Skurriles zwischen Himmel und Harz

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Skurriles zwischen Himmel und Harz
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Barbara Ehrt

Skurriles zwischen Himmel und Harz

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Der Besuch der jungen Dame

Amanda und der vergiftete Kaktus

Die Frau im Schnee

Die Selbstmörderin

Jakobsschafe

Stille

Also sprach Zarah-Gusta

Impressum neobooks

Der Besuch der jungen Dame

Barbara Ehrt

Skurriles zwischen

Himmel und Harz

Kurzgeschichten

Impressum

Foto und Layout: ehrt art&design

BEhrt@t-online.de, www.barbara-l-ehrt.de

Goslar, 2016

Urheberrechtlich geschützt. Alle Rechte vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf fotomechanischem Wege (Fotokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen, auf Tonträgern zu verarbeiten, zu digitalisieren oder in anderer Form Kopien anzufertigen.

Buch

Skurrile Geschichten zwischen Himmel und Harz erzählen von düsteren Wäldern, fantastischen Zukunftsvisionen, Aufbrüchen ins Unbekannte, historischen Orten und der ganz normalen menschlichen Niedertracht. Eine stimmungsvolle, abwechslungsreiche Sammlung von sieben Kurzgeschichten, nicht nur aus der Harzregion!

Autorin

Barbara Ehrt studierte Sozialwissenschaften und Kunst in Marburg, Berlin und Kassel und kehrte nach mehrjähriger Berufstätigkeit aus den Niederlanden in den Harz zurück. Ihre gut recherchierten, historischen Romane beschreiben sowohl die vielfältige Schönheit des Harzes als auch die Abgründe seiner einzigartigen Bergbaugeschichte. Sie ist Mitglied im VS und FDA und lebt in Goslar.

Weitere Veröffentlichungen:

Amanda und der Venezianer, 2015

Der zwölfte Kaiser - Ikonographie des Goslarer Huldigungssaales, 2014

Die Tote im alten Schacht - 8 Harz-Krimis, 2013

Die Harzfrau - Historischer Roman aus dem 18. Jahrhundert, 2012

Das Herz des Kaisers - Harz-Novellen, 2011

Eine kleine Geschichte des Harzes - Harz-Broschüre, 2010

www.barbara-l-ehrt.de

An einem klirrend kalten Dezemberabend des Jahres 1961 geht im Krankenhaus Braunlage ein Notruf ein. Die Stimme der Anruferin klingt panisch.

Hilfe, Hilfe, schnell, ein Arzt! Mein Mann, er ist, ich glaube, er ist tot!“

Die Frau gibt ihre Adresse durch, dann legt sie den Hörer auf. Im Sessel sitzt reglos ihr Ehemann. Sein Oberkörper ist leicht vornüber gekippt, Erbrochenes verunziert seinen Norweger Strickpullover. Die ungefähr dreißigjährige Frau zittert, sie hat schreckliche Angst, doch es gibt kein Zurück. Mit beiden Händen zerzaust sie ihre Hochsteckfrisur und reibt sich die Augen, bis sie rot und verweint aussehen. In Gedanken geht sie wieder und wieder durch, was sie den Sanitätern gleich erzählen wird, wenn sie kommen.

Der kleine Harzer Kurort Braunlage kann durchaus mit Stolz auf eine langjährige Fremdenverkehrstradition zurückblicken. Schon in der Gründerzeit sind wohlhabende Sommerfrischler per Pferdekutsche in die idyllische Waldsiedlung im Tal der Bode gereist, die allerdings während der schneereichen Wintermonate nur schwer zu erreichen war. Das änderte sich schlagartig mit dem Bau der Südharz-Eisenbahn im ausgehenden 19. Jahrhundert. Seitdem durchpflügten kraftvolle Lokomotiven die Schneemassen und wohlhabende Kranke aus dem gesamten preußischen Kaiserreich logierten in den luxuriösen Sanatorien.

Klangvolle Eintragungen wie „Königlicher Schauspieler Andreas Poor nebst Frau und Sohn aus Hannover, Herr Oberregierungsrat Walther aus Berlin nebst Frau und 3 Kindern und Bedienung“ zierten die Kurlisten des Ortes. Bahnbrechend für einen geradezu sensationellen Aufschwung des Fremdenverkehrs war jedoch die Erfindung des Skisportes, die ein Braunlager Förster für sich beanspruchen darf.

Das Skilaufen, das zunächst nur als heilsame Ergänzung zu den Kuren gedacht war, verwandelte sich allmählich in einen prosperierenden Wirtschaftszweig von beinahe olympischen Ausmaßen. Der Harz mit seinen konstanten Schneehöhen bot ganz einzigartige Wintersportbedingungen und seitdem man die Skipisten und Langlaufloipen sogar bei Nacht beleuchtete, waren die Besucherzahlen in Braunlage in die Höhe geschnellt.

Einen weiteren Anreiz bot der Gondelteich. Auf seiner zugefrorenen Eisdecke tummelten sich Kinder und Erwachsene in eng geschnürten Schlittschuhen, drehten Pirouetten oder sprangen in die Luft und kauften einen Becher Glühwein an einer der Buden am Uferrand, um warme Finger zu kriegen.

Ärgerlich blickte Rosemarie Wiegand auf ihren Sohn Wolf-Dietrich hinab, der andauernd über vereiste Stellen schliddern wollte. Sie hatte es eilig, er wollte spielen.

Sie war so wütend auf den Jungen, den ganzen Weg zum Kindergarten hatte sie umsonst gemacht. Als sie ihn abliefern wollte, hielt er sich den Bauch und das Fräulein Günther, die Kindergartenleiterin, ordnete an, ihn gleich wieder mitzunehmen. Anweisungen von Fräulein Günther durfte man sich nicht widersetzen und siehe da, das Bauchgrimmen des Jungen verflog so schnell, wie es gekommen war. Gern hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasst.

Trotz des zarten Alters von fünfeinhalb Jahren wirkte der Kleine manchmal schon so durchtrieben wie Rudi, sein Vater, der für jede Schweinerei ein offenes Ohr hatte. Betont langsam trottete der Junge hinter seiner Mutter her, um die vorweihnachtlichen Girlanden aus Fichtenzweigen, weiß bestäubten Plastikglocken, Engeln und Weihnachtsmännern zu bestaunen, die quer über den Straßen hingen. Von den Christbäumen mit elektrischen Kerzen, die vor den Läden Spalier standen, musste er mit Gewalt weggerissen werden und Rosemarie platzte beinahe vor nervöser Ungeduld.

Im „Haus Rosi“, ihrer Pension im Birkenweg, warteten doch die Gäste aufs Frühstück. Alle vier Zimmer waren belegt und zwar bis einschließlich Neujahr. Um Weihnachten herum herrschte meistens Hochbetrieb und nicht einmal der Bau der schrecklichen Zonengrenze vor wenigen Monaten hatte dem Zustrom des Fremdenverkehrs Einhalt bieten können. Rosemarie schauderte. Nicht wegen der Kälte, sondern vor Unbehagen. Die Nähe der verminten Grenze, auch Todesstreifen genannt, machte ihr Angst.

Tief in Gedanken versunken, trat sie ohne nach rechts und links zu blicken auf die Straße und wäre beinahe in ein Auto mit ausländischem Nummernschild - silberne Buchstaben auf schwarzem Grund - hineingelaufen. Das Auto schlingerte, als der Fahrer die Richtung ändern wollte und blieb in einem Schneewall stecken.

Mit heulendem Motor und durchdrehenden Reifen versuchte er, von der vereisten Straße wegzukommen und wirbelte jede Menge Schnee durch die Luft, doch das Auto fraß sich nur immer tiefer ins Eis hinein.

Es dauerte jedoch nicht lange, da war der Wagen von hilfsbereiten Männern umringt, die ihn keuchend anschoben, bis die Räder Halt gefunden hatten. Rosemarie beobachtete versteinert vor Schreck vom Straßenrand aus, wie eine schick gekleidete Frau ins Auto stieg. Wolf Dietrich bemerkte fachmännisch: „Ein Borchward!“

Tatsächlich handelte es sich um ein Fahrzeug der Marke Borgward und es gehörte Avraham Singer, der sich auf dem Rückweg zum Hotel befand. Er und seine Frau logierten im renommierten Hotelensemble Waidmannsheil, Waidmannsdank und Waidmannslust, das aus mehreren Neubauten und einem nostalgischen Forsthaus der Gründerzeit bestand.

Der Borgward kam zum Stehen und sogleich eilten zwei Pagen herbei. Einer half der ausgesprochen attraktiven Gattin aus dem Wagen, während Singer dem zweiten Pagen die Autoschlüssel aushändigte. In der Empfangshalle wurden die Ankömmlinge vom Hotelier persönlich begrüßt.

„Guten Morgen, Herr Singer, guten Morgen gnädige Frau! Heute Abend wollen Sie wirklich schon wieder abreisen, wie bedauerlich!“

Beflissen ging er noch so lange neben den Gästen aus Frankreich her, bis sie von einem dritten Pagen am Lift in Empfang genommen wurden.

Der Chemiker Avraham Singer arbeitete für die Firma Bayer und vor allem der Vertrieb von Insektiziden führte ihn quer durch Europa. Als Zofia, seine Gattin, hörte, dass er nach Hannover fuhr, wollte sie ihn begleiten und bat darum, auf der Rückreise einen Abstecher nach Braunlage anzuhängen.

 

Neugierig hatte Avraham nach ihrer Ankunft in den Werbeprospekten geblättert und las, dass der mondäne Kurort Braunlage auch das Sankt Moritz des Harzes genannt wurde. Trotz dieser vollmundigen Ansage wurde die extravagante Zofia begafft wie ein exotischer Papagei. Eine schöne Frau in leuchtend rotem Cape mit schwarzem Nerzbesatz und dazu passender Kappe, spitz zulaufenden, roten Lederstiefeletten und engen schwarzen Keilhosen war im Sankt Moritz des Harzes anscheinend eine echte Sensation.

Zofia hatte es während ihres Einkaufsbummels wenig amüsant gefunden, so sehr im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Als sie sich von Avraham verabschiedete, um allein ein paar Weihnachtsgeschenke einzukaufen, war sie noch in bester Verfassung gewesen.

Doch schon bald bereitete ihr der Gang durch die von Urlaubern überfüllten Straßen immer größeres Unbehagen, ja beinahe Angst. Die Wortfetzen in deutscher Sprache klangen bedrohlich und jeder Mensch schien gefährlich zu sein.

Während sie in einem Laden stand, wurde sie von einem uniformierten Polizeibeamten durch die Schaufensterscheibe mit unergründlichen Blicken fixiert. Sie bekam kaum noch Luft und musste ihre Einkäufe abbrechen.

Eine halbe Stunde zu früh wartete Zofia an der verabredeten Stelle vor der Trinitatis-Kirche und als der dunkelrote Borgwart endlich um die Ecke bog und zur Begrüßung ein leises Hupen erklang, rannte sie los, rutschte aus und fiel hin. Avraham hatte vor Schreck das Steuer verrissen und war in einem Schneehaufen gelandet. Als Zofia endlich im warmen Auto saß, fing sie vor Erleichterung an zu weinen.

Im Birkenweg angekommen, versuchte Rosemarie mit vor Kälte steifen Fingern die Haustür aufzuschließen. Im Flur bückte sie sich, um Wolf-Dietrich aus den Winterstiefeln zu helfen, doch der strampelte mit den Beinen und Rosemarie landete unsanft mit dem Hintern auf den Fliesen. Wütend verpasste sie ihm die schon länger geplante Ohrfeige und der Junge begann laut zu heulen. Wortlos beförderte sie das schreiende Kind die knarrende Holztreppe hinauf und schob es ins unbeheizte, elterliche Schlafzimmer.

Als sie sah, wie der Junge zitternd das breite Doppelbett erklomm, das seit dem Herbst zur Hälfte leer stand, tat ihr die Ohrfeige schon wieder leid. Im Speisezimmer wurde Rosemarie von vorwurfsvollen Blicken empfangen. Anklagend starrte Herr Butzmann auf sein leeres Brettchen und murmelte leise:

„Himmelherrgott, wann gibt’s denn hier endlich was zu essen?“

Schuldbewusst rief Rosemarie eine Begrüßung in den Raum und rannte schnell in die Küche. Seit ihr Ehemann, der Forstarbeiter Rudi Wiegand, sich mit einem wasserstoffblonden Pensionsgast namens Petra aus dem Staub gemacht hatte, musste blieb alles an ihr hängen. Monatelang hatte er nichts von sich hören lassen und nun, wo sie gerade angefangen hatte, das Leben ohne den notorischen Säufer in den Griff zu kriegen und Pläne für die Zukunft zu schmieden, da kam er zurück.

Gestern hatte das Telefon geklingelt.

„Mausi, ich komme wieder! Rosilein, freust du dich? Das mit Petra war ein Fehler!“

Rosemarie empfand überhaupt keine Freude über seine Rückkehr, ganz im Gegenteil, die Vorstellung, dass nun alles wieder von vorne losgehen würde, war fast so beklemmend wie der Bau der Zonengrenze.

Geistesabwesend verstaute sie die Kaffeekanne unter dem gehäkelten Kaffeewärmer und trug Brötchen, Aufschnitt, Käse, Ei und Marmelade zu den Tischen. Stille breitete sich aus und man hörte nur noch das Bullern des Kohleofens.

„Ihr Kaffee schmeckt aber jut, Frau Wiegand!“

Die Berliner spülten in Windeseile ein Brötchen nach dem anderen mit einer Tasse Kaffee nach der anderen die Kehle hinab und verlangten nach mehr.

„Muss wohl am Harzer Wasser liegen, wat? Is noch welcher da?“

Alle drei Herren streckten ihr die leeren Tassen entgegen und Rosemarie eilte mit der Kanne herbei.

„Jaja, unser Wasser ist ganz ausgezeichnet, es kommt direkt aus der Bode!“

Allerdings nur, wenn das Rohr zur Küchenleitung nicht eingefroren war und sie mit geschmolzenem Schnee auskommen musste, dachte sie, aber das brauchte ja keiner zu wissen.

„Ach Frau Wiegand, wir war´n jestern wieder im Kaffeehaus Junker! Det war ´n Abend!“

Begeistert schilderten sie ihre Après-Ski-Erfahrung zu den Rhythmen einer sechsköpfigen Kapelle und Rosemarie musste sich das Lachen verkneifen. Sie fand den Anblick von Urlaubern in Keilhosen und klobigen Skistiefeln, die ausgelassen über die Tanzfläche hüpften, ziemlich albern. Der Berliner schwärmte weiter.

„Und wie immer hat det Junker viel zu früh dicht jemacht und wir mussten durch die eisige Kälte hoch zur Bergklause wandern, aber det hat sich jelohnt! Heute Mittach jehn we dann inne Tanne zum Essen un heute Abend wird et ooch wieder spät!“

Die drei lebenslustigen Junggesellen standen auf und schoben rumpelnd ihre Stühle zurecht.

„Wir ham uns im Lichtspielhaus Apollo verabredet. Da wird det „Wirtshaus im Spessart“ jezeigt.“

Das Ehepaar aus Hannover wollte in puncto Unternehmungen nicht nachstehen. Mit leicht näselnder Stimme verkündete Frau Butzmann:

„Wir haben eine Pferdeschlittenfahrt von Braunlage nach Hohegeiß gebucht! Das wird ein Abenteuer!“

Rosemarie hörte nur mit halbem Ohr hin. Wenn der Rudi nicht wäre! Sie könnte die Pension mit Zuschüssen aus der Zonengrenzlandhilfe auf zwölf Betten vergrößern, ein zweites Bad und eine Zentralheizung einbauen und mit Wolf Dietrich unterm Dach wohnen. Die unteren Stockwerke wären dann nur für die Gäste.

Aber der Rudi, der würde eines Tages eine Hypothek aufnehmen und das wäre das Ende. Ein großer Teil seines Lohnes ging nämlich Monat für Monat auf rätselhafte Weise in den Besitz des Bergklausen-Wirtes über und ohne die Pensionsgäste hätten sie schon längst verkaufen müssen. Und jetzt rief der Armleuchter an, als sei nichts gewesen und wollte zurückkommen. Es musste etwas geschehen, aber was?

Der Besitzer des drei-einigen Hotelensembles war zwar ein Kenner des Gewerbes - alle seine Zimmer waren ganzjährig ausgebucht - doch die Attraktion des Hauses war Lulu, seine aus Braunschweig stammende Gattin, die eigentlich Edith hieß.

Lulu hatte durch ihre frivol-frechen Auftritte in der hauseigenen Tanzbar weit über Braunlage hinaus eine gewisse Berühmtheit erlangt und nicht nur die männlichen Besucher riss es von den Stühlen, wenn sie zu fortgeschrittener Stunde wie ein Bühnenstar zum Vorschein kam.

Wie eine echte Diva, ließ sie sich erst nach lauten Zurufen dazu herab, ins Rampenlicht zu treten. Leise stimmte sie die Töne eines bekannten Schlagers an, um dann, begleitet von einem Pianisten, unter rasendem Beifall mit gekonnter Mimik und Gestik bekannte Melodien wie “Ich will keine Schokolade“, „Ein Schiff wird kommen“ oder „Itsy Bitsy Teenie Weenie“ zum Besten zu geben.

Wenn das letzte Lied verklungen war, kam der Höhepunkt des Abends: Mit lasziven Bewegungen zog Lulu einen ihrer zierlichen Pumps vom Fuß, ließ ihn mit Champagner füllen und in der johlenden Runde kreisen.

Obwohl der Ehegatte die Darbietungen seiner Frau mit gemischten Gefühlen verfolgte, ließ er sich davon nichts anmerken. Ihm war durchaus bewusst, dass Lulus morbide Eskapaden die Attraktivität der Hotelanlage ungemein steigerten. Vornehme Herrschaften wollten eben auf exklusive Weise unterhalten werden.

Im „Haus Rosi“ hatte sich der kleine Wolf Dietrich im Federbett verkrochen und bohrte in der Nase. Aus dem ersten Stock unter ihm erklang plötzlich das Knarzen von Sprungfedern. Neugierig drückte der Junge sein Ohr gegen den Fußboden und hörte lautes Stöhnen, als hätte sich jemand weh getan. Es schien aber nicht so schlimm zu sein, denn bald war alles wieder still.

Er stand auf und hauchte ein Loch in die Eisschicht der zugefrorenen Fensterscheibe. In der Ferne erstreckte sich wie ein großer, weißer Teppich der tief verschneite Fichtenwald zu Füßen des Wurmbergs, auf dessen Gipfel, unterhalb der Sprungschanze, winzige Skiläufer den Hang hinabglitten.

Wolf Dietrich fiel der lauwarme Kamillentee wieder ein, den ihm die Mutter auf den Nachtschrank gestellt hatte. Er ließ ihn in den Eimer gluckern, den sie nachts immer benutzten, weil der Weg durchs kalte Treppenhaus bis zum Klo im Erdgeschoss zu weit war, die Toilette im ersten Stock war den Gästen vorbehalten. Nach einer Weile kroch der Junge wieder ins Bett und schlief ein.

Herr und Frau Butzmann saßen sich in Cocktailsesseln gegenüber. Berta Butzmanns steife Haltung zeigte den Minusgrad ihres Wohlbefindens an, angestrengt widmete sie sich dem Kreuzworträtsel der Bild-Zeitung.

Diese lästigen Anwandlungen, die Gustav im Urlaub immer hatte! Gleich nach dem Frühstück fummelte er an ihrer Bluse herum und brachte ihre ganze Frisur durcheinander. Er wollte sich mit ihr vergnügen und sie sollte sich dazu entkleiden. Berta kam ihren ehelichen Pflichten nur sehr ungern nach und schützte so oft es ging, Kopfschmerzen vor. Im Urlaub fehlten ihr jedoch die passenden Ausreden und sie musste Gustavs Triebe notgedrungen über sich ergehen lassen. Gerade wollte sie ihn nach einem Tier mit drei Buchstaben fragen, als er flüsterte:

„Mutti, mir ist gar nicht gut!“

Besorgt sah sie ihn an und wurde im selben Moment von einer so heftigen Übelkeit überfallen, dass sie sich direkt auf das Hemd ihres Mannes erbrechen musste. Ehe der entsetze Gustav seine Frau dafür tadeln konnte, sank sie um und blieb verkrampft am Boden liegen. Herr Butzmann rief um Hilfe und sackte ebenfalls polternd zusammen.

Wolf Dietrich hörte die Geräusche und hüpfte aus dem Bett. Neugierig steckte er den Kopf durch die Tür. Unten im Flur stand einer der Männer aus Berlin, hielt sich den Bauch und stöhnte. Hinter ihm kam ein zweiter Gast aus dem Zimmer getorkelt, keuchte und erbrach sich. Fasziniert starrte das Kind auf die Flecken, die sich auf der nagelneuen Auslegeware gebildet hatten. Da würde die Mutti aber schimpfen! Wo war sie überhaupt?

Stufe für Stufe rutschte er die Treppe hinunter und sah seine Mutter zusammengekauert auf dem Stragulaläufer im Korridor hocken. Ratlos blieb er auf der Treppe sitzen und fing an zu weinen.

Am frühen Nachmittag desselben Tages debattierte ein halbes Dutzend Männer in der Landesregierung Hannover über den Neubau der Staatskanzlei am Friederikenplatz. Zigarrenrauch verhüllte wie Nebel die Köpfe und überlagerte die markanten Ausdünstungen ihrer schwitzenden Körper. Fräulein Schnut, die Sekretärin des Ministerpräsidenten, musste viermal laut gegen die Tür hämmern, bis es ihr endlich gelang, sich Gehör zu verschaffen.

„Herr Krapf, ein dringendes Telefonat in Ihrem Büro!“

Unwillen über die Unterbrechung heuchelnd, entschuldigte sich das Landesoberhaupt und verließ erleichtert die festgefahrene Gesprächsrunde. Am Apparat empfing ihn die Stimme von Fritz Bothe, Bürgermeister aus Braunlage, der leutselig berichtete, dass die Parteikollegen gerade beschlossen hätten, sich morgen in den Harzer Wäldern zu einer kleinen Jagdpartie einzufinden. Und da habe man sich gefragt, ob der Herr Ministerpräsident nicht auch teilnehmen wolle, er sei jedenfalls aufs herzlichste eingeladen!

„Was, schon morgen?“

Bothe lachte durchs Telefon.

„Mensch, Heinrich, du weißt doch, wie das ist… So kurz vor Weihnachten drehen die Frauen durch, da muss man einfach mal raus! Die Schnapsidee stammt vom Günther, du weißt schon, unser Stadtdirektor. Also, mein Lieber, können wir auf dich zählen?“

Die Aussicht, von der zähen Debatte um den Abriss des Friederikenschlösschens erlöst zu werden, ließ sein Herz schneller schlagen. Krapf drückte die Bürotür hinter sich zu, damit Fräulein Schnut ihn nicht hören konnte.

„Ja, du lieber Himmel, ihr macht ja Sachen! Jawoll, ich bin dabei!“

Bothe lachte vor Begeisterung noch lauter und der Ministerpräsident hielt den Hörer vom Ohr weg, um die Geräuschkulisse des Bürgermeisters zu dämpfen.

„Mensch, Heinrich, am besten, du machst dich gleich auf den Weg, das Gästezimmer ist hergerichtet!“

Krapf zwirbelte unternehmungslustig beide Enden seines Bismarckschnauzers und erwiderte:

„Jut, Fritz, aber kein Wort an die Öffentlichkeit!“

Als Frau Schnut den Kopf durch die Tür steckte und fragte, ob sie neuen Kaffee kochen solle, war Krapf schon nicht mehr bei der Sache.

 

„Nee, lass mal jut sin, Mienchen, ich wer wech müssen.“

Er kehrte zurück in den Besprechungsraum und verkündete mit verschlossener Miene:

„Die Sitzung muss wegen eines dringenden familiären Notfalles vertagt werden!“

Wortlos sammelte er seine Unterlagen ein, ließ die verdutzten Herren hinter sich und strebte zur Tür.

Die Ehefrau von Bürgermeister Bothe stand vorwurfsvoll im Wohnzimmer und jammerte.

„Aber, Fritz, gerade jetzt, so kurz vor Weihnachten! Der ganze Baumschmuck liegt noch im Karton und vergiss nicht, die Leitungen sind eingefroren und wir haben kein fließend Wasser. Womit soll ich Bohnenkaffee kochen? Und beim Frisör war ich auch nicht!“

Der Bürgermeister hatte jetzt andere Sorgen. Er lief rot an und baute sich vor seiner pummeligen, kleinen Gattin auf:

„Ja begreifst du denn nicht, was das bedeutet, Hilde? Wir haben frischen Rehrücken, Hasenbraten und Wildschweinragout zu Heilig Abend!“

Väterlich legte er die Hände auf ihre Schultern.

„Ja ich weiß, meine Kleine, alles ein bisschen viel, aber der Krapf bleibt doch höchstens zwei, drei Tage…“

Hilde schnaubte empört.

„Was, zwei drei Tage, hier bei uns?“

Fritz Bothe schwieg und kehrte in sein Arbeitszimmer zurück, er war in Gedanken schon nicht mehr anwesend. Zufrieden lächelnd klaubte er eine seiner dicken Zigarren aus dem Holzkästchen auf dem Schreibtisch, holte den teuren Weinbrand aus dem Schrank und ließ sich entspannt in seinen schweren, braunen Bürosessel fallen.

Avraham Singer, dessen volles, schwarzes Haar schon einige grauweiße Strähnen zeigte, trat ins Hotelzimmer und rieb sich die kalten Hände. Auf seinem Mantel lag noch eine dünne Schicht Schnee.

„Ich habe mir gerade das hübsche Jugendstil-Sanatorium angesehen, gar nicht weit von hier.“

Er sprach wie immer französisch. Zofia erschrak.

„Ja, dort waren Vater und die anderen Zwangsarbeiter nach dem Krieg untergebracht, damals stand das Haus unter russischer Verwaltung.“

Avraham setzte sich mit einem Glas Cognac neben sie.

„Möchtest du mir davon erzählen?“

„Nein, ich kann nicht.“

Avraham stand auf und küsste sanft ihren gebeugten Nacken.

„Hab keine Angst, Liebste, ich bin da!“

Seine Hände glitten unter ihren Pullover.

„Komm, lass mich dich trösten!“

„Nicht jetzt, Avraham, bitte, lass uns sofort fahren!“

Erstaunt sah er sie an.

„Comme tu veux, Zofia, aber vor uns liegt eine sehr lange Fahrt, willst du dich nicht noch etwas ausruhen?“

„Non, non, ich fühle mich ganz frisch, nur weg von hier!“

„Gut, dann machen wir uns fertig zum Souper und danach fahren wir.“

Er liebte die so zerbrechlich wirkende Zofia, ihr von dunklen Locken umrahmtes Gesicht mit den großen, dunklen Augen und würde hundert, nein, tausend Mal sein Leben für sie geben, wenn das erforderlich wäre.

Es dämmerte schon, als der schwarze DKW mit verchromten Seitenleisten über die schneebedeckten Straßen glitt und unbemerkt von der Öffentlichkeit vor der schmucken Jägervilla des Bürgermeisters zum Stehen kam.

Der Chauffeur sprang aus dem Wagen und bemühte sich, nicht mit seinen dünnen Halbschuhen auszurutschen, ganz überraschend war er zu dieser privaten Fahrt in den Harz verpflichtet worden. Frierend drückte er den Klingelknopf und eilte zurück, um dem Landesvater herauszuhelfen. Der stützte sich schwerfällig auf den Arm des Chauffeurs, das schlohweiße Haar hatte er unter einer Bommelmütze verborgen.

Frau Bothe stand wie versteinert in der Tür und der Bürgermeister musste seine Frau beiseite schieben, um den etwas hinfällig wirkenden Parteifreund mit ausgebreiteten Armen empfangen zu können. Gerade wegen der besorgniserregenden Lage in der Stadt freute er sich über den unverhofft anberaumten, gemeinsamen Jagdausflug.

„Mensch, Heinrich! Ganz der Alte geblieben!“

„Ach Fritz, nu übertreib man nich!“

Während die beiden Männer es sich auf dem ausladenden Ledersofa bequem machten, führte die Gattin den Chauffeur diskret in die Küche und überließ ihn der Fürsorge des Küchenpersonals, das nur aus einem ungeschickten, jungen Mädchen aus der Nachbarschaft bestand. Anschließend zog sich die Dame des Hauses gekränkt in ihr Handarbeitszimmer zurück.

Die Männer blickten eine Weile wortlos aus dem Fenster in das dichte Schneetreiben. Dann erläuterte Bothe in allen Einzelheiten die Anzahl der Hunde, die geplanten Pirschwege und die Ausrüstung. Selbstverständlich bekäme der hohe Gast wie immer Gewehr, Fernglas, Rucksack und Stock gestellt und um die Mittagszeit, wenn das Wild die Sonnenstrahlen zum Aufwärmen nutzte, sollte die Jagd beginnen. Für morgen war nämlich schönes Wetter angekündigt.

Plötzlich sprang der Bürgermeister auf. Eine Krisensitzung war anberaumt worden, weil mysteriöse Notrufe eingegangen waren, die seltsamerweise nur aus wenigen Straßenzügen kamen. Alle drei Rettungswagen waren im Einsatz, um Erkrankte ins Braunlager Krankenhaus zu bringen.

„Heinrich, mich ruft die Pflicht! Danach geht’s aber los! Es gibt ein paar Probleme, nein, nein, nichts besonderes, aber ich muss dummerweise persönlich erscheinen! Und wenn ich fertig bin, setzen wir uns beim Waidmanns-Wirt ins Séparée, da sieht dich keiner und der macht den besten Harzer Hasen im Speckmantel!“

In der Hotelhalle hinterlegt Avraham Singer den Zimmerschlüssel und bezahlt die Rechnung. In fast akzentfreiem Deutsch erkundigt er sich, ob sie ohne Vorbestellung noch einen Tisch zum Souper bekommen können, sie möchten doch gern noch essen, bevor sie abfahren. Der Empfangschef teilt den Gästen beflissen mit, dass er sie unverzüglich zu einem freien Tisch führen werde und setzt sich sogleich in Bewegung.

Das Restaurant ist nur spärlich besetzt und die neue Heizanlage verbreitet eine so brütende Hitze, dass das Lametta des Weihnachtsbaumes wie von Zauberhand hin und her wedelt. Dezente Weihnachtsmusik erklingt.

Avraham bestellt zwei Mal Forelle blau mit Butterkartoffeln, weil alle anderen Gerichte irgendwas mit Schwein zu tun haben und während sie müßig an ihren Weingläsern nippen und auf das Essen warten, betreten zwei Männer den Raum.

Der hochgewachsene, jüngere schreitet rüstig voran, sieht sich misstrauisch im Lokal um und wirft einen prüfenden Blick auf die beiden Gäste. Der ältere geht am Stock und kommt nur langsam hinterher, es dauert eine ganze Weile, bis er den Eingang des Séparées erreicht hat, hinter dessen Tür der jüngere schon verschwunden ist.

Avrahams bronzefarbenes Gesicht hat sich aschgrau verfärbt. Zofia bemerkt es und berührt bestürzt seinen Arm.

„Was ist mit dir, Liebster? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen!“

Mit einer Geste der Verzweiflung fährt er sich übers Gesicht.

„Man kann es so nennen. Die verfluchte Vergangenheit, sie lauert überall.“

Zofia versteht sofort.

„Ja! Es gibt Menschen, die haben gute Erinnerungen, an die denken sie gern zurück, aber wir...“

Sie schweigt und er vollendet ihren Satz.

„...wir sind die, denen all das widerfährt, wovor Gott die anderen beschützt!“

Sein Blick wandert zur Tür des Séparées und Zofia fragt:

„Wer ist es?“

„Ein Profiteur mit niederen Instinkten, ein roshe!“

Mit unterdrückter Wut stößt er das jiddische Schimpfwort hervor.

„Er war in Lublin, er hat die Inventarlisten erstellt. Immobilien, Schmuck, Kunstgegenstände, Einlagen, Ländereien. Er war der...“

Avraham sucht nach der treffenden, französischen Übersetzung für Enteignungskommissar, kann sie nicht finden und verfällt ausnahmsweise ins Polnische. Sein Atem geht schnell, er zerrt an seiner Krawatte. Sein Mund fühlt sich ganz trocken an, er füllt das Glas mit Wein und leert es in einem Zug. Als der Kellner kommt und die Bestecke auslegt, möchte er ihn am liebsten verscheuchen. Zofia fragt noch einmal.

„Tu est sûr?“

„Oh ja, sehr sicher, da sitzt der Generaltreuhänder von Lublin.“

Die ostpolnische Stadt Lublin war das wichtigste Zentrum des chassidischen Judentums. Die frommen Männer mit den langen Bärten brauchten keinen Wein, um in Verzückung zu geraten, sie berauschten sich an Tänzen und Gesängen, mit denen sie die Weisheit und Liebe ihres Schöpfers priesen.

Nach der Besetzung Polens durch die deutsche Wehrmacht verstummte der Gesang. In Lublin wurden die Vernichtungslager Belzec, Sobibor, Treblinka und das KZ Majdanek gebaut. Mehr als zehntausend Lubliner Juden wurden deportiert, viertausend in Majdanek erschossen und dreißigtausend in Belzec mit Gas getötet. Es gab nur wenige Überlebende, Avraham war einer von ihnen.

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