerhalb der Berufslehre. Tertiäre Bildung kann, muss aber nicht daran anschliessen.

 BM-Lernende mit Niveau B erlangen ebenfalls die Berechtigung zum Fachhochschulstudium. Ein Vorbereitungskurs verbessert den Studienerfolg.

Duales Lernen wird weiterentwickelt.

 Denkbar ist ein BM-Schuljahr vor Lehrbeginn.

 Dieses Modell einer BM3 hat weitreichendes Potenzial zur Neugestaltung der Sekundarstufen I und II.

Das Modell BMX bringt mehr Flexibilität.

 Das Zusammenspiel von berufspraktischer und schulischer Bildung wird weiter flexibilisiert. Idealerweise findet die schulische Bildung in Blöcken während der gesamten Dauer der Lehre statt.

 Um die Doppelbelastung durch die Berufsmaturität zu mindern, braucht es eine Reduktion der Arbeit im Betrieb und/oder eine Verlängerung der Lehre wie in der BM2. Die Ausbildungsdauer wird verbundspartnerschaftlich mit den Organisationen der Arbeit neu geregelt.

 Die Reform der Sekundarstufe II ist offen für eine stärkere Vereinheitlichung der Sekundarstufe I. Sie setzt diese aber nicht voraus, sondern kann auf den bisherigen Strukturen aufbauen.

Ausbilden ist ein Dienst an der Gesellschaft.

 Viele Betriebe verstehen das Ausbilden als Pflege ihrer Zunft und als Dienst an der Gesellschaft.

 Gleichzeitig lohnt sich für sie das Ausbilden von EFZ-Lernenden.

An der Berufsmaturität verdienen die Betriebe nicht.

 Da die BM1-Lernenden mehr fehlen im Betrieb, ist ihre Rentabilität geringer.

 Die Betriebe stehen beim Ausbilden im Zielkonflikt von kurzfristiger Rendite und langfristigen Interessen.

Betriebe erhalten ein Lehrgeld.

 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts bremsen viele Betriebe die Entwicklung der Berufsmaturität, denn an BM-Lernenden verdienen sie kurzfristig nicht.

 Bis 2030 wird ein staatliches Lehrgeld für Betriebe, die BM-Lernende ausbilden, eingeführt. Dieses Lehrgeld wird über die Steuern erhoben.

Die gymnasiale Maturitätsquote soll bis 2030 auf 30 Prozent steigen.

 Nach einem Vierteljahrhundert der Stagnation soll der akademische Weg zum Wachstum zurückkehren.

 Die Gymnasialquote soll jährlich um einen Prozentpunkt steigen, bis sie 2050 die Hälfte aller Abschlüsse ausmacht.

 Die Öffnung des akademischen Wegs eröffnet neue Chancen für sozial benachteiligte Jugendliche.

Die Schweizer Bildung wird auf ein neues Niveau gehoben.

Der erste Schritt auf dem Weg zu mehr tertiärer Bildung ist eine Erhöhung aller drei Maturitätsquoten. Das Buch «Matura für alle»[1] hat diesen Vorschlag 2018 erstmals formuliert. Die gymnasiale Maturitätsquote soll erhöht und die Berufsmaturität flächendeckend eingeführt werden. Auch die Fachmaturität soll ausgebaut werden. Im Jahr 2030 soll die gymnasiale Maturitätsquote 30 Prozent betragen, Tendenz steigend. Die Berufsmaturität soll bis zum Jahr 2030 fester Bestandteil der neuen Lehre werden und ihre Quote soll 50 Prozent betragen. Die Fachmaturitätsquote beträgt dann 10 Prozent. Auch knapp 10 Prozent beträgt der Anteil Abschlüsse für Personen, die besondere Förderung brauchen, etwa Berufsatteste. Bis ins Jahr 2050 soll das Verhältnis der gymnasialen Maturitätsquote einerseits und der Berufs- und Fachmaturitätsquote andererseits etwa im Gleichgewicht sein. Es soll je knapp 50 Prozent betragen.

Die Skizze eines neuen Schweizer Bildungssystems, die hier gezeichnet wird, berücksichtigt die Schweizer Besonderheiten und entwirft eine massgeschneiderte Lösung für unser Land. Sie ist, wie wir das hierzulande schätzen, pragmatisch. Der erste Schritt auf dem Weg zu einer neuen Bildungsinitiative kann ganz unauffällig aussehen, typisch schweizerisch. Es braucht keine Pauken und Trompeten. Es braucht keine Kehrtwende, kein plötzliches Herumwerfen eines Steuers. Es geht darum, auf bestehende Strukturen aufzubauen. Der Ausbau des dualen Wegs seit den Neunzigerjahren ist bereits der eigentliche Anfang. Es gilt, künftig wieder beide Bildungswege, den akademischen und den dualen, gemeinsam zu fördern.

Was derzeit fehlt, ist eine übergeordnete Perspektive auf die Bildung auf struktureller Ebene. Die meisten Protagonist*innen, welche die Schweizer Bildungspolitik gestalten, gehören ins eine oder andere Lager, entweder ins duale oder ins akademische. Sie ermahnen die Exponenten des jeweils anderen Lagers, sie möchten doch bitte das eine nicht gegen das andere ausspielen. Wirklich ändern wird sich erst etwas, wenn die beiden Lager, die sich derzeit fremd sind, in eine übergeordnete Struktur zusammengeführt werden. Erst ein solches übergeordnetes Gremium kann die verschiedenen Partikularinteressen vertreten, gleichzeitig relativieren und ausgleichen. Es hält die Konkurrenzsituation zwischen den Bildungswegen aus und hebt sie in sich auf. Es gewährt keinem Weg einen Vorrang vor dem anderen und überlässt keiner Seite die Definitionsmacht. Erst diese neue Governance definiert, was Schweizer Bildung wirklich ist.

Eine neue Bildungsgovernance hatte schon 2009 ein Weissbuch der Akademien der Wissenschaften gefordert.[2] Die Bildung sollte gemäss diesem Weissbuch auf Bundesebene zusammengeführt werden, eventuell sogar in einem eigenen Departement. Dem Vorschlag konnte man damals nicht viel abgewinnen. Die Kantone wollten und wollen ihre Hoheit über die Bildung nicht an den Bund abgeben. Ein neues Staatssekretariat für Bildung ist ihnen ein Graus. Eine solche Zentralisierung passt auch nicht zur Geschichte der schulischen Bildung in der Schweiz: Volksschulen, Mittelschulen und Universitäten sind seit der Gründung des Bundesstaats kantonal organisiert. Angesichts dieser Verhältnisse ist es nicht zielführend, auf einem neuen Departement oder Staatssekretariat für Bildung zu beharren. Es ist auch nicht nötig. Gegenwärtig entsteht im Zuge der Revision des Gymnasiums eine Neustrukturierung der Governance.[3] Es soll ein neues Gremium innerhalb der Schweizerischen Konferenz der Erziehungsdirektor*innen EDK entstehen, also innerhalb der kantonalen Hoheit. Dieses neue Gremium führt die schulische Bildung nicht über-, sondern interkantonal zusammen – und es beteiligt den Bund an der neuen Struktur. Die Schweizer Bildung wird damit stärker zusammengeführt – ohne zentralisiert zu werden. Das ist ein gutschweizerischer Kompromiss: Auf der einen Seite gibt es das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation SBFI, das die Berufsbildung organisiert. Auf der anderen Seite, auf der Seite der Kantone, entsteht derzeit ein gleichwertiges Gegenüber. Das zeigt: Die Bildungsoffensive, die hier skizziert wird, ist ein konkreter Vorschlag, der bereits am Entstehen ist. Die Zeichen der Zeit sind erkannt, auch auf Ebene der Bildungsgovernance.

 

Warum braucht es eine neue Governance? Nun, seitens der Berufslehre befürchtet man, bei einer Erhöhung der gymnasialen Maturitätsquote die besten Berufslernenden ans Gymnasium zu verlieren. Diese Bedenken sind besonders ausgeprägt in anspruchsvollen Berufen, die von der Digitalisierung stark betroffen sind und viele Berufsmaturand*innen ausbilden. Aus diesem Grund hat man ein weiteres Wachstum des Gymnasiums in den letzten beiden Jahrzehnten verhindert. Die Bedenken der Akteur*innen der Berufslehre sind verständlich. Es gibt keine einfachen Lösungen. Genau deshalb darf die Scheinlösung nicht darin bestehen, einfach die Gymnasialquote einzufrieren. Man kann in einem sich dynamisch entwickelnden System nicht jahrzehntelang mit einem Status quo weitermachen, der mittlerweile ein Vierteljahrhundert alt ist. Es braucht eine übergeordnete Perspektive, ein sorgfältiges Abwägen zwischen den verschiedenen Partikularinteressen. Das Interesse der Lehre an möglichst guten Berufslernenden ist legitim – doch es gibt auch ein gesamtgesellschaftliches Interesse daran, die steigende Nachfrage nach universitär gebildeten Fachkräften besser zu decken. Lange wurde in der Schweiz ein Interesse absolut gesetzt: das Ausbilden von hervorragenden Berufsleuten. Das wurde mit Bravour erreicht. Mit Schweizer Berufsleuten kann es kaum jemand aufnehmen, das zeigen unter anderem die Berufsweltmeisterschaften eindrücklich. Diese Verdienste sollen nicht in Abrede gestellt werden. Das Blickfeld muss jedoch ausgeweitet werden, denn es gibt auch eine Nachfrage nach Akademiker*innen. Die müssen wir ebenfalls ausbilden. Es geht nicht, dass man dort die Quote plafoniert. Es geht nicht, dass man sich nur um seinen Garten kümmert, diesen ausgiebig düngt, aber die Augen verschliesst vor dem Mangel im benachbarten Feld.

In einer Demokratie haben Bildungswege auch mit Mehrheitsverhältnissen zu tun. Es gibt mehr Berufsleute als Akademiker*innen, das bleibt für die Politik nicht ohne Folgen. Hier braucht es ein Korrektiv, sonst droht die akademische Bildung einer Diktatur der Mehrheit zum Opfer zu fallen. Es mag absurd klingen, doch heutzutage braucht die akademische Bildung eine Art Minderheitenschutz. Es darf nicht einfach die breite Masse bestimmen, dass die akademische Bildung eingefroren wird – ungeachtet der drängenden Nachfrage, des technologischen Wandels, der gesellschaftlichen Entwicklung. Eine Erhöhung der Gymnasial- und Akademiker*innenquote gilt zu Unrecht als Bedrohung für die Berufslehre. Wenn schon, ist der akademische Weg bedroht. Lange schon ist dort das dringend nötige Wachstum faktisch verunmöglicht worden. Das ist ein Angriff auf die akademische Bildung, der im öffentlichen Diskurs kaum Platz findet. Noch immer inszeniert man sich seitens der Berufslehre als Opfer, dem die besten Lernenden durch das Gymnasium genommen werden. In diese Opferrolle gehört heute wenn schon der akademische Weg, dem man ein massvolles Wachstum verunmöglicht – vorgeblich zum Schutz der Berufslehre. Man kann sich fragen, wer hier vor wem geschützt werden muss.

Der jahrzehntelange Wachstumsstopp aufseiten des Gymnasiums führt in der Berufslehre zu einer komfortablen Situation. Dank dem Rückstau, der sich dadurch bildet, können sie aus Jugendlichen auswählen, die auch das Gymnasium besuchen könnten. Die Berufslehre hat aus diesem Potenzial viel gemacht, das muss man anerkennen. Der duale Weg hat sich so stark entwickelt, weil viele fähige Leute vorhanden sind. Wenn das Gymnasium wieder moderat wachsen soll, wird das die Berufslehre nicht so stark treffen, wie manchmal behauptet wird. Der Berufslehre stehen immer noch begabte Jugendliche mit viel Potenzial zur Verfügung. Bei derzeit 80 Prozent eines Jahrgangs, die eine Berufslehre machen, ist die Klage über fehlende Talente vor allem Rhetorik. Es leuchtet nicht ein, dass unter einer Grossmehrheit der Jugendlichen nicht genügend Begabte sein sollten für anspruchsvolle Lehren. Die Frage ist, woran die Berufslehre ihre Klagen über fehlende Talente festmacht. Die Frage ist auch, wer der Lehre mal widerspricht. Alle zucken zusammen, wenn die Berufsbildner*innen über Mangel an Lernenden klagen, und gucken vorwurfsvoll rüber zum Gymnasium. Klagen sind immer relativ. Klagen kostet nichts, das können alle Institutionen ganz gut. Diesen haltlosen Klagen gilt es entgegenzutreten. Die Berufslehre muss die Jugendlichen dort abholen, wo sie stehen. Sie zu bilden, lautet der gesellschaftliche Auftrag.

Was die Lehre in Wirklichkeit zu spüren bekommt, sind nicht fehlende Talente und schon gar nicht die Konkurrenz eines stagnierenden Gymnasiums. Es ist der Upskilling-Prozess. Die Lehren werden anspruchsvoller. Da stösst man an Grenzen, das ist nicht verwunderlich. Die Lösung liegt nicht darin, das Gymnasium zu deckeln. Die Lösung liegt darin, die Bildung den neuen Ansprüchen anzupassen, sprich, auszubauen und nötigenfalls zu verlängern. Es geht nicht darum, Bocksprünge zu vollführen. Es geht um massvolle Bewegungen in einem angemessenen Tempo, in dem alle Beteiligten mitgehen können.

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