Das Gorbatschow Vermächtnis

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Kapitel 7

Harlan Bale zog sich die grellrote Socke über die linke Faust. Mit den aufgeklebten Glotzaugen, den gelben Fäden, die wie vergilbtes Unkraut aus der Wolle sprossen und dem kobaltblauen Schlund, der sich jedes Mal auftat, sobald der Daumen die Socke nach unten zog, machte das Sockengesicht einen unwiderstehlich komischen Eindruck.

Harlan schaute in die andere Richtung, als die Socke loslegte. „Hör mal zu, du. Du willst Arzt sein und hast noch nicht einmal Smaaaarties für Peter?“ Die Socke hatte eine schwer verständliche Quengelstimme. Sie erinnerte an eine Mischung der Figuren aus den Simpsons, den Muppets und American Dad. „Noch nicht einmal ein kleines Smaaartie für den braven Peter?“ Der Patient des Kinderarztes Harlan Bale schaute fasziniert auf das Sockengesicht, das mit blauer Zunge und auf und ab hüpfenden Haaren immer wieder auffordernd in das linke Ohr des Kinderarztes hinein blökte. „Du kaust ja noch“, beschuldigte ihn die Socke.

Harlan blickte schuldbewusst nach unten. Er war entlarvt. Seine eigene Sprechsocke hatte ihn entlarvt. Harlan legte das Stethoskop beiseite, das bei seinem kleinen Patienten Ängste und einen Schreikrampf ausgelöst hatte. Er hatte völlig vergessen, dass er Peter untersuchen wollte. „Los, entschuldige dich!“ Die Socke hüpfte aufgeregt vor seinem Gesicht auf und ab. „Entschuldigen, entschuldigen“. Die Socke verfiel in einen Singsang und schmiegte sich eng an Peters Wange. Vor der Socke hatte Peter keine Angst. Socken waren keine Stethoskope, die sich eiskalt auf der Haut anfühlten und verlangten, dass man einatmete, bis alles wehtat und dann ganz lange nicht mehr ausatmete.

Harlan entschuldigte sich in kleinlautem Ton und mit rotem Gesicht. Peter nickte gnädig. Fast hätte er vergessen, sich von den bunten Smarties zu nehmen, die plötzlich in der geöffneten rechten Hand des Arztes lagen.

Das Sockengesicht und Peter begannen ein kleines Ritual. Es war ein Freundschaftsritual. Blutsbrüderschaft, nur ohne Blut. Dafür fütterte Peter das Sockengesicht mit Smarties. Die Socke brachte Peter den geheimen Spruch bei. Der Spruch war so geheim, dass sich Peter ganz nach unten beugen musste, dorthin, wo Sockengesicht auf ihn wartete. Das ganze Ritual war natürlich sehr kompliziert. Es bestand aus viel mehr als dem Spruch. Man musste klopfen, riechen, schmecken und große Augen machen. Dann kam die entscheidende Stelle. Man musste die Augen schließen und ganz langsam atmen. Ein und aus, so wie Socke es sagte. Manchmal musste man die Luft anhalten und dann ging es weiter. Man musste auch ein Held sein, versteht sich. Es würde auf dem Rücken kalt werden, verriet Socke und mahnte, dass nur Männer mit Mumm diesen Teil unbeschadet überstanden und auch nur dann, wenn sie die ganze Zeit eisern schwiegen. Ein Quieken, ein Zucken, eine falsche Bewegung und alles war vorbei. Der Einlass zum Geheimbund wäre geschlossen bis zum nächsten Mal.

Peter nickte eifrig. Den Kinderarzt hatte er vollkommen vergessen. Er war ein Patient wie aus dem Bilderbuch. Tapfer, zäh und hart zu sich selbst. Harlan Bale rief Socke nach der Untersuchung des Kleinen zu sich. Socke verabschiedete sich artig von Peter, nicht ohne ihm die Plakette des geheimsten Geheimbundes aller Geheimbünde an sein T-Shirt zu heften. Peters Wangen waren vor Aufregung gerötet. Er zappelte herum und konnte es nicht abwarten, seiner Mutter all die überstandenen Abenteuer zu erzählen, die sich in dem Zimmer voller Plüschtiere, Kinderzeichnungen und Spielzeuge ereignet hatten.

Harlan lächelte zufrieden, als er Socke in seinem Kittel verstaute. Er schrieb einen Sirup gegen den Husten auf und machte sich auf den Weg zum Wartezimmer.

Edith Bale wog den Baseball prüfend in der Hand. Sie war sich nicht sicher, ob sie eine Kostbarkeit in der Hand hielt oder ein ganz normales Spielgerät. Hätte der Ball zwischen den wulstigen roten Nähten Unterschriften von Spielern der Brewers getragen, wäre die Sache klar gewesen. Baseballausrüstungen mit Unterschriften waren verehrungswürdige Reliquien. Vitrinenware. Sie würde später Harlan fragen, ob der Ball bei ihrem Privatflohmarkt zum Einsatz kommen durfte.

Edith fuhr sich über die verschwitzte Stirn. Sie war schon mehr als fünf Stunden mit dem Aussortieren beschäftigt und noch war kein Ende in Sicht. Zeit für einen Kaffee. Wie immer hatte Harlan versprochen, all die Dinge, die er im Verlauf eines Jahres angeschleppt hatte, auch selbst für den Garage Sale zu sortieren. Wie immer war im letzten Moment Edith eingesprungen, weil Harlan sich nicht von seinen kleinen Patienten trennen konnte. Harlan war selbst ein kleiner Junge geblieben, für den Bauklötzchen zu Autos wurden und Federbälle zu Raumkapseln, sobald er seinen Arztkittel anzog und sich mit den Kindern kurzschloss. Das machte Harlan zu einem beliebten Kinderarzt. Er kommunizierte auf eine geheimnisvolle Weise mit den Kleinen und leitete schon damit den Gesundungsprozess ein.

Auf der anderen Seite brauchte eine Ehefrau viel Geduld mit einem Mann wie Harlan, der sich Projekte und Patienten auflud und den Rest Edith überließ, die dafür sorgte, dass das Backsteinhaus am Milwaukee River nicht im Chaos versank.

Für den Garage Sale hatte Edith alle Kuriositäten, Kostbarkeiten und Gebrauchsgegenstände, die Harlan auf seinen Beutefahrten zusammengetragen hatte, sortiert, mit Preisschildern versehen und den unbrauchbaren Rest abholen lassen. Sie hatte Brownies gebacken und Limonade angesetzte, dieses Jahr mit einem Schuss Ingwer, weil die Luft im Osten Wisconsins schon rau und kühl wurde. Edith war eine praktische Frau, die in all den Jahren nie ihre Frisur oder ihre Überzeugungen gewechselt hatte. Manchmal, wenn Harlan nach Hause kam, umarmte er Edith und ließ seinen besten Freund Sockengesicht sagen, dass es ihnen unerträglich gut ging – ihm mit ihr und ihr mit ihm. Sockengesicht lenkte dabei Edith mit seinen Faxen ab und Harlan zauberte eine kleine Überraschung auf den Küchentisch. Wenn Edith verblüfft und gerührt fragte, wie er denn erraten habe, dass sie von genau diesem Ring mit dem australischen Opal geträumt habe, blies Harlan bedeutsam die Wangen auf und deutete verstohlen auf Sockengesicht, das feixend in der Luft hing. Solche Momente festigten das Band zwischen den beiden und gaben Edith die Energie für den Alltag. ,Vorwärts‘ war der Wahlspruch von Wisconsin und ,Vorwärts‘ war auch das Motto von Edith, die ihr Leben an der Seite von Harlan Bale, dem Kinderarzt, noch keinen Moment bereut hatte.

Die Bales waren überall zu finden, wo es um Nachbarschaftshilfe und ehrenamtliches Engagement ging. Sie wollten es so. Beim ,Irish Fest‘ mit seinen keltischen Bands und artistischen Tanzvorführungen, stand Edith hinter ihrem Stand und buk Apfelringe mit Zimt für den guten Zweck. Harlan schüttelte Hände und verkaufte Lose der Kirchengemeinde. Die Tombola war beliebt und wenn Kassensturz gemacht wurde, stellte sich immer heraus, dass Harlan und Sockengesicht das beste Verkaufsteam waren, das man haben konnte.

Der Badger State Wisconsin hatte einen unnachahmlichen Charme, der von den Flüssen und Seen, dem Hochland und den Wäldern nach Milwaukee hineingetragen wurde. Die Menschen waren authentisch und optimistisch. Milwaukee war eine Stadt für Biertrinker und Arbeiter, die ein gutes und ehrliches Leben zu schätzen wussten. Die Basketball Arena der Bucks war eine Pilgerstätte und ebenso die Baseball Grounds der Brewers. Die Footballfreaks machten sich auf ins nahe Green Bay, um den Packers beizustehen. Milwaukee vertraute auf seine eigene Kraft und eine tief verwurzelte Tradition aus Initiative, Glaube und Mitgefühl.

Edith hatte recht behalten. Harlan war mit gebackenen Hähnchen und Süßkartoffelauflauf nach Hause gekommen, ein entschuldigendes Lächeln auf seinem Gesicht.

„Wenn ich dich nicht hätte“, flüsterte er Edith ins Ohr, als er die Armada von Flohmarktartikeln inspizierte, die am nächsten Morgen der Initiative ,Kinderhilfe‘ mindestens 500 Dollar einbringen sollte. Harlan schnappte sich noch eine Handvoll Brownies und machte sich auf in seine ,Giftküche‘ im Keller des Hauses. Hier bastelte und werkelte Harlan an neuen Handpuppen, reparierte Spielzeuge für Kinder und arbeitete Möbel für Wohltätigkeitsbasare auf.

Edith wusste, dass sie ihn nicht stören durfte. Harlan hatte ein Geheimprojekt für den morgigen Nachmittag geplant. Den Nachmittag im Cathedral Park. Der große Drachenflugwettbewerb stand bevor. Es würde eine neue Kategorie geben – unbemannte Drohnen. Im Keller wartete ein nagelneuer Funk Quadrocopter H 107 mit 6-Achsen-Flugsteuerung samt Kamera.

,Eine Kunstflugmaschine‘ hatte Harlan geraunt und dabei ein Gesicht gemacht, das selbst die Mimik der Sprechsocke in den Schatten stellte. „Natürlich habe ich mir eine Reihe Modifikationen ausgedacht und einen tollen Plan dazu“. Harlan sprudelte geradezu über vor Enthusiasmus. Edith wäre es nie in den Sinn gekommen, den kleinen Jungen in dem großen Jungen zu bremsen. Sie hörte belustigt zu. Der Plan war, dass der Copter auf ein elektronisches Signal hin Hunderte goldener Flitterherzen, die in Säckchen angehängt waren, dem Wind überantworten würde. Zehn der Flitter hatte Harlan mit einem QR-Code bedrucken lassen. Sie waren der Hauptgewinn und berechtigten zum freien Eintritt zu einem Heimspiel der Brewers. Der Baseballclub hatte zusätzlich eine hübsche Summe für die Stiftung ,Kinder in Not‘ gespendet. Die Werbung für eine Aktion der Brewers im Cathedral Park war angelaufen. Niemand wusste etwas Genaues, aber die Stadt schätzte, dass sich Zehntausende das Event nicht entgehen lassen wollten.

Die Baumgruppen trugen die Farbpalette des Herbstes zur Schau. Von zartgelb bis flammendrot wölbten sich die Blätterdächer. Ein frischer Wind aus dem Norden war aufgekommen. Das Drachensteigen konnte beginnen. Edith war nervös, als sie die anmutig rasanten Tänze der Lenkdrachen beobachtete. Tausende Augenpaare starrten zum Himmel und Applaus brach los, wenn ein waghalsiges Manöver nach dem anderen glückte. Ediths Nervosität war leicht zu verstehen. Harlan hatte sich beim häuslichen Flohmarkt mehr als üblich engagiert. Er hatte sogar darauf bestanden, kurz nach dem Frühstück Flyer in der Nachbarschaft zu verteilen. Viele Freunde hatten ihr Kommen zugesagt und Wort gehalten. Harlan hatte agiert wie ein Marktschreier. Socke pries an, Harlan verkaufte. Für jedes Ding hatte er eine Geschichte parat. Socke versprach Wunderdinge und Harlan kassierte. Die Menschentraube vor der Garage der Bales wurde erst kleiner, als die Mittagszeit näher rückte. Sie hatten fast alles verkauft.

 

Der Anruf kam zur Unzeit. Harlan war nicht in Bereitschaft, aber ein Kollege hatte sich bei der Gartenarbeit so schwer verletzt, dass er ein Kind mit einer Verätzung nicht behandeln konnte. Harlan war der letzte Ausweg.

„Es ist ganz einfach. Rechts, links, oben und unten. Und dann den roten Knopf drücken. Der Rest geht automatisch“. Behutsam erklärte Harlan Edith, wie sie den futuristisch aussehenden Copter zu steuern hatte. Er war voll bestückt und funktionsfähig. „Wenn der Sprecher der Brewers über das Mikrofon das Zeichen gibt, dann den roten Knopf drücken“, schärfte Harlan Edith ein, bevor er zu seinem Patienten fuhr. Mehr Zeit blieb nicht.

Edith hätte sich keine Sorgen machen müssen. Mit angehaltenem Atem brachte sie das Fluggerät schwankend in die Höhe, bis es über allen Köpfen schwebte. Harlan hatte nicht übertrieben. Jedes Kind konnte das Gerät bedienen. „Viel Glück“, wünschte die Mikrofonstimme der andächtig schweigenden Menge. Dann brach Jubel los, als eine lange Spur goldener Herzen im Wind zu Boden taumelte. Die Sprühvorrichtung hatte ebenfalls ihre Pflicht getan. Sie war von Harlan akribisch unter Laborbedingungen präpariert worden. Milzbrandsporen wirbelten unsichtbar durch die Luft. Der Tod verbreitete sich schnell.

Schon am nächsten Tag zeigten sich erste Symptome. Später wurden die Arztpraxen und Kliniken mit Patienten überflutet, die unter Starkhusten, Fieber und Atembeschwerden litten. Die ersten Todesfälle traten nach drei Tagen ein. Edith war unter den ersten Opfern. Zuvor hatte sie verzweifelt nach Harlan gesucht. Niemand schien ihn gesehen zu haben. Er war wie vom Erdboden verschluckt.

Kapitel 8

Die Welt schien aus den Fugen geraten zu sein.

,Anthrax‘ titelten die Gazetten. Kurz nach dem verheerenden Anschlag auf London, der die Finanzmärkte mit in den Abgrund gerissen hatte, ein bioterroristischer Angriff in den USA.

Die Börsen reagierten mit erneuter Panik. Hunderte Milliarden Dollar an Buchwerten wurden in Sekunden vernichtet. Die Börsen in Hongkong, Frankfurt und New York setzten den Handel auf unbestimmte Zeit aus. Unternehmen kollabierten wie Kartenhäuser. Die Zentralbanken verständigten sich in einer konzertierten Aktion darauf, für einen Zeitraum von drei Monaten Anleihen und Aktien aufzukaufen, um die Lage zu stabilisieren. Das Menetekel einer globalen Bedrohung hing über der zivilisierten Welt und die Welt reagierte kopflos.

Erste Ermittlungsergebnisse in London sprachen von einem großflächigen Blackout als Ursache für die Flugzeugabstürze, die weite Teile Londons verwüstet hatten. Experten erläuterten in Sondersendungen des Fernsehens, dass Störfelder mit enormen Feldstärken nötig wären, um einen derartigen elektromagnetischen Puls zu erzeugen. Immer wieder wurden die Bilder der aus dem Himmel stürzenden Flugzeuge zusammengeschnitten, die Amateurfilmer zur Verfügung gestellt hatten. Brennende Schneisen der Verwüstung in friedlichen Vororten, schwarze Rauchsäulen und überall Körper, die notdürftig verpixelt waren. Weitere Informationen wurden zurückgehalten, um die Ermittlungen nicht zu gefährden. So erklärte es ein sichtlich schockierter Premierminister in einer Ansprache die Briten.

Auch in den USA wandte sich der amerikanische Präsident zur besten Nachrichtenzeit an die Nation. Er machte einen entschlossenen Eindruck. Entschlossen wie die ganze Nation. Niemals würden sich die USA beugen. Man werde den hinterhältigen Angriff mit Milzbranderregern auf die unschuldige Stadtbevölkerung Milwaukees mit aller Härte beantworten. Niemand dürfe die Stärke der USA unterschätzen.

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen kam zu einer Dringlichkeitssitzung zusammen. Wirtschafts- und Militärbündnisse rangen um eine Antwort auf die ungeheuerlichen Vorgänge. Rechtspopulistische Kreise forderten die Bildung von Bürgerwehren und die Wiedereinführung der Todesstrafe. Medien ohne Wahrheitsanspruch verbreiteten Meldungen, die von Angriffen durch Aliens, von Vertuschungen durch höchste Regierungskreise und von islamistischen Terrorzellen im Herzen der westlichen Demokratie berichteten. Russland und China boten Hilfe an. Es war ihnen daran gelegen, nicht in ernsthaften Verdacht zu geraten. Die arabischen Staaten protestierten. Sie sahen sich an den Pranger gestellt und fürchteten um die Zukunft ihres Wohlstandes, der durch die globalen Turbulenzen ohnehin gefährdet war.

Wirtschaftsweise beklagten das Versagen der Politik in einem Jahrhundert, das der Menschheit so viele Chancen präsentiert hatte wie nie zuvor. Die Politik habe keine glaubwürdigen Antworten auf die Herausforderungen der Gegenwart, dozierte ein resigniert wirkender Forscher. Man brauche dringend neue Lösungen. Die Gesellschaften seien in sich tief gespalten. Diese Risse gelte es zu kitten. Die Anschläge zeigten, dass keine Zeit mehr für Debatten sei. Die Uhr sei auf eine Minute vor zwölf vorgerückt.

In Genf schaltete ein unauffälliger älterer Herr im ,Le Richemond‘ den Nachrichtenkanal aus. Er hatte in den letzten Tagen viel zu tun gehabt. Die Mühe hatte sich ausgezahlt. Sie tappten im Dunkeln. Zufrieden sah er auf den Bildschirm seines Laptops, auf dem die Analysen dechiffriert wurden. Die Geheimdienste schwärmten aus wie Ameisen und sammelten ein, was als verdächtig gelten konnte. Niemand hatte etwas kommen sehen. Das würde sie erschrecken. Noch erschrockener würden sie sein, wenn sie sich durch den Wust von Festnahmen und Informationen gekämpft hatten und die Analytiker keine Strategie präsentieren konnten.

Hans Rudy sah auf die Uhr. Die Stichworte waren gegeben, die Kontakte erneuert. Er hatte Anweisungen erhalten. Der Zug nach Wien ging in zwei Stunden.

Kapitel 9

Der Fährbetrieb war fast zum Erliegen gekommen. Überall flimmerten die Ereignisse aus London über die Bildschirme. Hunderte Passagiere schoben sich in quälend langsamem Tempo vorwärts. Die Fahrt bis Le Havre war ereignislos geblieben, aber jetzt hatte das Weltgeschehen die Reisenden nach Irland eingeholt.

,London brennt‘ war die rote Balkenüberschrift des Livetickers. Darunter Bilderfolgen, die nicht real wirkten. Susanne konnte die murrenden Familien verstehen, die erschöpfte Kinder vertrösteten und hätte sich selbst gerne über die mangelnde Kommunikation der Behörden beschwert. Wie ein undurchdringlicher Kordon standen Grenzpolizisten im Abfertigungsbereich des Fährhafens von Le Havre und durchsuchten mit unbewegten Mienen das Gepäck der Passagiere. Auf Fragen reagierten sie mit einem unwilligen Kopfschütteln. Sie schienen klare Anweisungen erhalten zu haben. Schwenkbare Kameras erfassten jede Einzelheit.

„Und das mitten in Europa. Einem Europa ohne Grenzen“, echauffierte sich eine Frau, die ein weinendes Mädchen auf ihrem Arm trug.

Es war Susanne nicht klar, was sie suchten. Gefälschte Papiere vielleicht oder gefährliche Gegenstände. Sie machte sich bereit, ihre Segeltuschtasche zu öffnen. Wortlos hielt sie dem Beamten ihre Papiere entgegen, als sie an der Reihe war.

„Susanne Leqlerc?“ Der Beamte hatte ein freundliches Gesicht und neugierige Augen. „Aus Brüssel?“ Sie bejahte. Der Grenzer senkte den Blick und tippte eine Personenabfrage in seinen Laptop. „Und sie kommen jetzt direkt aus Brüssel?“ Susanne nickte. Das war ihre erste Lüge. Der Mann schaute auf den Bildschirm. Ein kleines Geräusch ertönte. „Was ist in dieser Kartonrolle?“ Der Beamte hielt ihr Ausweis und Ticket hin. „Die Kopie eines Landschaftsgemäldes von Turner“ antwortete Susanne und machte sich auf weitere Fragen gefasst. Von hinten drängelte eine Familie mit übergewichtigen Kindern heran. Aus der rechten Warteschlange wurde ein Jugendlicher im Polizeigriff abgeführt, weil er eine Wasserpistole gezogen hatte. Die Fernseher an der Stirnwand der Halle zeigten verstörende Bilder von brennenden Gebäuden. „Sind Sie Malerin?“ Der Beamte hatte mit routinierten Griffen ihre Habseligkeiten durchsucht. Abermals bejahte Susanne und fügte erklärend hinzu, dass sie in Irland eine Reihe Zeichnungen im Stil Turners anfertigen wolle. Das war ihre zweite Lüge.

Auf der Fähre schloss Susanne die Augen. Es war alles so gekommen, wie es angekündigt war. Die Papiere hielten einer Überprüfung stand. Es war eine kluge Idee gewesen, den Weg von England nach Frankreich über den Eurotunnel zu wählen, bevor die Ereignisse ihren Lauf nahmen und in Paris das Auto und das Gepäck zu wechseln. Für alles war vorgesorgt gewesen. Susanne atmete tief durch. Ein Kaffee würde guttun.

Auf dem Weg zur Cafeteria spiegelte ein blank gewienerter Stahltresen das Konterfei der Kunstmalerin Susanne Leqlerc zurück. Susanne erkannte in der modebewussten Dame mit der sportlichen blonden Pferdeschwanzfrisur die hausbackene, schwerhüftige Rose nicht wieder. Make-up, Perücke und Accessoires hatten aus ihr eine andere Person gemacht.

Man hatte ihr versichert, dass nicht nach ihr gesucht werden würde. Die Auswertung der Videoaufzeichnungen vom Flughafen werde erfolglos bleiben, weil die Aufnahmen der fraglichen Nacht aus unerfindlichen Gründen unbrauchbar seien. Susanne trank ihren Kaffee an Deck und genoss den Fahrtwind. In einigen Stunden würde sie die Lichter von Dun Laoghaire sehen. Ihre alte Wohnung würde dank der Zeitschaltuhren und des deponierten Kerosins fast zeitgleich mit den ersten Flugzeugabstürzen in Flammen aufgegangen sein. Mit der Wohnung war auch ihre Vergangenheit verbrannt und Susanne war auferstanden. Der Wohnungsbrand würde im allgemeinen Chaos den Abstürzen zugerechnet werden und Rose auf die Vermisstenliste kommen, die fast so lang war, wie die Liste der Opfer. Ihre Familie würde den Verlust verschmerzen. Sie waren schon lange selbstständige Planeten in einem weit entfernten Universum.

Susanne tastete nach dem Satellitentelefon neuester Machart. Sie hatte es für den Grenzbeamten an und wieder ausmachen müssen. Selbst im ausgeschalteten Zustand sandte es Signale, die aufmerksam registriert wurden. Susanne machte sich darum keine Gedanken. Sie wollte noch ein wenig Schlaf finden, bevor sie die Fahrt über Wexford und Waterford nach Tramore mit dem Mietwagen fortsetzte. Von Tramore hatte sie bislang nur Bilder gesehen. Ein endlos langer Strand und das gewaltige Meer vor einer Kulisse aus Grün und geduckten Häuserreihen. Ein Paradies für Landschaftsmaler. Vielleicht würde sie wirklich malen, bevor sie neue Instruktionen erhielt. Susanne gähnte.

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