Juwelen, Mörder, Tote - Sechs Extra Krimis Juni 2018

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12


Elsa lief hinauf zum Schlafzimmer, um ihre Tasche zu holen. Was geschehen war, war so furchtbar, dass es ihr fast den Verstand zu rauben drohte.

Aber es war ihr auch klar, dass sie jetzt, trotz allem, ein Minimum an kühlem Kopf bewahren musste. Sie nahm also ihre Tasche und ging zum Landrover, draußen vor der Tür. Sie stieg ein.

Der Schlüssel steckte, so brauchte sie ihn nicht erst in den Kleidern des Schwarzbarts zu suchen. Sie ließ den Wagen an und fuhr los.

Ein paar Augenblicke später befand sie sich auf der Straße nach Tanger.

Ihre Hände zitterten, während sie das Lenkrad hielt.

Nur weg von hier!, dachte sie. So schnell und so weit wie möglich!

Ein Lieferwagen kam ihr entgegen und streifte den Landrover fast, weil Elsa zu weit in der Mitte fuhr.

Nur ruhig bleiben!, hämmerte es in ihr.

Als sie die Stadt erreichte, stellte sie den Wagen irgendwo in einer Seitenstraße ab und ließ sich von einem Taxi zum Hafen fahren.

Sie hatte Glück. Sie würde noch das letzte Schiff erreichen, das heute nach Spanien abfuhr. Es dauerte endlos, bis sie es schließlich geschafft hatte, ein Ticket zu bekommen.

Und dann hieß es erneut warten. Hunderte von Marokkanern hatten sich hier am Hafen gesammelt. Die meisten von ihnen Männer, die in Frankreich oder Holland arbeiteten.

Ein dürrer, hohläugiger Mann, der doppelt so alt wirkte, wie er wirklich war, trat an Elsa heran und bot ihr Haschisch an. Erst auf Französisch, dann auf Englisch, schließlich auf Deutsch.

Elsa tat so, als bemerke sie ihn nicht, blickte zur Seite, ging ein paar Schritte weiter. Aber der Kerl war hartnäckig, so hartnäckig, wie ein Vertreter seiner Zunft eben nur sein konnte.

„Verschwinde!“, sagte sie unfreundlich und genervt. „Ich will nichts von dir!“

„Very good quality!“

„Hau ab!“

Er machte noch einen eher halbherzigen Versuch, mit ihr ins Geschäft zu kommen, dann zog er endlich ab.

Elsa ließ ihre Tasche nicht aus der Hand. Sie wusste, dass man hier im Hafen höllisch aufpassen musste, dass man nicht etwas ins Gepäck gesteckt bekam, was einem später Ärger machte.

Dann kamen die Zollkontrollen, die umständlich und bürokratisch vor sich gingen. Wirklich scharf kontrolliert wurde aber nur das Gepäck der Marokkaner.

Der Beamte, der sich Elsas Pass vornahm, hatte eine prächtige Uniform und schien sich vorzukommen wie ein Vier-Sterne-General. Er machte eine große Geste und musterte Elsa. Erst das Gesicht, das er mit dem Passbild verglich, dann glitt sein Blick tiefer und blieb an ihren Schuhen hängen. Und dann sah es auch Elsa. Sie erschrak. Ihr rechter Turnschuh hatte rote Flecken. Blut...

Bei ihrer Flucht war sie wohl hineingetreten. Jetzt war es angetrocknet. Elsa fühlte ihren Puls bis zum Hals schlagen. Sie dachte an den schrecklichen Ort, von dem sie geflohen war. Wenn jemand dorthin kam, und alles so vorfand, wie es jetzt war, was musste er davon halten?

Sechs Leichen.

Die Waffe!, kam es ihr in den Sinn. Sie hatte die Waffe des Schwarzbarts einfach fallen lassen. Sicher würde man ihre Fingerabdrücke daran noch finden können... Sie hatte in der Eile einfach nicht daran gedacht. Warum auch? Sie war ja keine vorsätzliche Mörderin, die ihre Tat sorgfältig geplant hatte...

Und dann ihre Schuhe... Wenn sie in eine Blutlache getreten war, dann gab es auch Fußspuren... Spuren, die zu ihren Turnschuhen passten!

Nur ruhig bleiben!, versuchte sie sich einzureden. Sicher hat noch niemand entdeckt, was passiert ist...

Der Beamte lächelte und gab ihr den Pass zurück. Bei europäischen Touristinnen hatte er offenbar schon ganz andere Verrücktheiten gesehen, als einen rotgefleckten Turnschuh.

Eine halbe Stunde später stand Elsa an der Reling des Schiffes, das sie nach Algeciras bringen würde und das sich gerade anschickte, die Bucht von Tanger zu verlassen.

Es war kühl hier draußen, und sie fror ein wenig.

ENDE




Der Armbrustmörder


von Alfred Bekker

Auf dem Korschenbroicher Schützenfest verfehlt das Projektil einer Armbrust nur knapp den Moderator und Event Manager Thomas Marwitz. Privatdetektiv Robert Berringer ermittelt - und stößt sehr bald auf Eckart Krassow. Der hat sowohl die entsprechende Waffe als auch ein Motiv: Er möchte an Marwitz' Stelle die Eröffnungsveranstaltung der Hockey WM in Mönchengladbach moderieren. Doch wenig später wird er tot aufgefunden, und kurz darauf werden zwei weitere Armbrustmorde verübt. Gibt es eine Verbindung zwischen den Opfern? Ein kniffliger Fall für Berringer.




Prolog


Beinahe Mitternacht.

Schatten, die im Licht der spärlichen Beleuchtung dahinhuschten.

Ratten.

Vielleicht ...

Nur in den Büroräumen von EVENT HORIZON, der Event-Agentur von Frank Marwitz, brannte noch Licht. Ansonsten befand sich niemand mehr in dem kastenförmigen dreistöckigen Flachdachbau im Gewerbegebiet Mönchengladbach, in den sich ein paar aufstrebende Selbstständige eingemietet hatten, deren Unternehmen ihre beste Zeit noch vor sich hatten.

Marwitz saß an seinem Schreibtisch und fuhr gerade den Rechner herunter. Er hatte noch einmal den Veranstaltungskalender seiner Homepage überarbeitet. Nun war nichts mehr zu tun. Für diesen Abend hatte selbst ein so hyperdynamischer Jungunternehmer wie er, diese Rampensau des Niederrheins und Conferencier für alle Fälle, bekannt aus Funk, Fernsehen und lokalem Käseblatt, genug getan.

Der Flachbildschirm wurde dunkel. Marwitz stand auf. Sein Haar war gegelt, sah aber aus, als wäre es verschwitzt. Er war Mitte vierzig, fand aber, dass er wie Mitte dreißig aussah, und hatte ein Lebensgefühl, das er für das eines Fünfundzwanzigjährigen hielt.

Allerdings waren die allgewaltigen Unterhaltungschefs in den TV-Sendern in diesem Punkt anderer Meinung gewesen. Seine größten Erfolge war eine Nebenrolle in einer Vorabend-Soap und ein Moderatorenjob in einem Shopping-Sender gewesen. Aber der erste dieser beiden einzigen überregionalen Erfolge lag schon etwa zehn Jahre zurück, und der zweite hatte gerade sein unweigerliches Ende gefunden, weil der Shopping-Sender, für den er Trimmgeräte und Billig-Laptops angepriesen hatte, in Konkurs gegangen war.

So war Marwitz in gewisser Weise ein Opfer der allgemeinen Finanz- und Wirtschaftskrise geworden. Zumindest sagte er sich das, denn diese Version war leichter mit seinem Ego zu vereinbaren als die, dass seine Moderation möglicherweise einfach an der Zielgruppe vorbeigegangen war.

Genau das hatte man ihm bei einer Reihe von Castings gesagt, die er zwischenzeitlich hinter sich hatte.

Marwitz fragte sich nicht zum ersten Mal, wieso er das eigentlich mitmachte. Er moderierte Veranstaltungen mit mehreren tausend Gästen und half manchmal sogar als Stadionsprecher der Borussia aus – was nach dem Wiederaufstieg in die Bundesliga ja auch richtig Spaß machen konnte. Er brachte ganze Hallen zum Kochen und verwandelte halbtote Rentner in ekstatische, enthemmte Partygänger. Er machte manchmal selbst Butterfahrten und den Tanztee für Senioren zu einem unvergesslichen Bühnenereignis und lief zur Hochform auf, wenn bei der Abschlussfeier einer vierten Grundschulklasse zwar weder der Bär noch Eltern oder Lehrer, aber immerhin die Kinder tobten.

 

Aber für das Fernsehen schien er einfach nicht gut genug zu sein. Seine Karriere war in dieser Königsdisziplin des Showbiz schon am Ende gewesen, bevor sie richtig angefangen hatte.

Marwitz nahm ein Kaugummi aus der Tasche seines ausgebeulten Kordjacketts. Er hatte an diesem Tag seit dem spärlichen Frühstück, das aus einem angegessenen Schokoriegel von gestern bestanden hatte, noch nichts zu sich genommen. Es war einfach keine Zeit gewesen. Das Korschenbroicher Schützenfest stand zu Pfingsten vor der Tür, und da musste einiges organisiert werden, was gar nicht so leicht gewesen war. Vor allem war es schwierig gewesen, eine leistungsfähige PA-Anlage zu organisieren, die in der Lage war, ein Festzelt ausreichend zu beschallen.

Marwitz hatte den Job in Korschenbroich kurzfristig annehmen müssen, da ein Kollege ausgefallen war, und zu Pfingsten war so ziemlich jede funktionsfähige PA-Anlage im Land irgendwo im Einsatz. Ob nun beim Tanz in den Mai, einer Ü-30-Party oder beim Gemeindefest einer Pfarrgemeinde, alles was auch nur entfernt nach einem Lautsprecher aussah, wurde gebraucht, und Marwitz war einfach zu spät dran gewesen. Aber er hatte gute Kontakte und es schließlich doch noch auf die Reihe gekriegt.

Es fehlte nur noch eine Sache zu seinem Glück, und die raubte ihm den letzten Nerv.

Marwitz ging zur Fensterfront und drückte die Stirn gegen die Scheibe. Das gab zwar einen Schweißfleck, aber so konnte er hinaus in die Dunkelheit sehen, ohne nur sein eigenes Spiegelbild anzustarren, während er den Kaugummi weiterhin mit nervös mahlenden Kiefern bearbeitete.

Es ging um die Ü-30-Party in der Kaiser-Friedrich-Halle an der Hohenzollernstraße in zwei Tagen ...

Alles war perfekt organisiert gewesen. Eine Art überdimensionaler Kindergeburtstag für die Teenager der Achtziger, deren Musik durch den Tod von Michael Jackson eine unerwartete Renaissance erlebte. Ausgerechnet da war Marwitz das fest eingeplante Michael-Jackson-Double abgesprungen und hatte den Termin einfach gecancelled.

Angeblich, weil er eine Zerrung hatte.

„Opa-walk mit Krücke statt Moonwalk“, hatte er am Telefon gejammert. „Das will doch keiner sehen.“

Aber Marwitz hatte aus gut unterrichteten Quellen erfahren, dass diese Jackson-Doublette stattdessen ein Engagement in einer Disco in Moers angenommen hatte.

Für die doppelte Gage.

Der Tod eines Popstars konnte zwar die Party-Szene bisweilen gehörig anheizen, aber er verdarb leider sowohl die Preise als auch die Moral der Lookalikes. Es war immer dasselbe. Den Kerl zu verklagen half Marwitz nichts. In zwei Tagen musste ein Jackson-Double in der Kaiser-Friedrich-Halle auf der Bühne stehen, sonst war er erledigt. Der Act war groß angekündigt und überall plakatiert.

Und tatsächlich hatte der Event-Manager es geschafft, einen der wenigen Jackson-Doppelgänger zu finden, die gegenwärtig noch frei waren.

Und der hatte auch versprochen, noch an diesem Abend bei ihm vorbeizuschauen.

Aber er war bisher nicht aufgetaucht, und unter der Handynummer meldete sich nur die Mailbox.

Du schaffst es noch, dass ich wegen dir wieder anfange zu rauchen!, ging es Marwitz erbost durch den Kopf. Fünf Minuten gebe ich dir noch, und wehe du kannst dann den Moonwalk nicht so perfekt wie der King of Pop zu seinen besten Zeiten!

Ein Wagen fuhr auf den Parklatz vor dem Gebäude. Ein Mann stieg aus. Er war groß und schlank, mehr konnte Marwitz von ihm nicht erkennen, denn er war nur für einen kurzen Moment als Schattenriss zu sehen, dann verschluckte ihn die Dunkelheit.

Wenig später klingelte es an der Tür. Marwitz öffnete.

„Tag. Kann ich reinkommen?“

„Wenn Sie Michael Jackson sind.“

„Bin ich. Sie sind Marwitz, oder? Ich habe Sie in der Zeitung gesehen. ›Bunter Nachmittag für Senioren war ein voller Erfolg‹ oder so ähnlich. Stimmt‘s?“ Nichts, worauf ich stolz bin!, dachte Marwitz. „Kommen Sie rein!“, forderte er barsch. Die Tür fiel zu. Marwitz musterte das Jackson-Double von oben bis unten.

„Sie sehen Jacko überhaupt nicht ähnlich.“

„Mit Maske und Perücke schon. Sie werden mich nicht von ihm unterscheiden können.“

„Na ja ...“

„Krieg ich 'nen Vorschuss?“

„Jetzt?“

„Ich will fünfhundert Eier, gleich auf die Kralle, sonst trete ich nicht auf. Klar?“

„Nun mal langsam!“

„Scheiße, wenn ich gewusst hätte, dass Sie es doch nicht ernst meinen, wäre ich gar nicht erst hier rausgefahren.“

„Wo wohnen Sie denn?“

„Giesenkirchen. Ich habe da als Kellner im Los Morenos gearbeitet, aber die Gebrüder Moreno haben ihr Restaurant dichtgemacht, und nun stehe ich auf der Straße. Deshalb bin ich etwas knapp bei Kasse.“

„Wann sind Sie das letzte Mal aufgetreten?“, fragte Marwitz.

„Ist schon ein paar Jahre her. Nachdem dieser Kinderschänder-Prozess gegen Jacko angefangen hat, wollte plötzlich niemand mehr Jackson-Doubles. War 'ne ziemliche Scheiße für mich, ich hatte mir gerade erst neue Klamotten für Auftritte gekauft, und die sind ja nicht billig ...“

„Singen Sie mal 'nen Ton“, sagte Marwitz. „Irgendwas. ›Billy Jean‹ oder ›Dirty Diana‹ – was Ihnen so einfällt.“

„Oh, hatte ich das nicht gesagt? Ich singe nicht. Ich tanze nur und bewege den Mund.“

Marwitz atmete tief durch. Er singt nicht, er sieht Jackson nicht ähnlich, aber er will 500 Euro im Voraus! Na großartig!, durchfuhr es den Event-Manager, und dabei fühlte er, wie eine blutrote Welle in ihm aufstieg, die zur einen Hälfte aus Wut und zur anderen aus blanker Verzweiflung bestand.

„Aber ein paar Schritte Moonwalk werde ich doch jetzt wohl zu sehen bekommen.“ Marwitz hatte Mühe, das geschäftsmäßige Moderatoren-Lächeln, das bei ihm ansonsten von ganz allein und bei Bedarf auch zu jeder Tages- und Nachtzeit anzuspringen pflegte, nicht wie ein Zähnefletschen aussehen zu lassen.

„Null problemo!“, sagte der falsche Jacko. Er ahmte ein paar Tanzschritte seines großen Meisters nach, und seine Füße glitten dabei einigermaßen gelenkig über den Boden.

„Immerhin – der Griff in den Schritt war stilecht“, sagte Marwitz. „An dem Rest sollten Sie noch arbeiten.“

„Ich hab die falschen Schuhe an. Aber wenn ich verkleidet bin, kommt das gut!“

„Das will ich hoffen, sonst bin ich der Erste, der anfängt, Sie mit faulen Eiern zu bewerfen.“

„Was ist mit den Fünfhundert? Ich hab mehrere Angebote und muss Ihres nicht annehmen. Da laufen noch ein paar andere Partys, die ...“

„Ja, ja, schon gut.“

Marwitz ging zum Schreibtisch, öffnete eine Schublade und holte eine kleine Geldkassette hervor. Sie war nicht abgeschlossen, den Schlüssel hatte er verbummelt.

Größere Summen bewahrte er im Büro sowieso nicht auf, aber 500 Euro bekam er zusammen.

In diesem Moment zerplatzte die Scheibe. Ein Geschoss schlug durchs Fenster und traf den Flachbildschirm des Computers. Wie die Scheibe wurde auch der einfach durchschlagen, dann riss etwas Marwitz die Geldkassette aus der Hand, die zur gegenüberliegenden Seite des Raums geschleudert wurde. Fünf- und Zehn-Euro-Scheine flogen durch die Luft und sanken nieder.

Marwitz hatte sich zu Boden geworfen. Draußen war ein lauter Knall zu hören, und auch die anderen Fenster von Marwitz’ Büro zerbarsten. Der Event-Manager spürte selbst am Boden liegend noch die Hitzewelle der Explosion, die von draußen hereinfegte.

„Scheiße, mein Auto!“, rief der falsche Jacko.

Währenddessen knatterten draußen mehrere Motorräder, deren Fahrer anschließend – so hörte es sich an – einen Blitzstart hinlegten und davonbrausten.

Verdammt!, dachte Marwitz. Hört das denn niemals auf?




1. Kapitel: Berringer, dein Freund und Helfer


Ein klickendes Geräusch.

Der Geruch von Benzin.

Dann – Feuer!

Gelbrot, heiß ...

Wie die Hölle ...

Aus der einzelnen Flamme eines Feuerzeugs ein Flammenmeer ...

Darin: zwei Gesichter hinter den Scheiben einer Limousine.

Bettina ...

Alexander ...

Seine Frau und sein Kind, die Mienen im Schrecken erstarrt wie die Fratzen von Gargoyles.

Gefroren in der Zeit – und doch versengt im glutheißen Höllenfeuer.

Ich kann es verhindern!, dachte Berringer. Diesmal kann ich es vielleicht verhindern!

Der Gedanke hatte sich noch nicht einmal zur Gänze in seinem Kopf gebildet, als sein Körper längst handelte. Er wirbelte herum, fasste den hoch gewachsenen Mann mit dem Dreitagebart am Handgelenk und an der Schulter und drückte ihn grob gegen die Wand.

Der Kerl schrie auf und ließ das Feuerzeug fallen, und Berringer löste seine Finger vom Handgelenk des Mannes und presste ihm den Unterarm gegen die Kehle.

„Hör auf, Berry!“, rief eine schrille Stimme, die ihn vage an etwas erinnerte. An jemanden. An ein anderes Leben, das nie hätte Wirklichkeit werden dürfen.

Jemand fasste ihn an den Schultern. Er wandte den Kopf, blickte in ein Gesicht, das ihm bekannt vorkam. Ein Frauengesicht. Fein geschnitten, die Augen weit aufgerissen. Die Frisur hatte Stil, die Ohrringe nicht. Sie klimperten. Über dieses Klimpern hatte sich Berringer schon oft geärgert, aber jetzt rettete es ihn, denn es holte ihn augenblicklich zurück. Zurück ins Hier und Jetzt.

„Willst du unseren Klienten abmurksen, oder was soll der Mist?“, fauchte die Frauenstimme. Sie klang schrill und hoch und war genau richtig, um durch den Panzer aus Watte zu dringen, der Berringer im Moment zu umgeben schien und alle seine Empfindungen und Sinneseindrücke extrem dämpfte.

Er spürte plötzlich wieder den Schweiß auf seiner Stirn. Sein Herz schlug wie ein Hammerwerk. Er hatte einen Puls eines zum Tode Verurteilten, kurz bevor man ihn auf dem Elektrischen Stuhl festschnallte.

„Vanessa ...“, murmelte er.

Seine Stimme klang heiser und entsetzlich schwach. Und dieselbe Schwäche machte sich plötzlich auch in seinen Armen und Beinen breit. Seine Knie begannen zu zittern.

„Na, endlich merkst du es, Berry. Jetzt lass den Kerl los. Zwing mich nicht dazu, dir eins überzubraten. Du kannst von Glück sagen, dass die ›Zehntausend legalen Steuertricks‹ von Konz nicht an ihrem Platz im Regal stehen, warum auch immer.“ Berringer atmete tief durch. Vanessa Karrenbrock, Mitte zwanzig, BWL-Langzeitstudentin ohne den Ehrgeiz, den man Studierenden dieses Fachs für gewöhnlich nachsagte, arbeitete stundenweise in Berringers Detektivbüro, und Berringer fragte sich manchmal, ob das Chaos in seinen Ermittlungen, für das ihr loses Mundwerk stets sorgte, durch die Ordnung aufgewogen wurde, die sie in seine Buchhaltung und Steuerunterlagen brachte.

Aber so sehr Berringer die Erkenntnis auch widerstrebte – in diesem kritischen Moment hatte sie auf ihre rustikal-schrille Art sogar etwas Ordnung in sein zertrümmertes Seelenleben gebracht. Zumindest für den Augenblick.

Berringer wandte den Blick dem völlig verängstigten Dreitagebartträger zu, dessen Nasenflügel vor Angst bebten. Berringer ließ ihn los, strich sein Jackett glatt und trat einen Schritt zurück.

Bei dem Dreitagebartmann übernahm Vanessa das Glattstreichen des Jacketts. „Er hat’s nicht so gemeint“, versicherte sie – Worte, die etwa die gleiche Überzeugungskraft hatten, als wenn ein Lude seinen Mastiff spazieren führte und jedem Passanten versicherte: „Der macht nix. Der will nur spielen.“ Endlich kam der Mann, der vor diesem Ereignis zumindest potenziell als „Klient“ der Detektei Berringer anzusehen gewesen war, zu Atem, während er sich mit einer unbewussten fahrigen Geste erst einmal selbst die Gelfrisur nachhaltig ruinierte, woraufhin ihm die Haare zu Berge standen. „Der Typ ist ja nicht ganz richtig im Kopf! Ich frage mich, wie so ein Psycho frei herumlaufen kann!“

 

„Sag, dass es dir leid tut, Berry“, forderte Vanessa auf ihre unnachahmliche nachdrückliche Art und Weise. „Fix!“

Berringer schluckte. Allmählich begriff er, was er angerichtet hatte. Er bückte sich, um die Sonnenbrille aufzuheben, die bei dem Handgemenge zu Boden gefallen war.

Ein Billigmodell, das teuer aussehen sollte, erkannte Berringer gleich. Er reichte sie dem Mann. „Es war wirklich nicht meine Absicht, Sie zu erschrecken. Sie müssen verstehen, ich ...“

„Klar, jemand versucht mich umzubringen, vor meinem Büro fliegt ein Wagen in die Luft, die Polizei hilft mir nicht, und der Typ, auf den ich meine letzte Hoffnung setze, nimmt mich in den Schwitzkasten und erwürgt mich fast. Aber ich kann das natürlich alles verstehen und sehe das ganz easy!“

Er schielte zu dem Feuerzeug, das noch am Boden lag.

Berringer hatte es eigentlich genau wie die Brille aufheben wollen, aber er konnte es einfach nicht. Er fühlt sich wie gelähmt.

Nein, du darfst nicht wieder abdriften!, versuchte er sich selbst zurechtzuweisen und mental an die Kandare zu nehmen. Die Vergangenheit ist Vergangenheit. Deine Frau und dein Kind sind tot, und du lebst jetzt!, versuchte er sich selbst auf dem Pfad der Realität zu halten – einem sehr schmalen Pfad. Nimm das Feuerzeug! Überwinde dich! Setz dich dem Trigger aus und erfahre, dass er dich nicht mehr beherrscht!

Aber es ging nicht. Wie zur Salzsäule erstarrt stand Berringer da.

Der Kerl mit der selbst ruinierten Gelfrisur wagte es ebenfalls nicht, sich zu rühren, geschweige denn, das Feuerzeug selbst aufzuheben, denn dazu hätte er dem in seinen Augen völlig unberechenbaren Berringer zu nahe kommen müssen.

Vanessa erfasste die Situation. Seufzend schob sie Berringer noch ein Stück weiter zurück, sodass sich der Abstand zwischen den beiden Männern noch vergrößerte, und bückte sich nach dem Feuerzeug.

Anschließend versuchte sie, ihr Lächeln charmant aussehen zu lassen, als sie das Feuerzeug seinem Eigentümer zurückgab.

„Danke“, murmelte der Mann. „Ich mach mich dann besser vom Acker. Irgendwie bin ich hier anscheinend fehl am Platz.“

„Bleiben Sie“, sagte Berringer. „Wenn nur die Hälfte von dem stimmt, was Sie mir gerade so beiläufig entgegengeschleudert haben, dann sind Sie hier sogar genau richtig.“

„Ach ja?“

„Es gibt nur wenige, die Ihnen helfen können. Viele werden das von sich behaupten, aber das sind Kaufhausdetektive und Leute, die nur Ihr Geld wollen, denen Ihre Sicherheit aber vollkommen gleich ist.“

„Ich hatte gerade nicht den Eindruck, dass sie Ihnen was bedeutet.“

„Fangen wir von vorn an. Ich heiße Berringer, und das ist meine Hilfskraft Vanessa Karrenbrock, die Ihnen die Rechnung schreiben wird, wenn wir für Sie tätig werden. Ich bin ehemaliger Polizeihauptkommissar und kenne mich aus. Außerdem habe ich noch einen guten Draht zu den Kollegen und komme so an Informationen heran, die nicht so einfach zugänglich sind.“

„Das war's also. Ein Zwei-Mann-Betrieb. Ich habe gehört, dass amerikanische Detekteien oft mehr als ein Dutzend Mitarbeiter haben, und selbst hier in Deutschland ...“

„Wir haben noch einen dritten Mann“, warf Vanessa ein - wobei sie ihrer Formulierung nach dann ebenfalls ein Mann sein musste, aber die Herausstellung ihrer weiblichen Identität schien ihr wohl im Moment von zweitrangiger Bedeutung.

„Herr Mark Lange ist ein hoch qualifizierter Mitarbeiter aus der Sicherheitsbranche, den wir glücklicherweise abwerben konnten. Tja, Sie sehen, gute Leute sind überall rar. Das ist bei Ihnen wahrscheinlich genauso. Ich ... äh, ich meine ... das schätze ich mal, obwohl ich noch nicht weiß, wer Sie sind und was Sie so machen.“

„Frank Marwitz, Event-Agentur EVENT HORIZON“, stellte er sich vor, und die Geschäftsmäßigkeit, mit der er dies tat, verriet, dass er diesen Halbsatz wahrscheinlich jeden Tag fünfzig Mal am Telefon aufsagte.

„Setzen wir uns“, schlug Berringer vor. „Kaffee ist leider alle, aber mich würde Ihr Problem interessieren.“

Marwitz schien noch nicht so recht entschieden zu haben, ob er dem Braten nun trauen sollte oder ob nicht doch sein ursprünglicher Entschluss, die Detektei fluchtartig wieder zu verlassen, die bessere Idee war.

Berringer ging zum Tisch und setzte sich auf einen der einfachen Stühle. Abgesehen von einer Computeranlage und allem Telekommunikationszubehör, was man in einer Detektei so brauchte, war die Einrichtung eher spärlich. Es gab in diesem etwas heruntergekommen wirkenden Büro im Düsseldorfer Stadtteil Bilk nur das Allernötigste – dafür aber einen großartigen Ausblick auf die uralte, langsam verblassende Blümchentapete, deren unmerkliche Verwandlung vom schrillen Hippie-Design zum zarten Aquarell wohl Jahrzehnte in Anspruch genommen hatte.

Das Telefon klingelte.

Berringer ging ran. Es war Mark Lange, der von Vanessa so hoch gepriesene, hoch qualifizierte dritte Mann der Detektei. In Wahrheit war er ein arbeitslos gewordener Angestellter des Sicherheitsunternehmens Delos, das vor ein paar Jahren in die Insolvenz gegangen war, weil einige leitende Mitarbeiter die Kundengelder von Banken und Versicherungen, die sie eigentlich von A nach B transportieren und dabei bewachen sollten, in die eigene Tasche gesteckt hatten. Das Ganze hatte nach dem berühmten Schneeballprinzip funktioniert, und folgerichtig war diese Blase irgendwann geplatzt. Die Verantwortlichen saßen nun im Knast und die Mitarbeiter auf der Straße, wobei dieses Schicksal alle gleichmäßig unbarmherzig getroffen hatte, die Ehrlichen wie die Halunken.

Mark war im Grunde ein armer Hund und keineswegs ein hochkarätiger Sicherheitsfachmann. Er hatte vor seinem Engagement bei Delos nur eine kurze Umschulung hinter sich gebracht, die aus ihm einen Wachmann hatte machen sollen.

Berringer wusste aus seiner Zeit bei der Düsseldorfer Polizei, wie erbärmlich der Ausbildungsstand dieser Sicherheitsfirmen häufig war. Das qualitativ Hochwertigste an diesen Security Guards, die auch zur Bewachung von Werksanlagen oder als Sicherheitsdienst in Bürohäusern eingesetzt wurden, war oft schon die respekteinflößende Fantasie-Uniform, mit deren martialischer Pseudoautorität sich die Obdachlosen aus den noblen Passagen herausmobben ließen.

„Brauchst du mich heute?“, fragte Mark. „Ich hab da einen lukrativen Schwarzarbeit-Job. Möbelschleppen bei einem Firmenumzug. Da könnt ich mir 'n paar Euro dazuverdienen, damit endlich mal mein Konto wieder im Plus ist.“

„In Ordnung“, sagte Berringer.

„Aber wenn bei dir irgendwas anliegt, dann hat das natürlich Vorrang.“

„Ich hab hier gerade einen Klienten. Du beurteilst die Lage am besten vor Ort und entscheidest dann nach Lage der Dinge“, sagte Berringer in einem Tonfall, der an Ernsthaftigkeit und Bedeutungsschwere kaum zu überbieten war.

„Irgendwie redest du heute komisch“, fand Mark.

„Ist schon in Ordnung.“

„Na ja, wie auch immer. Danke, dass du mir keine Knüppel zwischen die Beine wirfst und mich Geld verdienen lässt. Mein Kühlschrank und mein Bankkonto werden es dir danken.“

„Wiedersehen und alles Gute“, sagte Berringer und beendete das Gespräch. Dann fuhr er – an Vanessa gewandt, in Wahrheit aber mehr an Marwitz gerichtet – fort: „Auf Mark werden wir im Moment verzichten müssen. Die Observation zieht sich noch etwas hin. Aber er ist zuversichtlich, dass wir die Angelegenheit heute noch zum Abschluss bringen können.“

„Wunderbar!“, sagte Vanessa etwas zu übertrieben, als dass es wirklich überzeugend gewesen wäre. Doch Marwitz war dennoch beeindruckt. Vielleicht war auch seine Furcht vor dem, weswegen er die Detektei aufgesucht hatte, größer als die Angst davor, von Berringer noch einmal in den Würgegriff genommen zu werden.

Zögernd setzte auch er sich. „Ihr Laden scheint gut zu laufen. Offenbar behandeln Sie nicht alle Ihre Klienten so grob wie mich.“

„Ich kann mich gern noch dreimal entschuldigen, wenn Sie wollen“, erwiderte Berringer knurrig. Die Situation hatte ihn mindestens genauso mitgenommen wie das „Opfer“ seiner Attacke. „Aber es wird Ihnen wahrscheinlich kaum ein Trost sein, wenn ich Ihnen den Grund dafür erkläre, weshalb ich mich Ihnen gegenüber – wie soll ich sagen? – etwas merkwürdig benommen habe.“

„Das ist reichlich untertrieben“, erwiderte Marwitz. „Ich betrete Ihr Büro und denk mir nichts Böses, da fällt der Herr des Hauses mich an, als ob ich ein Einbrecher oder was weiß ich wäre! Ich habe Ihnen weder etwas getan, noch Sie provoziert oder beleidigt. Ja, genau genommen hatte ich ja noch nicht einmal die Möglichkeit, überhaupt ein Wort zu sagen, da haben Sie mich schon angegriffen!“ Er betastete seinen Hals, insbesondere die Gegend um den Adamsapfel. „Glauben Sie mir, wenn ich nicht so verzweifelt wäre, ich wäre schon weg. Davon abgesehen ...“ Er räusperte sich. „Ein Bekannter hat Sie mir empfohlen, den Sie offenbar nicht so traktiert haben.“

„Darf ich fragen, wer dieser Bekannte ist?“

„Frank Meier. Besser bekannt als Paul Pauke.“

Berringer nickte. „Ja, da klingelt’s bei mir.“

Frank Meier trat unter dem Namen Paul Pauke als Partysänger in den Clubs von Mallorca auf und hatte unter den Nachstellungen einer Stalkerin gelitten, bis Berringer dem ein Ende gesetzt hatte.

Marwitz wurde etwas lockerer. „Ich war es ja, der Paul Pauke dazu überredet hat, auch in Deutschland aufzutreten. Schließlich gibt es genügend Leute, die ihre Urlaubserinnerungen von der Sonneninsel in der Heimat gern wieder auffrischen lassen, und wo immer wir zusammen aufgetreten sind, sind wir auch hervorragend angekommen. Und ... nun, wenn Sie nicht gewesen wären, würde diese Spinnerin Paul noch immer belästigen. Aber Sie haben genug Beweise sammeln können, um sie schließlich juristisch an den Eiern zu kriegen und ...“ Marwitz stockte. Offenbar war ihm die Absurdität seines Sprachbilds selbst aufgefallen. „Also, Sie wissen schon, was ich meine.“

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