Das Gorbatschow Vermächtnis

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Kapitel 5

Orest bog den Ast der Blaufichte näher zu sich heran. Er konnte die Hunde hören. Sie waren noch weit entfernt, aber sie kamen näher. Sie hatten Witterung aufgenommen. Orest wusste, dass das Hundegebell seine Moral untergraben sollte. Es wäre ein Leichtes gewesen, die Meute darauf abzurichten, lautlos auf Jagd zu gehen, aber lautlose Jagd war etwas für Scharfschützen und Hinterhalte. Hier ging es um eine andere Taktik. Das Wild sollte den Atem des Verfolgers im Nacken spüren. Es sollte mit der tödlichen Entschlossenheit der Verfolger konfrontiert werden, mit ihrer Überlegenheit.

,Ihr müsst das Panikzentrum im Hirn der Beute aktivieren‘, hatte ihr Ausbilder doziert und in rascher Folge Bilder eines Rehs auf die Leinwand geworfen. Furchtsam aufgerissene Augen, ein ängstliches Maul und der alles überlagernde Fluchtimpuls. Losrennen, kopflos, in irgendeine Richtung, Sprünge über Totholz und Gebüsche, ein wildes Davonjagen. Leichte Beute für die Jäger, die in einem losen Ring nur noch auf ihr Opfer warten mussten. Waffen im Anschlag. Die Hunde mit einem Befehl ruhiggestellt. Zu hören nur das Krachen von Gehölz und das Keuchen der gehetzten Kreatur, die bereits tot war, ohne es zu wissen.

,Eine Kriegslist‘, wiederholte Orest in seinen Gedanken. Es half ihm, Ruhe zu bewahren, wenn er zu sich selbst sprach, um sein Vorgehen auf Fehler zu prüfen. Nein, er hatte das Beste aus der Situation gemacht. Er fühlte, dass er ruhiger wurde. In der Ferne Trillerpfeifen. Dann wieder Hundegebell. Es blieben ihm noch ungefähr zehn Minuten. Mehr als genug Zeit, seine Tarnung besser zu organisieren.

Bald darauf das Knirschen des Schnees. Kein Hecheln, kein Bellen. Sie hatten die Hunde zurückgenommen. Das bedeutete, dass sie ihn entdeckt hatten. Das Geräusch vorwärts stapfender Militärstiefel im Tiefschnee brach ab. Stille. Orest widerstand der Versuchung, nach seinem Fernglas zu greifen. Sie würden die Fichtenschonung im Blick haben. Das Herabrieseln von Schnee oder die unnatürliche Bewegung einer Astspitze würde ihn verraten. Das wäre das Ende. Er spürte die Kälte kaum. Den gestrigen Tag hatte er überstanden, weil er nach seiner Flucht Körper und Gesicht dick mit Schmalz eingerieben hatte. Für das Fett und ein paar Würste war er das Risiko eingegangen, einen Bauernhof aufzusuchen. Er hatte sich gar nicht die Mühe gemacht, seine Spuren zu verwischen. Sie würden ihn ohnehin finden. Wichtiger war seine Versorgung und der Vorsprung, den er brauchte, um seinen Plan auszuführen. Wie ein Geist war er in der weißfleckigen Tarnkleidung aufgetaucht und wieder verschwunden, noch ehe die Bewohner des Bauernhofes auf ihn aufmerksam wurden.

Jetzt waren die Verfolger da. Hatten aufgeholt, weil er es ihnen erlaubte. Mit einer langsamen Kopfbewegung versuchte er die Konturen des nahen Birkenwäldchens zu erkennen. Dort würden sie sein. Er wusste nicht, mit wie vielen er es zu tun hatte. Sie hatten sich sicher in kleine Trupps aufgeteilt, um einen möglichst großen Fluchtradius abzusuchen. Sie warteten. Genau wie er. Es war ein Geduldsspiel. Ein Spiel auf Leben und Tod. Ihre Feldstecher würden ihnen nur dichten Bewuchs und dunkelgrünes Geäst zeigen. Solange er sich nicht bewegte, würde ihn seine Tarnung schützen. Orest atmete flach und regelmäßig.

Das gleißende Licht der Magnesiumfackeln riss Helligkeitsfetzen aus der Nacht. Orest hatte seit Minuten ein zögerndes, wisperndes Gleiten gehört. Schneeschuhe vielleicht oder Skier. Für einen Moment setzte sein Herzschlag aus. Er hatte die Zeit bis zu den schmalen Stunden der fortgeschrittenen Nacht damit verbracht nachzudenken und abwechselnd Muskelgruppen anzuspannen und wieder zu entspannen. So begegnete er der Kälte, die in ihn hineinkroch und dem Verspannungsschmerz, der keine Muskelkrämpfe auslösen durfte.

Aufgeschreckt durch die plötzliche Helligkeit flog eine Schar Blesshühner flügelschlagend auf. Orest drückte sein bis zur Unkenntlichkeit mit grünschwarzer Tarnfarbe bemaltes Gesicht enger an den Baumstamm. Vereiste Tannennadeln drangen durch den Stoff seiner Wollmütze. Sie waren jetzt ganz nahe. Die Fackeln würden sie in einem weiten Kreis in den Schnee gesteckt haben. Außerhalb des Kreises lauerten Schafschützen.

Schwere Schritte und ein ungeduldiges Scharren verrieten ihm, dass sie sich vergewissern wollten. Orest brauchte nur seine Ohren, um zu wissen, was geschah. Fünf Schritte links, vier Schritte nach oben bis an den Waldrand und dann fünf Schritte rechts. Im Schnee Spuren eines Wildwechsels. Unmöglich zu sagen, ob hier ein Mensch gegangen war oder nicht. Die Schritte entfernten sich und kamen wieder zurück. Orest wusste, dass der Hundeführer ein Nachtsichtgerät einsetzen würde. Das fahlgrüne Restlicht im Sucher würde dem Mann verraten, dass an dieser Stelle ein Wildwechsel war. Eine ideale Stelle für ein Versteck, das sich mit anderen Spuren tarnen konnte. Im Umkreis war der Schnee jungfräulich weiß und unberührt. Die empfindliche Hundenase würde die Witterung nicht verloren haben. Eine Magnesiumfackel nach der anderen erlosch mit einem Zischen. Der rötliche Lichtschein fiel in sich zusammen. Ein Windstoß fuhr mit eisigen Fingern über die Ebene. Schnee rieselte wie Puderzucker auf die gefrorene Erde.

Der Hund hatte sich neben den Spuren in den Schnee gesetzt. Das war das Zeichen, auf das die Jäger gewartet hatten. Die grelle Feuerkugel aus der Signalpistole löste hektische Aktivität aus. Sie hatten ihn. Sie mussten schnell sein. Er durfte nicht entkommen. Die vorrückenden Männer ließen eine Gasse frei, durch die sich ein dröhnendes Kettenfahrzeug vorwärts schob. Kurz vor dem Bereich, den die Leuchtkugel der Nacht abtrotzte, setzte die Kettenraupe eine Stahlwalze auf. Schnee und Geäst stoben auf. Sie mussten keine Rücksicht mehr nehmen. Sie wussten, wo er war.

Orest machte sich bereit. Das Motorengeräusch erfüllte den Raum um ihn herum. Der Boden vibrierte. Zu Orest war er geworden, weil er Klytämnestra erledigt hatte. Er hatte auf Befehl gehandelt, aber sie würden ihm nicht verzeihen. Für ihn würde keine Göttin Athene das Wort ergreifen. Es würde kein Plädoyer für seine Unschuld und keinen Freispruch geben. Stattdessen warteten auf ihn der Fluch der Erinnyen und die Ketten des Wahnsinns.

Die Wälder hallten wider von dem Knacken der Äste, die Orest über die getarnte Bodensenke gelegt hatte. Blätter, tote Zweige und Schnee brachen ein. Ein halbes Dutzend Gewehrmündungen war auf die Grube gerichtet. Auf ein Zeichen setzte das Kettenfahrzeug zurück. Die Walze hielt es angehoben wie eine stählerne Riesenfaust, bereit zum vernichtenden Schlag.

„Licht!“ gebot eine befehlsgewohnte Stimme. Ein Strahler flammte auf. Der Spürhund ließ ein hohes Jaulen hören und warf sich gegen seine Leine. Der Geruch, dem er gefolgt war, strömte ungehindert aus der Senke. Plastiksäcke, Teile eines Tornisters, Kleidungsstücke. Irgendwo da unten musste sich auch ein Körper verbergen. Mehr tot als lebendig. Die Beute, nach der sie alle gierten.

„Es ist zu Ende. Kommen Sie langsam und unbewaffnet heraus“, rief der Anführer der Jäger. Seiner Stimme war die tiefe Befriedigung anzumerken.

Orest hatte auf das Stichwort gewartet. Trotz des jahrelangen Trainings fiel das Warten immer noch schwer. Noch einmal schossen ihm alle Optionen durch den Kopf. Dann sprang er.

Die 5.56 mm Munition der M 16 erledigte ihren Auftrag zuverlässig. Die Waffe war auf Dauerfeuer gestellt. Orest machte gar nicht erst den Versuch, präzise Feuerstöße abzugeben. Er wusste aus Erfahrung, dass er in seinem geschwächten Zustand und nach dem stundenlangen Hocken in einer Baumkrone, kein sicherer Schütze mehr war. Er hatte kalkuliert, dass Dauerfeuer beim Sprung seine Chancen zu überleben am meisten erhöhte.

Flüche und Schreie mischten sich mit Hundegebell. Orest hatte den Sprung gut angesetzt. Er brach neben der Grube durch die Schneedecke und versuchte, sich abzurollen. Seine Fußknöchel wurden durch den Aufprall auf dem gefrorenen Boden zusammengestaucht. Er hatte aufgehört zu feuern und brachte sich mit einem Hechtsprung aus der Reichweite des Scheinwerfers und der hoch aufgerichteten Stahlwalze. Hinter ihm hatte sich der zertrampelte Schnee rot gefärbt. Irgendjemand erwiderte das Feuer. Eine Salve strich über seinen Kopf hinweg. Orest wälzte sich herum und hielt den Atem an. Der Schmerz in seiner Schulter war intensiver als der in seinen Beinen. Wahrscheinlich hatte er sich das Schlüsselbein gebrochen. Er benötigte drei Feuerstöße, um den Scheinwerfer, der am Aufbau des Kettenfahrzeugs befestigt war, zu zerstören. Glas splitterte. Die Dunkelheit war überwältigend. Vereinzelte Gewehrsalven bellten auf.

„Feuer einstellen!“. Die Stimme hielt inne. „Lasst die Hunde los. Hierher mit den Hunden!“.

Orest wusste, dass er nicht mehr viel Zeit haben würde. Die Hunde würden ihn unschädlich machen. Sie brauchten kein Licht und keine Waffen. Orest hatte sein Möglichstes getan, um die Hunde irrezuführen. Seine verschwitzte Kleidung hatte er in Plastiksäcken in die Grube geworfen und sich selbst auf dem Bauernhof mit Jauche abgerieben und darüber Kleidung des Bauern angezogen. Er war sich ziemlich sicher gewesen, dass diese Maßnahmen ausreichen würden, die Hunde zur Grube zu führen, ohne dass sie auf den Menschen im Baumwipfel aufmerksam wurden. Sein Plan hatte funktioniert, aber jetzt half ihm nur noch Schnelligkeit.

Sein Körper protestierte, als er sich an der stählernen Flanke der Raupe entlang tastete. Es war ein gewagtes Spiel, aber er hatte nichts zu verlieren. Mit erhobener Waffe positionierte er sich dort, wo er über sich das Führerhaus des Fahrzeugs vermutete. Er atmete zwischen zusammengebissenen Zähnen ein und aus und versuchte den Schmerz in seiner Schulter zu verdrängen. Dann ließ er das Sturmfeuerzeug aufflammen. Die gelbe Flamme tanzte einen Augenblick im Wind wie ein Derwisch, bevor Orest mit dem Kolben seiner Waffe zustieß. Mit einem Aufschrei stürzte ein schwerer Körper an Orest vorbei in die Dunkelheit. Orest konnte fühlen, wie sich Hundekörper durch die Nacht katapultierten. Er setzte das Fahrzeug mit einem gewaltigen Satz in Bewegung. Das Getriebe kreischte auf und die Ketten begannen zu mahlen.

 

„Schießt auf das Führerhaus!“, schrie eine überschnappende Stimme. „Hoch zielen!“.

Orest hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Raupe zu rangieren. Krachend zermalmte er junge Fichten in seinem Weg. Das Kettenfahrzeug nahm Fahrt auf. Um ihn herum explodierte die Nacht in rote Leuchtspuren. Orest duckte sich instinktiv. Hunde jaulten getroffen auf.

„Nicht die Hunde. Mein Gott, nicht die Hunde verletzen!“. Die Stimme klang entnervt.

Orest prüfte die Leuchtnadel seines Kompasses, während sich die Raupe mit höchster Geschwindigkeit einen Weg durch den immer tiefer werdenden Schnee ebnete. Noch eine letzte Kurskorrektur und er würde bald zu der Stelle kommen, an der er den Durchbruch wagen konnte.

Auf der anderen Seite würde ihm niemand mehr etwas anhaben können. Nur noch wenige Hundert Meter und er würde seine Knöchel und die Schulter behandeln lassen können.

Orest ahnte die Anwesenheit des Stacheldrahtverhaus eher, als er ihn sah. Er stellte die Maschine ab. Noch würde niemand von den Suchmannschaften wieder am Platz sein. Sie suchten nach dem Entflohenen und Flüchtige rannten stets nur in eine Richtung – weg vom Zaun. Orest griff in den Pulverschnee und ging nahe, ganz nahe an den Zaun heran. Dann blies er vorsichtig den Schnee wie eine Fahne aus Kristallen über den Stacheldraht. Er hatte richtig vermutet. In Höhe seines Kopfes und seiner Hüfte verliefen zwei Reihen kaum wahrnehmbarer Signaldrähte. Orest wusste, dass sie bei Berührung Selbstschussanlagen auslösen würden, die perfekt getarnt auf Opfer harrten. Sie waren mit Schrot geladen, der eine verheerende Wirkung hatte.

Zufrieden ging Orest zu seinem Fahrzeug zurück. Der Ausleger mit der Walze würde das Problem für ihn lösen.

Er suchte das Führerhaus nach einem schweren Gegenstand ab, mit dem er das Gaspedal beschweren konnte, um mit der Raupe den Todeszaun zu durchbrechen, als ein Pistolenlauf gegen seine Schläfe gedrückt wurde. Einer der Jäger hatte Orests Pläne durchschaut und sich die ganze Zeit hinter der Fahrerkabine versteckt gehalten.

„Und tot bis du …“, zitierte eine belustigte Stimme einen bekannten Reim. Überall auf dem Gelände wurde das Licht eingeschaltet. „Übung nicht bestanden“, konstatierte die Stimme hinter der Pistole nüchtern. „Noch einmal von vorne.“

Orest warf seine Paintball M 16 in den Schnee und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.

„Und waschen Sie sich um Gottes willen, Mann“, fügte sein Ausbilder hinzu. „Sie stinken, als seien Sie in eine Jauchegrube gefallen.“

Kapitel 6

Der alte Mann war sorgfältig gekleidet. Alles an ihm war unauffällig und nur wer einen zweiten Blick wagte, bemerkte, dass der Mantel aus bestem britischen Tweed und die Schuhe maßgefertigte Rahmenschuhe waren. Das Besondere an der Kleidung war, dass sämtliche Hinweise auf ihre Herkunft sorgfältig aus dem Innenfutter herausgetrennt waren. Ebenso verhielt es sich mit den Koffern, der rindsledernen Aktentasche und der edlen Handaufzuguhr aus deutscher Manufaktur.

In der Aktentasche befanden sich sämtliche Ausweispapiere, die ein Reisender brauchte und eine Auswahl von Bonus- und Kreditkarten, die ein unabhängiges Leben ermöglichte. Karten und Ausweise lauteten auf den Namen Hans Rudy. Es waren exzellente Fälschungen, die man nicht auf der Straße kaufen konnte. Hans Rudy war in Montevideo beerdigt, nachdem er als Auswanderer in seinem Gastland ein erhebliches Vermögen mit deutschen Backwaren gemacht hatte. Deutsches Handwerk war im Südamerika der späten vierziger Jahre geschätzt. Viele Volksdeutsche, die eine Entnazifizierung wegen ihrer Verstrickungen in das nationalsozialistische System nicht unbeschadet überstanden hätten, galten als wertvolle Zuträger für die Alliierten, die nichts mehr fürchteten, als einen Einbruch der stalinistischen Horden in die westliche Hemisphäre. Die Verfolgung von Kriegsverbrechern in Kreisen außerhalb der Galionsfiguren des Dritten Reiches, die in den Nürnberger Prozessen vor Gericht standen, hatte keine Priorität. Wer wollte, konnte sich mit einer neuen Identität in Südamerika und den USA ein neues Leben einrichten. Der Preis, den man zu zahlen hatte, war der Verlust einer zerbombten Heimat und die unbedingte Loyalität zu den neuen Verbündeten.

Hans Rudy war nur zu bereit, diesen Preis zu zahlen. Er war im Dritten Reich mit Sonderaufgaben betraut gewesen. Als Kunsthistoriker und Kurator mehrerer Museen in den besetzten Gebieten des Reichsprotektorats Böhmen und Mähren bestand seine Aufgabe darin, Kunstwerke aller Art zu requirieren, zu katalogisieren und ihren Wert zu schätzen. Rudy war kein glühender Nationalsozialist, sondern ein opportunistischer Emporkömmling, der sich in der trüben Suppe nationaler Aufwallung nach oben treiben ließ. Als man ihn mit der Aufgabe der ,Bergung und Sicherung von Kunstschätzen für das Deutsche Reich‘ betraute, wehrte er sich nicht dagegen. Es wäre ihm nie in den Sinn gekommen, seine Arbeit als Kunstraub und ungerechtfertigte Enteignung anzusehen. Er handelte auf Anordnung, die wiederum auf Gesetzen beruhte, den Gesetzen der neuen Zeit, die die ganze Welt zu überrollen drohten. So kam es, dass Kunstgegenstände im Wert von Milliarden durch die Hände eines Mitläufers des Regimes ohne militärischen Rang gingen. Es war ein risikoloses und einträgliches Geschäft. Manchmal musste Gewalt angewendet werden, aber das taten andere, die dafür besser ausgebildet waren als Hans Rudy.

Später, als zwei Fronten auf das Deutsche Reich zurasten und das Ende absehbar war, übernahm Rudy auch die Beschaffung von Devisen über verschwiegene Kanäle im arabischen Raum. Immer häufiger wurden die Kunstschätze in Eisenbahnwaggons aus den neuen Kriegszonen gebracht und in Bergwerken und Stollen versteckt.

Rudy war einer der Ersten gewesen, der sich bei den Alliierten meldete und seine Dienste anbot. Er konnte genaue Listen und Fundorte vorweisen. Außerdem hatte er sich notiert, welche Familien, Banken und Geschäfte enteignet worden waren. Er wollte keine Bezahlung für seine Arbeit, die General Brolin vom alliierten Oberkommando als ,Restitution‘, bezeichnete. Er wollte lediglich für seine Arbeit eine Provision, die sich vom Wert der wiederbeschafften Kunst ableitete. Rudy bat auch darum, man möge seine Akten, die im Reichssicherungshauptamt in Berlin lagerten, vernichten und ihn als ,minderschwer belastet‘ einstufen, damit er seiner Arbeit als Kunsthändler nachgehen konnte. Dass er über Jahre von der Kostenstelle ,Beschaffung‘ des Dritten Reiches große Geldbeträge als Provision für die Requirierung der Kunstschätze erhalten hatte, verschwieg Rudy.

Als seine Dienste nach drei Jahren nicht mehr benötigt wurden, konnte Hans Rudy als reicher Mann nach Südamerika ausreisen. Dank seines Vermögens, das von einer UBS-Filiale in Genf verwaltet wurde, baute Rudy mehrere Großbäckereien auf, die bestens florierten. Er hielt den Kontakt zu den alten Kameraden über ein engmaschiges Ehemaligen-Netzwerk, bis er betagt in Montevideo im Kreis seiner Großfamilie starb.

Jetzt war Rudy nach Genf zurückgekehrt. Ein anderer Mann war in seine Identität geschlüpft. Ein Mann mit besten Verbindungen und einem erlesenen Geschmack. Unterhalb des ,Le Richemond‘ mit seinem diskreten Charme und dem zurückhaltend exklusiven Interieur in Gold, Creme und Karmesinrot funkelte die Südwestspitze des Genfer Sees, einer riesigen Sichel aus Wasser, die mehrere Schweizer Kantone mit Frankreich verband. Genf war anders als das geschäftige Lausanne am Nordufer des Sees, eine Enklave der schönen Künste, ein Rückzugsbereich für altes Geld und royales Understatement. Die alteingesessenen Manufakturen hochfeiner Chronometer, die Tuchmacher und Juweliere, die ihre Tradition unerschütterlich fortschrieben, auch wenn die Welt um sie herum in Krieg und Chaos versank, präsentierten ihr Angebot für die solvente Kundschaft in pittoresken Gebäuden mit bunten Läden und restauriertem Mauerwerk, das noch keine Zerstörung erlebt hatte. Es war die Zeit der großen Segelregatta Bol d’Or, die besonders zahlungskräftiges Publikum in die Stadt schwemmte. Hotelzimmer waren rar und kaum bezahlbar. Für Hans Rudy hielt das ,Richemond‘ stets eine Suite reserviert. Er war ein gern gesehener Gast.

Der alte Mann wirkte erschöpft. Er hatte keinen Blick für die sattblaue Weite des Sees, die getrimmte Gartenanlage des Hotels oder die exquisite Einrichtung seiner Suite. Fahrig sah er sich um und erkundigte sich nach seinen Koffern. Der Concierge nahm die weiteren Wünsche des Gastes diensteifrig zur Kenntnis. Er verzog keine Miene. Das Trinkgeld würde entsprechend ausfallen.

Der alte Mann machte sich nicht die Mühe zu überprüfen, ob die Suite verwanzt war. Er wusste, dass ein Expertenteam wenige Stunden vor seiner Ankunft die Räume gescannt hatte. Noch einmal ging er die Fakten in Gedanken durch. Alles hing davon ab, dass er überzeugend war. Die ersten Kopfschmerzen kündigten sich mit einem Ziehen im Nacken an. Die abhörsichere Anlage war genau in den Metallkoffer eingepasst. Er trug ihn nie bei sich, sondern ließ ihn von einem zuverlässigen Versender befördern, der keine Fragen stellte. Der elektronische Passworttresor in Form eines rechteckigen Kästchens verwaltete eine schier endlose Reihe an Ziffernfolgen. Der alte Mann drückte auf das Display, das rund um die gewählten Ziffern grün aufleuchtete. Die Telefonanlage im Koffer startete einen Selbstwählmechanismus. Ein Freizeichen ertönte. Als weitere Sicherheitsmaßnahme würde ein Scrambler die Stimmen der Telefonierenden für Dritte unverständlich machen.

„Ja“, sagte die Stimme in englischer Sprache. Die Verbindung war zustande gekommen. Der Puls des alten Mannes beschleunigte sich. Er hatte die Stimme sofort wiedererkannt, nach so vielen Jahren wiedererkannt. Bilder drohten seinen Kopf zu fluten. Mit eiserner Disziplin zwang er sich zur Ruhe. Langsam begann er zu sprechen.

„Bayard sighed with exasperation but maintained a fragile hold on his temper. A difficult discussion followed during which Bayard was slowly forced to accept that it was Pastor Knoedler who was in overall charge of the service and not he.“

Der Beginn des letzten Absatzes von Seite 195 des Romanes von Reggie Oliver ,Virtue in Danger‘ in der Ausgabe der Ex Occidente Press.

Ohne zu zögern nahm die Stimme am Telefon die zitierte Stelle auf und führte sie weiter. Die Stimme war tief und mit einem kaum merklichen Akzent behaftet.

Nach einem Moment des Schweigens nahm der alte Mann das Gespräch wieder auf. „Juri“, sagte er. Seine Stimme wurde weicher. „Juri, mein Lieber. Es wird Zeit“. Dann brach das Gespräch ab.

In den Abendstunden klingelte der Concierge bei dem hoch geschätzten Monsieur Rudy an, um den Besuch anzukündigen. Das Hotel hatte sich genau an die Vorgaben gehalten. Die Dame war hochgewachsen und mittleren Alters. Ihre Haut schimmerte weiß, als habe sie noch nie die Sonne gesehen. Das halblange, gewellte Blondhaar würde eine hochwertige Perücke sein, vermutete der alte Mann. Es war nicht so wichtig.

Er legte den Kopf in den Schoß der Frau und begann zu erzählen, während sie mit geübten Fingern seine Schläfen massierte.

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