Skurriles zwischen Himmel und Harz

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Obwohl der Bürgermeister bedauert, mit dem Besuch des Ministerpräsidenten nicht in aller Öffentlichkeit prahlen zu können, hofft er, dass die inoffizielle Zusammenkunft die Stufen seiner Karriereleiter zementieren wird. Genüsslich lässt er den fruchtigen Weißwein im Mund hin und her rollen.

„Prost, Heinrich! Morgen stoßen wir ins Horn, Petri Heil!“

Unter angeregtem Geplauder widmen sich die Herren dem Hasenbraten und nach der Mahlzeit dem Anschneiden ihrer Feinhals-Zigarren.

Sechzehn Jahre nach dem Krieg sind die Erinnerungen noch frisch und Avraham sieht die große Diele des elterlichen Gutshauses in allen Einzelheiten vor sich. An den hohen Festtagen wurden lange Tische und silberne Kerzenleuchter aufgestellt und nachdem der Rebbe eingetroffen war, strömten auch die weniger begüterten jüdischen Familien aus der Umgebung herbei, mit ihnen eine große Kinderschar. Alle sollten sich satt essen.

Es wurde gebetet, gesungen, getanzt und musiziert und das Lachen der Kinder klang unbeschwert und froh. Dann wurden sie abgeholt, systematisch, einer nach dem anderen, Alte, Junge, Frauen, Kinder.

Die Bilder fangen an, weh zu tun, schnell drängt Avraham sie aus seinem Kopf. Zofia starrt ihn noch immer fragend an.

„Er war dabei, von Anfang an. Diese kalten Augen kann man nicht vergessen. Er nannte sich Flüchtlingsbetreuer! Er war immer da, wenn die Häuser geplündert wurden und trug alles gewissenhaft in seine Bücher ein, jedes wertlose und jedes kostbare Stück wurde registriert.“

„Und war er auch... war er auch in...?“

Zofia wagt nicht, den Namen Majdanek auszusprechen.

„Nein, er war in Lublin, schon vor Majdanek, um das Vermögen der Juden zu konfiszieren. Das Vermögen!“

Avraham lacht bitter auf.

„Die meisten waren arme Chassiden.“

„Avraham, bitte lass uns gehen, ich kriege hier keinen Bissen hinunter!“

Zofia zuckt schaudernd zusammen. Sie ist nach Braunlage gekommen, um der Vergangenheit ihres Vater nachzuspüren, der als Zwangsarbeiter im Granit-Steinbruch beinahe zu Tode gekommen war. Sie kannte Braunlage aus seinen Erzählungen und hatte schon als Kind beschlossen, eines Tages dorthin zu fahren. Sie wollte die Menschen sehen, die ihm das angetan hatten. Und nun begegneten sie ausgerechnet hier den Todesschatten aus Avrahams Vergangenheit.

Avraham gibt sich einen Ruck und winkt nach der Rechnung, manchmal ist es besser, die Flucht anzutreten. Der Ober fragt konsterniert, ob es ihnen nicht geschmeckt habe, sie hätten ja das Essen überhaupt nicht angerührt! Statt einer Antwort legt Avraham einen größeren Geldschein auf den Tisch und erkundigt sich nach den Gästen im Séparée. Der Ober überlegt, wieviel er preisgeben darf und entscheidet sich für die Wahrheit, das französische Ehepaar würde ja ohnehin gleich abreisen.

„Mein Herr, da sitzt unser Bürgermeister!“

„Welcher ist er, der jüngere Mann?“

„Ja, der jüngere. Der Bürgermeister von Braunlage speist gerne und oft hier bei uns!“

Der Stolz in seiner Stimme ist nicht zu überhören. Avraham wird ungeduldig.

„Und der andere, der ältere der beiden, wer ist der?“

Der Ober senkt die Stimme.

„Das müssen Sie aber bitteschön für sich behalten, der ist nämlich inkognito hier. Das ist Herr Krapf, unser Ministerpräsident!“

Wortlos legt Avraham einen weiteren Geldschein auf den Tisch und nickt Zofia bestätigend zu. Der Ober ist plötzlich unsicher und flüchtet in die Hotelhalle, um die Pagen für die Mäntel und das Auto zu rufen. Als das elegant gekleidete Paar in die winterliche Dunkelheit hinaus tritt, wartet der Borgward schon mit angelassenem Motor vor der Eingangstür.

Rosemarie ist verwirrt. Warum liegt sie auf dem Boden? Was macht der Rudi hier? Sie blinzelt in das gerötete Gesicht ihres Mannes, der sich über sie beugt und Alkoholdunst verströmt. Von oben hört sie die Butzmanns und die Berliner lamentieren, Gott sei Dank, sie leben noch. Wolf Dietrich sitzt neben ihr und zupft an ihrer Schürze. Rudi sieht aus wie immer, unordentlich, unrasiert und benebelt.

„Mensch, Rosi, was ´n los mit dir? Dein Rudi ist doch wieder da! Warte mal!“

Zielstrebig steuert er auf die Küche zu und kehrt mit einer Flasche Korn zurück. Grinsend hält er ihr ein gefülltes Gläschen entgegen.

„Los, nimm einen!“

Rosemarie dreht angeekelt den Kopf weg. Sie muss sich um die Gäste kümmern, doch sie ist zu schwach, um aufzustehen.

„Rudi, geh mal kucken, was die Leute machen!“

Gehorsam schwankt er zur Treppe, stolpert, flucht und steigt schwerfällig nach oben. Ein Wunder, dass ihm bei der Waldarbeit noch kein Baum auf den Kopf gefallen ist. Plötzlich wird an der Tür geläutet und Wolf-Dietrich schießt durch den Flur. Inge Lehmann von zwei Häuser weiter lugt um die Ecke.

„Huhu, Frau Wiegand, ist mit Ihnen alles in Ordnung? Wollte nur mal vorbeischauen!“

Unschlüssig steht sie auf dem Tritt, atmet Dampfwölkchen in die Luft und stampft den Schnee von den Füßen. Rosemaries missliche Lage bemerkend, fragt sie:

„Oh weh, Sie hat´s wohl auch erwischt? Mein Mann liegt im Bett, aber ich war den ganzen Tag weg, mit mir ist nichts!“

Unaufgefordert tritt sie ein, hilft Rosemarie auf die Beine und setzt sich mit ihr in die Küche.

„Das wird ein Weihnachten werden... Erst dachte man, wir hätten hier so eine Seuche gehabt, aber nun heißt es ja, jemand hätte Gift ins Wasser getan!“

Während sich unter ihren Schuhen eine Pfütze aus geschmolzenem Schnee bildet, schmückt sie den Verlauf der rätselhaften Vorkommnisse mit Mutmaßungen aus.

„Unkrautgift soll es gewesen sein, aber wenigstens hat es keine Toten gegeben!“

Rosemarie Blick fällt auf Rudi, der sich gerade auf die Eckbank fallen lässt. Unwillkürlich muss sie an den Kanister mit Unkrautvernichter denken, der im Keller steht. Geschmacklos und geruchlos. Energisch steht sie auf und schiebt die Nachbarin mit einem gemurmelten Gruß hinaus in die Kälte, anschließend bringt sie Wolf Dietrich ins Bett. Dann ruft sie:

„Komm, Rudi, wir machen es uns beim Fernsehen gemütlich.“

Rudi grinst erfreut, schleppt sich zum Fernsehsessel und plumpst schwer hinein. Hannelore hat Salzstangen in ein Gefäß getan und den guten Schierker Feuerstein aus dem Keller geholt. Rudi kann sein Glück kaum fassen und nach weniger als einer Stunde ist die Flasche leer. Plötzlich fängt er an zu würgen, schnappt nach Luft und verfärbt sich gelbgrünlich, sein Oberkörper kippt vornüber, Erbrochenes verunziert den Norweger Strickpullover.

Rosemarie dreht den Fernseher lauter. Sie trägt Rudis Glas und die Flasche in die Küche und wäscht alles sauber. Sie nimmt eine neue Flasche, stellt sie vor Rudi auf den Tisch und füllt ein Glas mit dem Harzer Likör.

Sie hat schreckliche Angst, doch es gibt nun kein Zurück mehr. Mit beiden Händen zerzaust sie ihre Hochsteckfrisur und reibt sich die Augen, bis sie ganz rot und verweint aussehen und geht in Gedanken wieder und wieder durch, was sie den Sanitätern gleich erzählen wird. Dann wählt sie den Notruf.

Zofia betrachtet Avrahams Profil, das nur schwach von den Lichtern des Armaturenbrettes beleuchtet wird, seine Aufmerksamkeit ist konzentriert auf die Straße gerichtet. Plötzlich fängt Zofia an zu schluchzen und Avraham steuert den Wagen an den Straßenrand.

„Wäre ich doch niemals hierher gekommen! Es gibt bei den Deutschen keine Zeichen von Reue oder Bedauern, da ist nichts, gar nichts! Sie sind glücklich und zufrieden, genauso wie vor dem Krieg. Es ist, als wären die entsetzlichen Dinge, die sie meinem Vater angetan haben, nie geschehen! Das hat mich so wütend gemacht! Ich habe einen Kanister aus dem Kofferraum geholt und in den Bach geschüttet, aus dem sie ihr Trinkwasser kriegen. Ich schäme mich so!“

Avraham schaut sie ungläubig an.

„Du hast einen Kanister mit Unkrautvernichter ins Trinkwasser geschüttet? Oh, Zofia! Aber sei beruhigt, ein so kleiner Kanister ist viel zu wenig für eine ganze Stadt! Niemand wird daran sterben!“

Ich stand eines Abends in der Wäschekammer unserer Wohnanlage und hängte nasse Schlüpfer auf die Leine. Das Stockwerk, in dem sich mein stilvolles Appartement in der Goslarer Altstadt befindet, ist nämlich früher der Dachboden einer Herberge für arme Leute gewesen und wurde Großes Heiliges Kreuz genannt. In den zwei Gebäuden aus dem 13. und 16. Jahrhundert lebten bedürftige Goslarer Bürger und durchreisende Pilger.

Als Goslar 1992 in die Welterbeliste aufgenommen wurde, hat man einige der winzigen Armeleute-Kammern in hübsche Appartements verwandelt und die große, romanische Halle in ein begehbares Museum. Wegen des Denkmalschutzes dürfen in den Wohnungen jedoch keine Waschmaschinen stehen, darum benutzen alle Mieter eine gemeinsame Wäschekammer.

Ich stand also dort und hörte plötzlich hinter mir ein schweres Seufzen. Ich drehte mich um und wollte eine Nachbarin begrüßen, die wohl auch einen Waschgang eingelegt hatte, doch es war niemand zu sehen. Als ich zum zweiten Mal das Seufzen hörte, ahnte ich schon, dass ich wieder die Zeitgrenze überschreiten und irgendwo landen würde, vielleicht sogar mit Paolo in Venedig?

Ich muss dazu sagen, dass ich seit einigen Jahren über die Fähigkeit verfüge, in andere Dimensionen hinüberzuwechseln, allerdings vollzieht sich das ohne mein Zutun und meistens ohne Vorwarnung.

 

Auch diesmal geschah es von einem Moment zum anderen. Waschmaschine, Trockner und Schlüpfer waren verschwunden, die weiß getünchten Wände ebenso und auch das beruhigend helle elektrische Licht hatte sich verflüchtigt. Vor mir erstreckte sich ein unendlich langer, düsterer Dachboden, der von den groben Dielenbrettern bis an die Decke in Dunkelheit ertrank.

Nur ein kleines, schwankendes Licht erhellte die Umgebung, es wurde von einer gebückt gehenden Frau getragen, die sich schlurfend auf mich zubewegte. Die Zipfel ihres langen Rockes schleiften über den Boden und das gehäkelte Schultertuch wirkte fadenscheinig.

Knapp zwei Meter vor mir blieb sie stehen, beleuchtete mit der Lampe mein Gesicht und starrte mich neugierig an. Die Frau war jünger als die gebeugte Haltung, ihre tief zerfurchte Haut und die traurigen Augen ahnen ließen. Als sie sprach, konnte ich sie zuerst kaum verstehen, doch es gelang mir ziemlich schnell, ihre niederdeutsche Mundart zu entschlüsseln.

„Was wollt Ihr hier, gnädiges Fräulein Amanda?“, fragte sie.

„Ja, wieso, was tun Sie denn hier?“, fragte ich zurück.

Woher wusste sie überhaupt meinen Namen?

„Ich wohne hier und bin im Sommer gern auf dem Speicher, ich schleiche herauf und suche mir ein Plätzchen zwischen den Mehlsäcken.“

Ihrer bleichen Haut nach zu urteilen, nahm sie den Inhalt der Mehlsäcke dabei in sich auf.

„Und warum haben Sie eben geseufzt?“

„Mich plagt das schlechte Gewissen und ich möchte eine Schandtat beichten.“

Was konnte eine verhutzelte Alte schon schlimmes getan haben?

„Wir wollen uns dorthin setzen!“

Sie wies gebieterisch in eine schummrig-dunkle Nische, stellte die Lampe, deren flackernder Docht von einem verrußten Glas geschützt wurde, vorsichtig auf den Boden und wir machten es uns auf zwei umgekippten, braunen Hanfsäcken bequem. Ich hoffte nur, dass unter meinem Gewicht keiner platzten würde. Beim Zurechtsetzen lupfte sie ihren Rock ein wenig und mir schlug der strenge Körpergeruch eines Menschen entgegen, der sich schon eine ganze Weile nicht gewaschen hatte. Unwillkürlich fing ich an, durch den Mund zu atmen. Die Frau wühlte umständlich in ihren Taschen herum und zog schließlich einen zerdrückten Brotkanten hervor.

„Möchtet Ihr, liebes Fräulein?“

„Oh, nein, nein, danke!“, wehrte ich bescheiden ab.

„Ach ja, es hat eine Zeit gegeben, da war ich genauso jung und hübsch wie Ihr!“

Sie blickte von der Seite bewundernd zu mir auf und ich kicherte verlegen. Meine Güte, für wie jung hielt sie mich denn? Immerhin hatte ich die vierzig auch schon überschritten. Eine Strähne schlohweißen Haares löste sich aus ihrem straff und schmucklos gebundenen Kopftuch und ich sah Schwielen und Risse an ihren Händen, als sie sie zurückschob. Man musste viele Jahre hart arbeiten, um solche Hände zu kriegen.

Stille breitete sich aus. Das Flämmchen verzehrte flackernd sein Öl und erzeugte doch nicht genug Licht, um die beängstigend schwarzen Ecken und Winkel des Dachstuhls zu erhellen. Soviel ich erkennen konnte, waren wir umgeben von Vorräten, die in Kisten, Säcken, Körben und Bündeln gelagert wurden. Angeekelt zog ich die Beine an, als eine Spinne neugierig auf die Laterne zu gekrochen kam und verscheuchte sie mit einem Klatschen. Plötzlich glaubte ich Geräusche zu hören.

„Was ist das denn?“

„Ach, nur die Katzen.“

Das erklärte den anderen strengen Geruch, der aus den Dielenbrettern drang. Um irgendetwas zu sagen, fragte ich nach ihrem Namen.

„Margarete Katharina Stockhusen, vereidigte Goslarsche Brau-Magd und fünfte Tochter des Leinewebermeisters Friedrich Heribert Stockhusen.“

„Tochter eines Handwerksmeisters und dann im Armenhaus?“, konnte ich mir nicht verkneifen, zu fragen.

„Ah... das, das kam durch meinen Lebenswandel, ich trank gern ein Gläschen...“

„Ein Gläschen ist doch nicht so schlimm...“, entgegnete ich.

„Nun ja, ein Gläschen Branntwein zu jeder vollen Stunde schon.“

Ohrenbetäubend laut begann plötzlich im Dachstuhl über uns eine Glocke zu läuten. Ich fuhr erschreckt in die Höhe, aber meine Sitznachbarin hielt meinen linken Arm wie einen Schraubstock umklammert und zwang mich in die sitzende Position zurück. Ihre Hand fühlte sich an wie Schmirgelpapier.

„Aber, aber, Fräulein Amanda, das ist doch nur das Abendgeläut, das zur Betstunde ruft. Wir zwei bleiben schön hier sitzen, das lange Stehen in der kalten Kapelle ist nichts mehr für meine alten Knochen!“

Ich verfiel in eine Art fatalistische Lähmung, während die Glocken dumpf zur Teilnahme am Gebet mahnten. Derweil kaute die Frau an dem Brotkanten herum und spuckte ab und zu ein paar Krümel auf den Boden.

„Wo war ich stehen geblieben? Ja, der Branntwein, damit fing das Unglück an. Die Trunksucht hatte mich aus der Bahn geworfen und ich war in der Gosse gelandet. Durch mein Verschulden war ein ganzer Braukessel mit Bier beim Abfüllen ausgelaufen und hatte einen Keller überflutet. Und das ausgerechnet im Hause von Senator Siemens! Seitdem wurde ich nicht mehr zum Brauen geholt, auch wenn ich zehnmal eine vereidigte Braumagd war.

Aus mir war ein Bettelweib geworden und ich war sehr froh, als die alte Dorothea, eine begüterte Witwe, mir erlaubte, ihr als Magd zu dienen. Mein dahingeschiedener Vater, Gott hab ihn selig, und der verstorbene Ehemann von Dorothea und waren Brüder in der Gilde der Leineweber gewesen und darum sah sie es als ihre christliche Pflicht an, mir beizustehen. Sie bewohnte hier im Großen Heiligen Kreuz, im vorderen Teil, eine schmucke Kammer, gleich gegenüber der Küche und nah beim Ofen, sodass es auch im Winter schön warm war in ihrer Stube.“

Während Margarete sprach, rückte sie immer dichter an mich heran und lehnte sich gegen meine Schulter, als sei ich eine Sessellehne. Sie räusperte sich und fuhr fort.

„Des Montags musste ich sie am Arm durch die Gassen führen, weil ihr Augenlicht zu schwach war, um allein zu gehen und des Mittwochs hatte ich den Boden zu schrubben und die Wäsche zu waschen. Zweimal am Tag war ich ihr beim Essen behilflich, sie konnte den Löffel nicht mehr zum Munde führen, ohne die Hälfte zu verschütten. Einen Lohn erhielt ich allerdings nicht, ich musste mich mit Essensresten begnügen, die manchmal schon sehr alt waren.

Zu der Zeit hatte ich schon kein Dach mehr über dem Kopf, gnädiges Fräulein. Mit den anderen Bettlern verkroch ich mich nachts im Schafstall da unten vor den Toren der Stadt, er diente uns während des Sommers als Nachtlager. Im Winter war es dort eiskalt und ich fürchtete mich vor Frost und Schnee.“

Die Frau verstummte, gleichzeitig flackerte der Docht und wurde schwächer. Dann erlosch das Licht und es war stockfinster. Ehe ich wusste, wie mir geschah, stand ich wieder ganz allein in der Wäschekammer. Nachdenklich kehrte ich in meine Wohnung zurück.

Am folgenden Tag passierte es erneut, diesmal morgens. Ich wollte die getrocknete Wäsche einsammeln, da verschwanden die gewohnten Dinge um mich her und ich fand mich vor dem Eingangsportal des Wohnstiftes wieder. Es war dunkel, nur eine dreiarmige Straßenlaterne verbreitete vor dem Eingangsportal ein schwaches Licht und ließ mir die Umgebung vertraut und fremd zugleich erscheinen. Der Boden bestand aus festgetretener Erde, in einigen Vertiefungen hatten sich Pfützen gebildet, die von einer dünnen Eisschicht überzogen waren. Dann gab es noch zwei parallel laufende Rinnen aus großen Steinquadern, der Abstand zwischen ihnen hatte ungefähr die Breite einer Wagenachse.

Es war sehr kalt, und als ich nach oben schaute, erblickte ich einen atemberaubend schönen Sternenhimmel, der sich von Horizont zu Horizont über der nachtschwarzen Erde wölbte. Sterne und Planeten leuchteten in einem so kraftvollen Licht, wie ich es noch nie gesehen hatte.

Nicht weit entfernt erklang das Rauschen der Gose, deren Wässer unter der steinernen Königsbrücke dahin schossen. Nun wurde die schwere Eingangstür aufgestoßen, ein Glöckchen bimmelte und Katharina trat heraus. Trotz der eisigen Kälte trug sie bloß einen Rock und ein Schultertuch, in das sie sich bis zur Nase eingewickelt hatte. Eilig überquerte sie die Brücke und schritt am Wasser entlang in Richtung Breites Tor.

Ein beleibter Mann mit rotem Gesicht kam ihr entgegen, warm verpackt in einen langen Mantel mit Pelzkragen und dicke Lederstiefel. Als er Katharina bemerkte, blickte er angestrengt in die Luft, um die ärmlich aussehende Gestalt nicht sehen zu müssen. Die kleine Frau verschwand in der Dunkelheit.

Der Schauplatz wechselte und ich befand mich in der Diele des Stiftes. Dort empfing mich das Licht etlicher Petroleumlampen an den Wänden und einigermaßen wohlige Wärme. Der Dielenboden war mit flachen Steinen gepflastert, über die auch eisenbeschlagene Räder rollen konnten, ohne Beschädigungen zu hinterlassen.

In der Nähe eines großen Kaminofens im hinteren Teil der großen Halle standen zwei lange Tische mit Stühlen und Sitzbänken, wahrscheinlich aus Eichenholz. Im Raum stand überhaupt viel dunkles Mobiliar verstreut herum, was dem Gesamteindruck eine zusätzliche Düsternis verlieh. Stühle, Bänke, klobige Schränke, vollgestopfte Regale und mehrere Opferkästen ließen die große Diele überfüllt erscheinen.

Über dem Eingang zur Kapelle wurde ein kleines Fenster aufgestoßen und der Oberkörper einer Frau mit hochgeschlossenem Kleid und streng nach hinten gekämmten Haaren ragte wie eine Jagdtrophäe aus der Öffnung. Sie schwenkte eifrig ein Glöckchen hin und her, woraufhin zahlreiche Menschen aus den Wohnkammern geströmt kamen und sich getrennt nach Männlein und Weiblein um die Tische verteilten.

Ich musste an die arme Margarete denken, die man vor der Essensausgabe mit knurrendem Magen fortgeschickt hatte und kaum hatte ich an sie gedacht, da saßen wir auch schon wieder nebeneinander auf dem Dachboden zwischen den Mehlsäcken. Jetzt erst fiel mir auf, dass sie älter war als eben, als ich sie in der Gasse beobachtet hatte.

„Ha!“ Sie stieß einen verächtlichen Laut aus. „Die Bewohner des vorderen Hauses hatten es mehr wie gut, und ich hatte nicht einmal ein Dach über´m Kopf.“

„Mehr als!“

„Als?“

Sie wirkte ratlos.

„Mehr als gut, muss es heißen.“

Wie kleinlich von mir, angesichts ihrer Not an Grammatik zu denken.

„Jedenfalls stand der Winter vor der Tür und ich wünschte mir nichts sehnlicher, als eine so schöne Kammer zu bewohnen wie die Dorothea!“

Im Stockwerk unter uns war jetzt lautes Getrappel zu hören und Stimmengewirr.

„Was ist das denn?“, fragte ich.

„Das sind die Armenhäusler aus dem hinteren Gebäudeteil, sie kehren vom gemeinsamen Morgengebet in ihre Kammern zurück. Hungrig und ohne Essen...“

Die Alte wackelte unglücklich mit dem Kopf.

„So ist es, Fräulein Amanda, so ist es! Seit Goslar seine reichsstädtische Freiheit verloren hat, gehen die Handwerker am Bettelstab und wenn man immerzu Hunger hat, möchte man für ein kleines Almosen alles tun!“

Bald war das Getrappel verstummt und man hörte nur das leise Tapsen der Katzenpfoten, die den Dachboden voller Nahrungsmittel nach hungrigen Mäusen absuchten. Margarete sah mich abwartend an und ich nickte ihr aufmunternd zu.

„Die alte Dorothea besaß einiges Ackerland vor der Stadt, das sie verpachtet hatte und von der Pacht konnte sie ganz ordentlich leben. Sie war aber eine einfältige Frau und ein wenig boshaft obendrein. Wenn ich mit der Arbeit fertig war, durfte ich zwar noch ein wenig sitzen bleiben, aber nur, weil ich ihr zuhören sollte.

Ich saß da in meinen lumpigen Fetzen, mir knurrte der Magen und sie erzählte, dass sie als geachtetes Eheweib des Leinewebermeisters Holberg unzählige Mägde befehligt hatte. Jeden Tag sei Schinken, Wurst, Fisch und Käse auf den Tisch gebracht worden und bei den Gildefesten habe keine so anmutig wie sie das Tanzbein geschwungen. Ich ließ mir nichts anmerken, doch mich verzehrte eine innere Wut.“

Schon das Sitzen auf dem Mehlsack war sehr unbequem, aber zusätzlich drückte Katharinas knochiger Körper schwer gegen meine Seite, als sei ich eine Sessellehne. Mit einem sanften Schubs gab ich zu verstehen, dass sie wegrücken solle. Sie reagierte sofort, setzte sich zurecht und redete unverdrossen weiter.

„Dorothea bewahrte zwei Schätze in ihrer Kammer auf, eine Schatulle und einen Kaktus. Sie war ja schon uralt, einundsechzig Lenze zählte die Arme, und hatte nur noch einen einzigen lebenden Verwandten, den Sohn ihres Bruders.“

 

Ich schluckte. Wenn man mit einundsechzig uralt war, wie alt war dann die Frau neben mir, die mir uralt vorkam und doch nicht älter als vierzig sein konnte?

„Dieser Neffe war in Amerika zu Geld gekommen und hatte ihr bei seinem letzten Besuch, der schon viele Jahre zurücklag, einen winzigen Kaktus mitgebracht, den sie hegte und pflegte wie eine seltene Kostbarkeit.

Das stachlige Ding war ihr ganzer Stolz. Im Laufe der Zeit war die Pflanze höher und höher gewachsen und ständig klopften neugierige Besucher an die Tür, um den Kaktus bestaunen zu dürfen. Wenn er zweimal im Jahr weiße Blüten trug, nahm die Neugier der Leute gar kein Ende mehr.

Auch die Schatulle hatte ihr der Neffe geschenkt, doch die durfte keiner sehen. Sie verbarg sie ängstlich unter ihrer Matratze und nur mir war einmal versehentlich die zweifelhafte Ehre zuteil geworden, den Inhalt bewundern zu dürfen. Das schmale Kästchen war aus seinem Versteck gerutscht und zu Boden gefallen. Auf Dorotheas fadenscheinigem Bettvorleger leuchteten fünf Dukaten aus purem Gold.

Der Anblick der glänzenden Münzen brachte mich fast um den Verstand und auch Dorothea war außer sich vor Schreck. Ich musste ihr feierlich bei allen Heiligen geloben, niemandem etwas von der Schatulle zu verraten.“

Katharina nestelte an ihrer Schürze herum. Jetzt sah ich, dass aus ihrer Nase ein Rinnsal geflossen kam. Ich wollte ihr ein Tempo anbieten, aber die Sache hatte sich schon erledigt. Katharina schnäuzte in einen Schürzenzipfel und setzte ihre Erzählung fort.

„Der Herbst war eingezogen, Regenschauer und Windböen fegten übers Land. Der drohende Winter machte mir Angst und ich konnte das sinnlose Geschwätz von Dorothea kaum noch ertragen.

Da reifte ein Plan in mir heran. Mehrmals im Jahr wurden überall in Goslar vergiftete Köder ausgelegt, um die Ratten zu töten. Sie tummelten sich zu hunderten in den unterirdischen Stollen und des Nachts rannten sie durch die Gassen bis in die Häuser. Im Kellergewölbe des Stiftes wurde das Rattengift aufbewahrt und es gelang mir, unbemerkt eine Hand voll davon in einen Beutel zu tun und wegzutragen.

Nur einmal in der Woche durfte der Kaktus gegossen werden und das war immer am Montag. Dorothea ließ mich das machen, denn ihr war von der Gicht ein Buckel gewachsen, sie konnte die Fensterbank nicht mehr erreichen. Ich rührte ein wenig von dem Giftpulver ins Gießwasser und eine Woche später zerfiel der Kaktus zu Matsch. Dorothea war die Verzweiflung selbst. Sie lamentierte, dies stelle ein böses Omen dar und könne nur bedeuten, dass auch sie dem Tode geweiht sei. Sie heulte um ihren Kaktus wie um ein verstorbenes Kind. Ach, wie schwer ist es mir gefallen, meine Schadenfreude zu verbergen!“

Katharina stieß ein böses Lachen aus und ich bekam Angst, die harmlose Alte hatte es anscheinend faustdick hinter den Ohren! Ich spähte in Richtung Treppe, doch ehe ich mich unauffällig davonmachen konnte, schloss sich, als hätte sie es geahnt, wieder die raue Hand um meinen Arm und hielt mich fest.

„Schön sitzen bleiben, Fräulein, ich bin noch nicht fertig!“

Hastig fuhr sie fort.

„Eine Woche später, ich stopfte gerade Dorotheas Strümpfe, wurde an die Stubentür geklopft. Es war die Hausvorsteherin, die sie bat, in die Kapelle zu kommen. Jetzt war ich einen Augenblick allein in der Kammer und konnte nicht widerstehen. Ich hob die Matratze an, zog die Schatulle hervor und versteckte sie unter meinem Rock. Dorothea bemerkte nichts. Doch in der Nacht, im dunklen Stall, erkannte ich die Dummheit meiner Tat. Was hatte ich an den Goldmünzen? Wenn eine bettelarme Magd wie ich nur einen einzigen Golddukaten zum Geldwechsler brachte, würde man sofort die Polizei rufen!

Als ich mir vornahm, das Kästchen am anderen Tag wieder heimlich unter die Matratze zu schieben, überkam mich ein ganz seltsamer Zustand. Ich spürte, dass ich die Münzen niemals mehr hergeben konnte. Aber wie lange ließ sich der Verlust vor Dorothea verbergen?

Am nächsten Tag ging ich voller Angst ins Große Heilige Kreuz. Wartete schon die Polizei auf mich? Alles war wie immer. Ich holte Dorotheas Suppe aus der Küche und fütterte sie, während mir das Wasser im Munde zusammenlief. Sie gab mir niemals etwas ab.

Nachdem sie aufgegessen hatte, verlangte sie nach dem Becher mit heißem, stark gesüßtem Gewürzwein, den sie abends wie eine Medizin gegen ihre Gicht zu trinken pflegte und ich holte ihn aus der Küche. In der Kammer rührte ich unbemerkt das Pulver hinein und hielt ihr den Becher an den Mund. Sie verzog das Gesicht, denn der Trank schmeckte bitterer als sonst, aber sie trank den Becher in kleinen Schlückchen leer.

Als sie anfing, mit den Armen zu zucken und gurgelnde Laute auszustoßen, drückte ich ihr ein Kissen aufs Gesicht und ihr Kopf fiel zur Seite. Ich säuberte ihre Mundwinkel, flocht ihre Finger wie zum Gebet ineinander und wischte den Becher aus. Dann tat ich so, als würde ich mich laut und herzlich von der toten Dorothea verabschieden. Die Hausbewohner, die in der Diele saßen, sollten denken, dass alles wie immer war, aber die beachteten mich kaum, sie waren mit ihrer Mahlzeit beschäftigt.

Erst am anderen Morgen bemerkte man den Tod der Witwe. Es hieß, sie sei wohl ihrem Kaktus ins Jenseits gefolgt. Die Leiche wurde gewaschen, drei Tage aufgebahrt und in allen Ehren auf dem Kirchhof begraben.

Und dann geschah noch etwas und seitdem plagt mich das schlechte Gewissen schlimmer als der Rheumatismus, der an meinen Knochen frisst.

Man ließ nach mir suchen und ich wurde ins Große Heilige Kreuz gebracht. Ängstlich betrat ich die Diele und erwartete dort das schlimmste, meine böse Tat war wohl ans Tageslicht gekommen!

Doch alles war wie immer, nein, nicht wie immer! Die Hausvorsteherin, die mir sonst keinen Blick gönnte, sah mich respektvoll an und führte mich in ihre Stube. Sie sagte, es sei ein versiegelter Brief in der Kammer der Toten gefunden worden und in dem stand geschrieben, dass vom Besitz der Witwe Dorothea Maria Holberg immer soviel zu nehmen und zu geben sei, dass die Magd Margarete Katharina Stockhusen auf Lebenszeit im Armenhaus des Heiligen Kreuzes versorgt und verköstigt werde. Bei allen Heiligen, auf Lebenszeit!“

Margarete schwieg und es war totenstill auf dem Dachboden, nicht einmal das Tapsen der Katzenpfoten war mehr zu hören. Die bedrückende Stille breitete sich aus, raubte mir die Atemluft und widerstreitende Gefühle umnebelten meinen Verstand.

Ich musste der armen Seele doch irgendwie Trost spenden, sie umarmen oder ihr wenigstens übers Haar streichen. Ich drehte mich zur Seite und erschrak. Auf dem Mehlsack neben mir saß niemand mehr. Margarete war verschwunden, sie hatte ihr Herz ausgeschüttet und war in ihre Zeit zurückgekehrt. Das Lämpchen flackerte, erlosch und in derselben Sekunde stand ich wieder in der Wäschekammer neben meinen Schlüpfern. Ein letztes Mal erklang das tiefe Seufzen, aber nun hörte es sich an, als ob jemand ungeheuer erleichtert wäre.

Während eines Arztbesuches vertrieb ich mir die Wartezeit, indem ich Boulevardzeitschriften durchblätterte. Dabei entdeckte ich zufällig ein Foto des prominenten Herzchirurgen Professor von B. und schlagartig standen mir die bedrückenden Ereignisse wieder vor Augen, die ich lieber vergessen hätte.

Vor ungefähr drei Jahren war ich mit einem Freund nach Hahnenklee gefahren. Er wollte Ski laufen, ich wollte spazieren gehen. Mein Spaziergang war beendet und ich saß schon seit einer halben Stunde wartend in einem Gasthaus, doch Jürgen kam nicht. Gelangweilt beobachtete ich durch die beschlagenen Fensterscheiben das bunte Treiben der Harztouristen, die im grellbunten Ski-Outfit vorbeiflanierten. Bäume und Häuser trugen weiße Schneemützen und bildeten mit dem strahlend blauen Himmel eine wunderschöne Kulisse mit der Überschrift: Ein Wintertag im Harz.

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