Schlaflos

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Schlaflos
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Table of Contents

TITEL

WIDMUNG

VORWORT

APRIL. TABLETTEN.

MAI. SO SCHLÄFT MAN BESSER.

JUNI. TAG UND NACHT.

JULI. DIE REISE.

AUGUST. ALL DIE ANDEREN.

SEPTEMBER. MORD UND ANDERE SCHLAFSTÖRUNGEN.

OKTOBER. POLARNACHT.

NOVEMBER. DER FRÜHSTÜCKSCLUB.

DEZEMBER. WIR SEHEN UNS MORGEN.

NACHWORT

LITERATURVERZEICHNIS

DANK

BIOGRAFIE - ANDERS BORTNE

IMPRESSUM

Anders Bortne
Schlaflos - Wie ich nach tausend Nächten endlich Ruhe fand
Aus dem Norwegischen von Sabine Richter

Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, dass Schlaflosigkeit eines der vordringlichen und am meisten verbreiteten Gesundheitsprobleme der modernen Gesellschaft darstellt. Dennoch sprechen nur wenige darüber, erkennen es gar als Problem an, oder denken, dass man dagegen unbedingt etwas machen sollte.

Matthew Walker, Schlafforscher und Professor für Neurologie und Psychologie, in Das große Buch vom Schlaf

Eines der am meisten unterschätzten Gesundheitsprobleme des Menschen.

Norwegisches Gesundheitsamt über Schlafstörungen

Für alle, die schlafen können.

Und für all die anderen.

VORWORT

Dieses Buch ist für all diejenigen gedacht, die Probleme mit dem Schlafen haben. Es stellt jedoch kein Programm vor, es gibt auch keine konkreten Ratschläge, wie zum Beispiel Bananen zu essen oder vor dem Schlafengehen zu meditieren. Das hier ist die Geschichte über ein Leben ohne Schlaf, aber auch über das Verhältnis der Menschen zum Schlaf überhaupt. Wie hat man früher geschlafen? Was passiert, wenn wir schlafen? Und die allerwichtigste Frage von allen, falls Sie selbst – oder jemand, den Sie kennen – Probleme mit dem Schlafen haben: Was hilft?

Nach sechzehn Jahren wurden meine eigenen Schlafstörungen – nahezu über Nacht und ohne dass ich verstand, warum eigentlich – schlimmer. Womit ich bis dahin irgendwie leben konnte, funktionierte nicht mehr. Wenn ich jetzt nichts unternahm, würde ich vor die Hunde gehen. Ich begann mit den Behandlungsmethoden, die die meisten schlaflosen Menschen ja nur allzu gut kennen: zuerst Tabletten, dann Kräuter, Meditation, Akupunktur, Yoga. Gleichzeitig begann ich, Bücher über den Schlaf und Schlafstörungen zu lesen, und zwar nicht nur Selbsthilfebücher, sondern auch medizinische, psychologische und historische Fachliteratur zum Thema Schlaf. Ich fand kein einziges Buch, das für Leute mit ernsthaften Schlafstörungen gedacht war. Die meisten Bücher richten sich an die, die schlafen können, sich aber dagegen entschieden haben, oder an solche, die begriffen haben, dass sie mehr schlafen sollten. Schlaflosigkeit ist bestenfalls ein untergeordnetes Thema und all die wohlmeinenden, aber auch oberflächlichen Ratschläge für Schlaflose sind natürlich nicht als Behandlung für chronische und ernsthafte Gesundheitsprobleme gedacht. Das Merkwürdigste dabei ist jedoch der Hauch des Geheimnisvollen, mit dem wir den Schlaf und unsere Probleme damit immer noch 10 umgeben. Noch nie zuvor haben die Wissenschaftler beziehungsweise wir Menschen im Allgemeinen mehr über den Körper und die Gesundheit gewusst als heute. Warum verhalten wir uns also dem Schlaf gegenüber so, als wäre er etwas so Geheimnisvolles?

Ich bin weder Arzt noch Schlafexperte. Ganz im Gegenteil. Aber dieses Buch wurde von jemandem geschrieben, der selbst viele Jahre lang an Schlaflosigkeit gelitten hat – und immer noch schlecht schläft. Wenn Sie also nach etwas suchen, das leichtherzig Tipps zum besseren Schlafen gibt – so in der Art: Trinken Sie weniger Kaffee! Treiben Sie mehr Sport! Nehmen Sie sich täglich eine Stunde zum Meditieren! usw. –, dann müssen Sie leider weitersuchen.

Wenn Sie dieses Buch dennoch lesen, dann lernen Sie etwas über Schlaf und Schlaflosigkeit, machen sich selbst einen Reim und bekommen eine Idee davon, wie es anderen schlaflosen Menschen ergeht. Und wenn Sie mich fragen: Was kann man mehr von einem Buch erwarten?

Anders Bortne, Oslo, den 30. Januar 2019

APRIL. TABLETTEN.

Über Arztbesuche und Schlafmittel, Fakten und Aberglauben zum Schlaf, wie meine Probleme vor sechzehn Jahren einsetzten und warum schlaflose Leute keine Eierpfannkuchen machen.

1

Das war ja wieder mal klar: In der Nacht, bevor ich zum Arzt will, schlafe ich wie ein Stein. Ich wache ausgeruht auf. Ich schwitze nicht, friere nicht, mein Kopf ist klar, weder Muskeln noch Gelenke tun mir weh. Soll ich absagen? Ich gehe nicht gern zum Arzt, ich sitze nicht gern einem Fremden gegenüber und erläutere meine Schwachstellen. Solange ich nichts Handfestes vorweisen kann – Fieber oder Wunden oder ein gebrochenes Bein –, habe ich Angst, dass das Ganze auf Gefühlsduselei reduziert wird. Ich kann nicht schlafen. Jetzt habe ich ja geschlafen. Und ich fühle mich so gut wie schon lange nicht mehr.

Ich schaue im Wartezimmer in den Spiegel: Mein Blick ist fest und klar. Meine Haut sieht so frisch und normal aus wie die derjenigen, die lange und tief geschlafen haben und um die ich sie nach meinen eigenen schlaflosen Nächten immer so beneide.

Vielleicht bin ich geheilt?

Vielleicht ist es endlich vorbei?

Als ich vor einer Woche den Arzttermin ausmachte, glaubte ich das noch nicht. Da hatte ich gerade Lines und mein Bett bezogen. Niemand außer mir darf das machen. So wie jemand mit Essstörungen auf den Kühlschrank fixiert sein kann, bin ich es in Bezug auf unser Bett. Die Kopfkissen- und Bettbezüge müssen Knöpfe haben, damit in der Nacht nichts herausrutschen kann. Der Matratzenschoner darf keine Falten werfen oder schief aufgezogen sein. Wenn auf dem Bett Kleidung oder Sachen liegen, wenn ich abends ins Bett will, muss ich wieder aus dem Zimmer und es später noch einmal angehen. Die Kabel für die Nachttischlampen müssen an der Wand befestigt sein, damit sie nicht verrutschen, wenn sich jemand im Bett umdreht. Schon der Gedanke, dass die Glühbirne in der Nachttischlampe zu grell sein könnte, kann mir den Schlaf rauben.

Als ich gerade das Laken abzog, schien die Sonne durchs Fenster in der Kelleretage auf den aufgewirbelten Staub und den Matratzenschoner. Ich blieb stehen, starrte auf das unbezogene Bett und spürte, wie sich mir die Haare im Nacken sträubten. Ich hatte das Bett schon oft neu bezogen, doch das hier hatte ich noch nie bemerkt: Auf der linken, das heißt auf Lines Seite entdeckte ich Risse im abgenutzten Stoff, wie sie bei normaler Benutzung halt entstehen. Dieses Bett hatten wir schon viele Jahre, das waren also ganz normale Abnutzungserscheinungen. Aber auf der anderen, auf meiner Seite des Bettes sah man nichts! Der Matratzenschoner sah völlig unbenutzt aus! Als ob meine Frau in all diesen Jahren ihr Bett mit einem Gespenst geteilt hätte. Ich war zwar wie besessen von diesem Bett, doch hatte ich bis dahin kaum darin gelegen.

Ich ließ das Bettzeug liegen, setzte mich auf die Matratze und tat etwas, was ich bis dahin noch nie getan hatte: Ich zog mein Handy raus und googelte Schlafmangel und Langzeitschäden. Dann fand ich einen Artikel mit dem Titel Hier eine Liste der ernst zu nehmenden Gesundheitsprobleme, die durch zu wenig Schlaf ausgelöst werden können. Darin stand: Diabetes. Erhöhte Cholesterinwerte. Schlaganfall. Herzinfarkt. Krebs. Unter der Liste war ein eingeschobener Block mit Fakten und der Anzahl der Stunden Schlaf, die man benötigt, um seine Gesundheit zu erhalten. Demzufolge brauchten Erwachsene täglich sieben bis acht Stunden Schlaf.

Da bekam ich es also mit der Angst und besorgte mir einen Arzttermin.

Am Tag darauf hatte ich schon keine Angst mehr und wollte den Termin absagen. Ich wusste aber, dass meine Angst zurückkommen würde. Meine Gefühle schwankten wie die Schlafstörungen, die auftauchten und dann wieder verschwanden. Ich wurde krank, erholte mich wieder, wurde wieder krank und wieder gesund. Jetzt war ich ja nicht mehr krank, ich hatte in der Nacht zuvor ganz gut geschlafen – also hatte ich auch keine Angst mehr. Ein Allgemeinmediziner konnte mir ohnehin nicht wirklich helfen, also warum sollte ich auch meine Zeit mit einem Arztbesuch vergeuden?

 

»Dieser Arzttermin – ich glaub, den sag ich ab«, meinte ich zu Line.

Sie schaute mich an.

»Sicher?«

»Das Einzige, was ein Arzt machen kann, ist, mir Schlaftabletten zu verschreiben. Und die will ich nicht.«

»Aber wenn man dir irgendwie anders helfen soll, müsstest du zuerst schon noch mit dem Hausarzt reden.«

Im Wartezimmer des Arztes sitzt mir eine Frau mit Krücken und Halskrause gegenüber. Ihr Blick ist hilflos nach oben gerichtet. Neben mir sitzt ein Mann, der alle zwanzig Sekunden tief und rasselnd hustet. Drüben, neben der Tür, versucht eine Frau ihr schreiendes Baby zu beruhigen. Und mittendrin ich, ausgeruht und gesund und in der Hoffnung, dass man mich nicht vor den anderen aufruft.

Und dann taucht der Arzt auf:

»Herr Bortne?«

Meine Ausführungen mache ich ungefähr so, wie ich es vorab vorbereitet habe: »Ich leide seit sechzehn Jahren an chronischer Insomnia«, sage ich als Erstes. In dem Buch, das ich mir vor zwei Tagen aus der Bibliothek geholt habe, verwendet man den Begriff Insomnie, nicht die lateinische Bezeichnung Insomnia. Ich habe Angst, er könnte glauben, ich hätte mir so etwas nur herausgepickt, um mich krank zu stellen. Auch, weil ich will, dass der Arzt derjenige ist, der am meisten über das Thema weiß, bleibe ich vorläufig bei der eher volkstümlichen, wenn auch nicht ganz korrekten Variante: »In letzter Zeit ist meine Insomnia schlimmer geworden und ich bekomme langsam Angst, wenn ich an die langfristigen Auswirkungen von zu wenig Schlaf denke. Und dann mache ich mir auch noch Sorgen um mein Herz. Und ich habe Angst vor Krebs.«

Ich versuche, meiner Angst Ausdruck zu geben, so wie ich sie noch vor einer Woche gespürt habe. Ich versuche, mich noch mehr an sie zu erinnern, damit ich meinem Gegenüber davon berichten kann, auch wenn sich das wie eine Lüge anfühlt.

»Ich muss herausfinden, warum ich nicht schlafen kann«, sage ich. »Vielleicht gibt es keine einfache Erklärung dafür, vielleicht gibt es mehrere Ursachen. Ich bin bereit, das meiste auszuprobieren. Ich suche jetzt nicht mehr nur nach einer schnellen Problemlösung.«

Der Arzt und ich sehen uns an. Er ist jung – auf jeden Fall jünger als ich, mit dunklen Locken und einer rundlichen, schwarzen Brille. Er ist die Vertretung der Vertretung meines Hausarztes, die ich noch nie getroffen habe. Das Gesicht des Mannes ist leer, ausdruckslos. Vielleicht ist er an Patienten gewöhnt, die an Medikamente kommen wollen und ihn nur als zu überwindendes Hindernis betrachten. Ich will aber nicht mit Schlaftabletten nach Hause geschickt werden. Da fahre ich lieber wieder heim und mache so weiter wie bisher.

Der Arzt legt seine Finger auf die Computertastatur und schreibt, während ich rede, dann legt er seine Hände in den Schoß und hört weiter zu.

»Ich versuche auch, selbst daran zu arbeiten«, sage ich.

»Und wie?«

Mein Handy klingelt. Ich ziehe es aus meiner Jackentasche und weise den Anruf ab.

»Ich surfe nicht mehr im Internet, gehe nicht mehr auf Facebook, versuche, mehr Bücher zu lesen. Ich versuche auch, mir mehr Zeit zum Nachdenken zu nehmen. Ich habe mir einen Kalender zum Notieren meiner Termine zugelegt. Ich habe angefangen zu trainieren. Und ich versuche, öfter mein Handy wegzulegen.«

Das Handy klingelt schon wieder.

»Und wie funktioniert das für Sie?«, fragt der Arzt.

Ich nehme das Handy, schalte es ganz ab und murmele eine Entschuldigung.

»Ich versuche, etwas über Schlaf und Schlafstörungen herauszufinden«, sage ich. »Deshalb habe ich mir auch aus der Bibliothek ein Fachbuch geholt.«

Der Arzt blickt nur auf seinen Computerbildschirm, zu mir schaut er nicht mal rüber. Das Letzte, was ich gesagt habe, bereue ich schon wieder. Es stimmt schon, dass ich in der Mittagspause in der Bibliothek war und mir ein Buch – Schlaf und Schlafstörungen – ausgeliehen und darin über Tag-Nacht-Rhythmus, Insomnie und andere Schlafstörungen gelesen habe, aber soll ich das jetzt dem Arzt erzählen?

Ich muss vorsichtig sein, denke ich. Ich muss den Arzt Arzt sein lassen und den Patienten Patient.

»Haben Sie Einschlafprobleme?«, fragt er. Es sieht aus, als lese er etwas vom Bildschirm ab. »Oder wachen Sie zu früh auf, ohne wieder einschlafen zu können? Oder wachen Sie in der Nacht oft auf?«

Ich muss nachdenken. Schon schwierig, das so – zusammen mit dem Arzt – von außen zu betrachten. In den ersten Jahren war die Schlaflosigkeit genau das: ein Leiden, eine Krankheit, etwas, was man betrachtet. Doch in den letzten sechs, sieben Jahren bestimmte die Krankheit mein ganzes Dasein, sie war ich. Ich denke an die letzten Wochen: Letzte Nacht habe ich gut geschlafen, doch in der Nacht davor? Da habe ich gar nicht geschlafen. Auch nicht in den drei Nächten davor. Es fällt mir schwer, mich zu erinnern; die schlaflosen Nächte und Tage gehen ineinander über, es gibt nichts, was einen Unterschied machen würde, nichts, woran ich mich orientieren könnte. Wie ein langer, dunkler Tunnel, bei dem man nur merkt, wenn er beginnt und wenn man durch ist. Ist das alles jetzt schlimmer als früher? Habe ich deshalb eine solche Angst? Hat Line deshalb so darauf bestanden, dass ich nun endlich zum Arzt gehe?

»Alle vier Nächte nicht?«, fragt der Arzt.

Ich nicke.

»Gibt es noch andere Sachen, neben den Schlafstörungen, die Ihnen aufgefallen sind?«

»In letzter Zeit hatte ich wirklich emotionale Gefühlsschwankungen«, sage ich. »Mehr als sonst. Ich werde schnell wütend. Oder aufgeputscht. Oder deprimiert.«

Ich versuche, den Begriff Laune zu vermeiden.

»Arbeiten Sie?«

»Ja.«

»Als was?«

»Ich arbeite für ein Ministerium und schreibe Reden. Und dann bin ich auch noch Schriftsteller – und mache auch noch eine Comic-Serie für eine Tageszeitung. Und dann habe ich da noch ein paar Musikprojekte.«

»Klingt viel«, sagt der Arzt.

»Vor ein paar Wochen musste ich mich krankschreiben lassen. Es ging nicht mehr. Das war das erste Mal, dass ich wegen meiner Schlafstörungen zu Hause bleiben musste.«

»Wie lange waren Sie krankgeschrieben?«

»Vier Tage.«

Meinem Chef hatte ich etwas von einer Magenverstimmung erzählt. Hätte ich die Wahrheit gesagt, dass ich nämlich wegen meiner Schlafstörungen krankgeschrieben worden war, hätten sie sich bei der Arbeit wohl gefragt, was eigentlich mit mir los sei. Ich verschweige meine Schlafstörungen nicht, aber bisher bin ich noch nie damit hausieren gegangen, schon gar nicht, wenn ich mit Leuten zu tun hatte, die mir nicht nahestehen. Wenn ich sage Ich schlafe nicht, dann ist das, als ob ich sagte Ich blute. Alle wollen dann wissen, wie es dazu gekommen sei. Und weil ich das nicht beantworten kann, kann sich jeder etwas anderes zusammenreimen: Anders ist deprimiert, Anders hat irgendein Trauma, Anders geht’s nicht gut auf Arbeit – oder zu Hause oder beides. Solange ich selbst keine Antwort für mich gefunden habe, habe ich Angst, dass die anderen mich als Weichei abschreiben.

Ich weiß nicht, warum ich blute, ich blute einfach.

Sich selbst krankzumelden, wenn auch nur für ein paar Tage, ist schon eine Niederlage. Meine Schlaflosigkeit tauchte vor sechzehn Jahren auf und fühlte sich zunächst an wie ein großer Stein, der mitten auf meinen Weg geplumpst war. Ich fand jedoch immer einen Weg drumherum: Mal bin ich mittags nach Hause gefahren, um etwas zu schlafen, mal kam ich eine Stunde später zur Arbeit oder ich ging eine Stunde früher oder hielt ganz einfach durch, bis ich wieder schlafen konnte. Es war nicht das erste Mal, dass ich wegen der Schlafstörungen alles langsamer angehen musste, aber ich war noch nie wegen Schlafmangel arbeitsunfähig gewesen. Ich habe keine Kraft mehr, weiterzukämpfen. Deshalb gibt es nun keinen Weg mehr drumherum.

»Hat jemand Ihre Schlafstörungen denn schon mal genauer untersucht?«, fragt der Arzt.

»Nein. Meinen Sie denn, das würde helfen?«

Untersuchung der Schlafstörungen ist eine Formulierung, die immer wieder auftauchte, wenn ich in den letzten Jahren mit Freunden oder der Familie über meine Beschwerden sprach. Hast du deine Schlafstörungen schon untersuchen lassen? Ist das etwa meine große Hoffnung? Bin ich eigentlich deshalb hier? Ich weiß nicht einmal, wie das gemacht wird, außer, dass ich eine Nacht unter Beobachtung im Krankenhaus sein müsste. Das hört sich an wie der Titel einer Doktorarbeit: Untersuchung von Schlafstörungen.

Der Arzt schiebt sich mit seinem Bürostuhl vom Schreibtisch weg und rollt zu einem Regal, aus dem er einen dünnen Ordner zieht. Sind das vielleicht seine eigenen Notizen? Er sucht in dem Ordner nach etwas, liest ein bisschen, sucht weiter. Letztes Mal, als ich mit einem meiner Kinder hier war, schaute er mich nicht ein einziges Mal an. Ich bin an Ärzte gewöhnt, die schon alles erlebt, alles gehört haben, die nie wirklich daran glauben, dass etwas Schwerwiegendes vorliegen könnte, ganz egal, mit welchen Beschwerden man ankommt. Aber jetzt ist er neugierig und engagiert. Vielleicht bin ich an diesem Tag für ihn der interessanteste Patient. Vielleicht waren vor mir heute nur Leute mit Migräne und Grippe hier und dann komme ich mit meinen sechzehn Jahren Schlaflosigkeit. Vielleicht war es gerade solch ein Fall, der ihn ursprünglich zum Medizinstudium motiviert hat? Vielleicht wird er jetzt in seinen alten Ordnern aus dem Studium blättern, seine Professoren von damals anrufen, die ebenfalls aus dem akademischen Dämmerschlaf erwachen und ihn dann des Nachts mit Vorschlägen zu innovativen Lösungen anklingeln. Spätabends noch schnell etwas essen, wissenschaftliche Formeln, die eine Wandtafel füllen, halbe Nächte im Archivkeller der Bibliothek.

»Ich weiß nicht, aber normalerweise schaut man sich schon die zugrunde liegenden Probleme an«, sagt er, noch immer über den Aktenordner gebeugt.

»Was meinen Sie?«

»Also, woran liegt es denn, dass Sie nicht schlafen können? Dafür kann es viele Gründe geben, wie Sie ja selbst sagen. Vielleicht wird eine Untersuchung dazu beitragen, die aufzuspüren.« Er klappt den Ordner zu, stellt ihn zurück ins Regal und rollt wieder zurück zu seinem Computer.

Indem ich dem Arzt von meinen Beschwerden berichte, indem ich um Hilfe bitte, merke ich etwas, das ich schon lange nicht mehr wahrgenommen habe: Hoffnung. Hoffnung und Angst. Gibt es die immer nur im Doppelpack? War ich deshalb so zögerlich gewesen, einen Arzt aufzusuchen? Hatte ich Angst davor, wieder einmal ein bisschen Hoffnung zu hegen?

»Für die nächste Zeit habe ich etwas für Sie, das, glaube ich, helfen könnte«, sagt er. »Das sind keine Schlaftabletten, das ist ein Medikament, das man bei bipolaren Störungen nimmt.«

»Glauben Sie denn, ich habe eine bipolare Erkrankung? Schlafe ich deshalb nicht?«

»Es sieht nicht nach einer bipolaren Erkrankung aus – Sie funktionieren bei Ihrer Arbeit. Und ein paar kleinere Episoden dann und wann besagen noch gar nichts. Es ist aber nicht unüblich, Medikamente, die eigentlich für etwas Bestimmtes gedacht sind, für etwas ganz anderes einzusetzen. Und das hier kann man zum Einschlafen nehmen. Es bremst das Gedankenkarussell.«

»Es bremst das Gedankenkarussell?«

»Es verlangsamt das Ganze. Nur nachts.«

»Ich werde also nicht zu einem sabbernden Idioten?«

»Nein, das sind Schlaftabletten.«

Ich nicke, verstehe aber nicht. Sind das nun Schlaftabletten oder nicht? Wovor ich am meisten Angst habe, sind Medikamente, die meine Fähigkeit, zu schreiben oder Musik zu machen, begrenzen oder ausschalten. Verliere ich die, dann ist es egal, ob ich in allen anderen Bereichen funktioniere.

»Wie lange soll ich das einnehmen?«

»Eine Woche und dann kommen Sie wieder. Dann besprechen wir, wie es Ihnen gegangen ist, und ich sehe mal, ob ich Sie an einen Spezialisten überweisen kann.« Er stellt ein Rezept aus und bedeutet mir, dass unser Gespräch nun zu Ende sei. »Lassen Sie sich von der Packungsbeilage nicht beunruhigen!«, sagt er noch, als ich schon aus dem Sprechzimmer gehe.

Als ich ein paar Stunden später in der Apotheke stehe, um mir mein Medikament zu holen, sehe ich, dass ich meine Bankkarte nicht mithabe. Die muss ich auf Arbeit liegen gelassen haben. Ich radele zur Arbeit, finde die Karte auf meinem Schreibtisch, radele wieder zurück zur Apotheke und wedele außer Atem mit der Karte in Richtung der Apothekerin, die verhalten zurücklächelt. Ich, der ich mich gegen Medikamente entschieden hatte und zum Arzt gegangen war, um eine dauerhafte Lösung zu finden, stehe jetzt wie ein Idiot vor der Apothekerin und schreie schon beinahe: »Schauen Sie mal, ich kann sogar für meine Pillen bezahlen!«

 

Die Apothekerin schiebt die Tablettenschachtel über den Ladentisch und tippt den Preis in die Kasse ein. Ich bezahle mit Karte. Die Schachtel sieht aus wie alle anderen, eine weiße, flache, rechtwinklige Tablettenschachtel.

»Und lassen Sie sich von der Packungsbeilage nicht beunruhigen!«, sagt sie noch.

Ich hole die Kinder aus dem Kindergarten, setze sie in die Box vorn am Lastenfahrrad und radele nach Hause. Während die beiden draußen spielen, koche ich Tomatensuppe, mache Eierpfannkuchen und lade unser Nachbarkind zum Essen ein. Nach dem Essen renne ich mit den restlichen Pfannkuchen zu unseren Nachbarn von oben. Hätte ich letzte Nacht schlecht geschlafen, hätten wir uns mit Schinkenpizza und Cola begnügt. Die Nachbarn hätten nichts abbekommen. Aber jetzt habe ich die Kraft, mich wie ein gut funktionierender, leistungsfähiger Mitmensch zu benehmen.

Line macht heute Überstunden und kommt erst nach Hause, als die Kinder schon im Bett sind. Ich erzähle ihr vom Arztbesuch und dem Medikament, das ich verschrieben bekommen habe.

»Aber das ist ja genau das, was du nicht wolltest!«, sagt sie. »Du hast selbst gesagt, du bist gegen Schlaftabletten!«

»Aber das sind doch keine Schlaftabletten!«, sage ich.

»Ach nein?«

»Der Arzt sagt, sie verlangsamten das Gedankenkarussell. Er möchte sehen, ob mir das was bringt.«

Line schaut mich an. Sie denkt nach, sehe ich, sagt aber nichts mehr. Das hier ist meine Entscheidung. Ich lege die Medikamentenschachtel auf den Tisch, an dem wir sitzen, falte den Beipackzettel auseinander, bis er so groß wie eine Tischdecke ist, und lese: Antipsychotika. Zur Einnahme bei Schizophrenie, Manie und bipolaren Erkrankungen.

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