Das letzte Märchen

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Das letzte Märchen
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Paul Keller

Das letzte Märchen

Ein Märchenroman

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Impressum neobooks

Kapitel 1

An die Verwunderten

Jawohl, ich bin ein Bürger dieser Stadt! Ich arbeite und schiebe Kegel, ich zahle Steuern und räsoniere

auf den Magistrat, ich bin amtlich bestallter Armenpfleger und agitiere mit den Mietern gegen die

Hausbesitzer, ich würde sogar im Konsumverein sein, wenn das mein Schwager, der ein Kaufmann

ist, erlaubte.

Ihr seht, die wichtigsten Merkmale treffen bei mir zu: ich bin wirklich ein Bürger dieser Stadt. Kein

Wichtiger, kein Reicher, keiner von den vielen Sehrklugen, im ganzen einer der armen Schlucker, die

ihre Pflicht tun müssen, die am Tage immer etwas zu klagen und zu schimpfen haben, aber die doch

am Abend zu lachen anfangen.

Es ist schön in unserer Stadt, o ja! Ich glaube, wir haben das beste Straßenpflaster von allen Städten

Preußens, und wir fabrizieren ein Bier, das sogar exportiert wird, wir haben einen Professor hier,

über den man schon einmal im ganzen Lande geschimpft hat, und besitzen eine alte Glocke, über die

ein leibhaftiger Dichter aus der Literaturgeschichte ein langes Gedicht gemacht hat. Ich könnte noch

vieles anführen, aber es ist ohnehin bekannt, daß ich ein Lokalpatriot bin. Ich habe einmal, als ich

acht Wochen lang verreist war, jeden Abend von sechs bis sieben Uhr Heimweh gehabt nach unserer

Stadt. –

Ihr, meine Freunde, wißt, daß ich viele Geschichten erzählt habe. Sie alle spielten in unserem Leben;

sie hatten alle den festen Boden unserer Straße unter sich, Fleisch von unserem Fleisch, Seele von

unserer Seele. Schicksal von unserem Schicksal wollte ich geben.

Und nun bin ich in diesem Buch ein anderer, bin fort von Euch, fort aus unserer Stadt, fort aus

unserem Leben.

Geflohen ... geflohen!

Ich will Euch ein großes Geheimnis anvertrauen, meine Freunde, eines, das Ihr mir heilig halten sollt.

Meine Seele kann sich wandeln: sie kann zur Kinderseele werden, zur Kinderseele, die jung und

keusch ist, unwissend und fröhlich. Ihr kennt die Kinderseele nicht, Ihr kennt nur die andere ... die

alte. Die Kinderseele habe ich nur, wenn ich fort bin auf weiter Reise, in unendlich fernen Ländern,

nach denen kein hölzerner Wegzeiger weist.

wißt Ihr, was ich manchmal im Frühling gern tun möchte? Einen Backofen im Sande bauen, oder ein

kleines Grab graben auf der Wiese, oder einen Zweipfennig auf die Eisenbahnschienen legen und am

Damme mit klopfendem Herzen lauern, wie ihn der Zug breitfährt. Merkt Ihr, daß ich das niemandem

sagen kann? Sie würden lachen, und meine arme, kleine Seele würde sich totschämen und dann gar

nicht mehr wiederkommen.

Sie kommt schon so selten, vor der Arbeit und der Schuld, vor der Liebe und dem Verrat, vor dem

wirbelnden Leben und dem bleichen Tode, vor dem vielen Gelächter und vielen Geschrei im Lande ist

sie scheu geworden.

Aber sie lebt noch. Manchmal, wenn ich im Sturmwind wandere, fürchte ich mich auch jetzt noch,

umzublicken, weil ich glaube, daß ein prustender Riese hinter mir schreitet; manchmal sehe ich jetzt

noch am Himmel weiße Berge mit leuchtenden Almen und einsamen Fußpfaden; manchmal, wenn

ich auf dem grünen Rasen liege, weiß ich wieder, daß da unten die Welt ist, in der die reichen Zwerge

wohnen.

Und es geschah zuweilen, wenn ich am Schreibtisch saß, daß mir ein Kinderlachen aus der eigenen

Seele hineinschallte in den ernsten Text. Dann freute ich mich, aber ich fürchtete mich auch,

fürchtete mich vor denen, die es mir nicht verzeihen würden, wenn ich so jung wäre. Und dann habe

ich oft Jugend und unbesorgte Fröhlichkeit aus meiner Stube hinausgesperrt.

Jetzt ist mir die Furcht vergangen. An diesem Buche darf der Mann schreiben und das Kind.

Das letzte Märchen! Mein letzter Gang in die süße, heilige Herrlichkeit jener Wunderländer, nach

denen sonst nur die reichsten Menschen dieser Erde reisen können – die Kinder, – eine Flucht zurück

zur Harmlosigkeit, Zur Gesundheit, zu einer Freude, auf die keine Qual folgt.

In dieses Buch will ich alles retten, was in mir noch jung, nein, was in mir noch Kind ist.

Wollt Ihr mich begleiten? Ihr meint, Ihr seid alt. Ich bin auch alt. Auch in diesem letzten Märchen

wird mir die Kinderseele aus meinen alten Augen schauen, die Menschen studierten, Bücher lasen,

die viel lachten und viel weinten. Meine Augen kann ich nicht mehr ändern.

Kommet mit! Nicht alle! Nur die, die in ihres Lebens heimlichsten Stunden in der Brust das alte

Kinderherz noch manchmal ein paar Schläge tun fühlen, die manchmal eine Sehnsucht haben, in die

Heimat zu gehen und alte Spielplätze wieder aufzusuchen, die nicht zu stolz und auch nicht zu arm

sind, eine unbesorgte Märchenfahrt zu wagen, die in reifen Tagen unsere ersten Wunderländer im

gewandelten Lichte noch einmal wiedersehen wollen.

Viel losgerissene goldene Fäden verflattern nutzlos in der Menschenseele. Sie wollen wir sammeln.

Im letzten Märchen liegt der ersten Märchen Erfüllung. Sie wollen wir suchen.

Das merkwürdige Tintenfaß

Das Merkwürdige an meinem neuen Tintenfaß war, daß es die Form eines Fasses hatte. Sonst sehen

Tintenfässer immer aus wie Salznäpfe, Eierschalen, Eulen, Flaschen, Schweine oder Totenköpfe. Mein

Tintenfaß aber sah aus wie ein Faß, hatte eine richtige Auswölbung, zwei Reifen und einen

allerliebsten Spund.

Ich hatte dieses originelle Tintenfaß sehr lieb und zeigte es mit einem gewissen Stolze jedem

Besucher. Es kam allerdings auch vor, daß es mir Kummer bereitete, ja, es wurde mir zur beständigen

Versuchung, und es gab Zeiten, wo ich fest überzeugt war, daß es viel vernünftiger sei, seine Feder in

eine Eule zu tunken als in ein Faß.

Eulen haben nie etwas verlockendes, weder im Tierreich, noch im Menschenreich, noch als

Tintenbehälter, aber Fässer erwecken das verderbliche Gefühl eines großen Durstes und verführen

zur Unmäßigkeit und Verschwendung. Ich saß kaum an meinem Manuskript, so mahnte mich das

kleine Fäßlein an ein anderes viel größeres Faß, das drüben im »Blauen Adler« stand, und nach

meinem Gefühl einen schöneren Saft enthielt als Tinte. Da ich nun dem großen Faß viel öfter

Gesellschaft leistete als dem kleinen, so ereignete es sich, daß ich um jene Zeit weder reich noch

berühmt wurde.

Diesem Umstande ist es zuzuschreiben, daß ich Schulden hatte. Viel! Über fünfhundert Taler! Und ich

wußte nicht, wovon ich sie bezahlen sollte. Nein, ich wußte es nicht!

So saß ich an einem Silvesterabend mit bedrücktem Herzen einsam in meiner Schriftstellerstube und

betrachtete eine Anzahl Rechnungen, die als vorzeitige Neujahrsboten bei mir eingelaufen waren.

Der Silvesterabend ist ein sehr ernster Abend, an dem man nicht pokulieren, sondern lieber über die

Vergänglichkeit der Zeit und anderer irdischer Dinge nachdenken sollte. Es gibt freilich Leute, die

anderer Meinung sind. Das eine aber steht fest für alle: ein Silvesterabend mit Rechnungen hat etwas

Schwermütiges. Ich fühlte mich aufs tiefste bedrückt, als ich meinen Namen so oft mit fetten,

kalligraphischen Buchstaben vor mir sah und in seiner Nähe die Zahlen herumwimmelten wie freche,

aufdringliche Ameisen. Es war ein häßlicher Anblick. Also packte ich die Blätter mit den Ameisen

behutsam zusammen, schob sie beiseite, holte tief Atem und beschloß, ein Trauerspiel zu schreiben,

nachdem sich zwölf andere Möglichkeiten, meine Finanzen zu verbessern, nach kurzer Prüfung als

unmöglich erwiesen hatten. Ich hätte das Trauerspiel auch geschrieben und wäre jetzt

wahrscheinlich schon ein sehr berühmter Dramatiker, wenn mir das Tintenfaß abermals einen Streich

gespielt hätte.

Es verwandelte sich nämlich, während ich eifrig über die Exposition meines neuen Stückes

nachdachte, vor meinen sehenden Augen in einen Mann.

Ich erschrak aufs heftigste. Ich bitte, was soll auch ein Mensch, vor dessen Nase sich am

Silvesterabend ein Tintenfaß in einen Mann verwandelt, in der Eile anderes machen, als heftig

erschrecken?

Übrigens ein sehr kleiner Mann! Die Wände des Tintenfasses hatten sich in einen kleinen, zierlichen

Gehrock, der rote Spund in eine Uhrberlocke verwandelt. Unten zeigten sich zwei graziöse Beinchen,

oben saß ein kleiner Kopf mit einem roten, frischen Gesichtchen.

Ich erholte mich ein wenig und sagte zu dem Fremdling:

»Gestatten Sie, ich bin über Sie sehr erstaunt!«

Er lachte.

»Das glaube ich, aber ich bin schon lange hier, schon so lange, als Sie das Tintenfaß haben, also fünf

 

Wochen!«

»Freut mich,« sagte ich höflich, »Wenn Sie sich nur inzwischen nicht gelangweilt haben. Womit kann

ich Ihnen dienen?«

»Wenn Sie erlauben, werde ich mich erst ein bißchen setzen,« entgegnete er. »Ich habe fünf Wochen

lang gestanden und bin jetzt etwas müde. Bitte keine Umstände, ich sehe da einen sehr bequemen

Hocker.«

Und er setzte sich auf einen Bierkorken, der auf der Schreibtischplatte lag, räusperte sich und

begann, nachdem er mir eine kleine Verneigung gemacht hatte, folgende Rede:

»Zunächst beehre ich mich, Ihnen meinen Namen zu sagen: von Stimpekrex, diplomatischer Agent im

Dienst Sr. Majestät des Königs Herididasufoturu des Fünfundsiebzigsten, Reserveleutnant im

Leibgarderegiment Sr. Maj., Mitglied der Kommission für Veredlung der Reichsmaulwurfzucht,

Doktor verschiedener Rechte, Inhaber der großen Medaille vom Verbotenen Berge und Vorsitzender

des Aufsichtsrats der Gesellschaft für Diamantpflasterung, eingetragene Genossenschaft mit

beschränkter Haftpflicht.«

Ich sah den vielseitigen Mann ehrfürchtig an.

»Es freut mich ... Herr ... Herr Doktor ... oder Herr Legationsrat oder ...«

»Herr Leutnant, bitte, das ist mir der angenehmste von allen meinen Titeln.«

»Es freut mich außerordentlich, hochverehrter Herr Leutnant, in dieser armseligen Schriftstellerbude

der Ehre eines so seltenen Besuches ...«

»O, keine Komplimente! Kommen wir lieber gleich zur Sache! Herididasufoturanien, das Land, das

mein glorreicher Herr, Herididasufoturu der Fünfundsiebzigste regiert, ist der Größe nach das zweite

unter den Zwergkönigreichen Europas und des Mittelmeeres, der Kulturstufe nach aber bei weitem

das erste. Wir haben ausgezeichneten Post‐ und Eisenbahndienst, telegraphieren ohne Draht,

waschen mit Chlor, fahren elektrisch und schießen mit Steilfeuergeschützen. Neuerdings hat sich die

Regierung sogar entschlossen, eine Zeitung einzuführen.«

»Wie? Was? Bei solcher Kulturhöhe noch keine Zeitung?«

»Nein! Sie sind übrigens sehr im Irrtum, wenn Sie meinen, daß Zeitungen mit Kultur etwas zu

schaffen haben. Doch gleichviel, der Reichsrat hat die Einführung einer Zeitung beschlossen, und ich

bin von unserem Kanzler beauftragt, Ihnen die Stelle eines Chefredakteurs der neu zu gründenden

Zeitung zu offerieren.«

Ich war sehr überrascht, und ich hege die Vermutung, daß die meisten meiner lieben Mitmenschen

ebenfalls sehr überrascht sein würden, wenn ihnen unvermutet eine Chefredakteurstelle in

Herididasufoturanien angeboten würde.

»Verzeihung, Herr Leutnant,« stammelte ich, »aber da müßte ich doch vorher genau die

Bedingungen kennen.«

»Selbstverständlich! Wir schließen einen genauen Kontrakt ab, der übrigens nur für ein Jahr gilt. Ein

herididasufoturanisches Staatsgesetz verbietet streng, irgend einen Ausländer – und das sind Sie,

mein Herr – länger als ein Jahr innerhalb der Grenzen unseres Landes zu dulden. Auch den

Angestellten von Siemens und Halske, den Schüler Marconis usw. usw. behielten wir nur ein Jahr. Die

Herren sind nur Instrukteure; sind wir eingerichtet, dann übernehmen wir die entsprechenden

Betriebe selbst. Überlegen Sie sich die Sache; alle Ihre Wünsche sollen nach Möglichkeit erfüllt

werden, denn ich halte Sie, nachdem ich Sie fünf Wochen lang beobachtet habe, als für unsere

Zwecke sehr geeignet.«

Ich verfiel in tiefes Nachdenken. Der Zauber der Erscheinung packte mich, das ferne Wunderland

tauchte vor meiner Seele auf, die Sehnsucht kam, nach jenem rätselhaften Gestade zu wandern, und

so sagte ich mit bebender Stimme:

»Ja, ich will die Stelle annehmen! Mir ist bange, ich verhehle es Ihnen nicht, aber ich komme mit dem

besten Willen zu Ihnen, und ich habe die Hoffnung, es wird mir bei Ihnen gutgehen.«

Er sah mich freundlich an:

»Ich habe mich in Ihnen nicht getäuscht! Nur Leute mit jungem Herzen können wir brauchen, und

junges Herz hat Mut und faßt schnell Vertrauen. Das Vertrauen wird Sie nicht täuschen! Um mich

Ihnen gleich in einer Kleinigkeit freundlich zu erweisen, erbiete ich mich, Ihre Schulden zu bezahlen.«

Ich kam in Verlegenheit.

»Sie sind sehr gütig, Herr Leutnant, es ... es ist ja in der Tat peinlich für mich, ins Ausland zu reisen,

ohne... ohne meine Verbindlichkeiten zu regeln, aber... aber es sind viel... und dann, es ist mir

peinlich ...«

»Ach, keine Idee! Ich gebe Ihnen einfach einen Vorschuß! Wollen Sie?«

Ich nickte verschämt mit dem Kopfe, und ein maßloses Vertrauen zu dem kleinen Herrn erfüllte

meine Seele, denn es ist doch klar, daß ein Wesen, das so ganz von selbst Vorschuß anbietet, nur ein

sehr edles Wesen sein kann.

»Bitte, hier sind zehntausend Mark,« sagte Herr von Stimpekrex, »mehr habe ich leider nicht

deutsches Geld bei mir. Zu kurz werden Sie übrigens nicht kommen, denn wir zahlen Ihnen zehn

oder, wenn Ihnen das angenehmer ist, zwanzig Millionen Mark Honorar für das Jahr, bei gänzlich

freier Station, Beleuchtung und Beheizung.«

Ich war ganz erschrocken, denn so etwas war mir in meinem Schriftstellerleben noch nicht

vorgekommen. Meine Bestürzung war so groß, daß ich, als Herr von Stimpekrex mich wiederholt

fragte, ob ich denn zehn oder zwanzig Millionen Gehalt haben wollte, mich in der Aufregung für

zwanzig entschied.

Hierauf schlossen wir einen Kontrakt ab, wozu wir ein auf Grund des Bürgerlichen Gesetzbuches und

des neuen Urhebergesetzes vom Rechtsausschuß des Schriftstellervereins ausgearbeitetes Formular

benutzten. Der kleine Leutnant war mit allen meinen Vorschlägen einverstanden, nur bestand er

darauf, daß als Paragraph l7 eingefügt werde:

»Der Herr Chefredakteur darf absolut nichts Alkoholisches genießen.«

Dieser Paragraph war mir peinlich, aber als mir Herr von Stimpekrex erklärte, in Herididasufoturanien

seien alle Leute Abstinenzler, da ein Gesetz bei den schwersten Strafen den Genuß alkoholischer

Getränke verbiete, beschloß ich, im Hinblick auf meine Rechnungen und die zwanzig Millionen dem

Lande Herididasufoturu des Fünfundsiebzigsten das Opfer zu bringen.

Hierauf wurde der Kontrakt in zwei Exemplaren von mir und Herrn von Stimpekrex in seiner

Eigenschaft als herididasufoturanischer Bevollmächtigter unterzeichnet.

Nun war ich ohne Sträuben bereit, sofort mit Herrn von Stimpekrex abzureisen. Ich habe einen

Kontrakt, dachte ich, und dieser Gedanke nahm mir alle Bedenken. Nun ordnete ich vorher meine

Angelegenheiten. Ich schrieb in aller Eile einen Brief an meine Stammtischfreunde im »Blauen

Adler«, worin ich ihnen kurz meine plötzliche Abreise ins Ausland anzeigte, und teilte auf einem

Zettel meiner Wirtin mit, daß in meiner Schublade drei Tausendmarkscheine lägen. Sie soll meine

Rechnungen bezahlen, tausend Mark in den »Blauen Adler« schicken und den Rest für ihre zärtliche

Fürsorge behalten. Auch bei der Polizei solle sie mich abmelden. »Verzogen nach

Herididasufoturanien!«

Als ich fertig war, sagte Herr von Stimpekrex: »Und nun gestatten Sie freundlichst, daß ich Ihre

Gestalt etwas reduziere. In dieser Länge können Sie in Heridasufoturanien nicht auftreten, so lang

sind bei uns nur die Fabrikschlote. Übrigens keine Angst! Nach Ablauf Ihres Jahres stellen wir Sie in

Ihrer ganzen Größe wieder her.«

Er gab mir einen kleinen, freundlichen Schlag auf den Kopf, den ich zu diesem Zweck auf die

Schreibtischplatte legen mußte, und augenblicklich saß ich als winzig kleine Puppe in meinem

Armsessel.

Ich war klein, lächerlich klein! Ich saß zwar noch auf meinem Armstuhl, aber unten baumelten keine

Beine mehr herab, und oben ragte kein Körper mehr heraus, – es war sehr unheimlich.

Auch mein Anzug, meine Schuhe, selbst meine stimme waren ganz klein geworden.

Da war mir plötzlich sehr ängstlich zu Mute, und ich bereute bereits den Handel, der meine

Leibeslänge also kläglich verkürzt hatte. Herr von Stimpekrex aber schlug entzückt die Hände

zusammen und sagte:

»Sie sind ein schöner Mann, ein herrlicher Mann! Ich fürchte, unsere Damen werden ganz rasend in

Sie verliebt sein.«

Diese Rede tröstete mich in meinem Gemüte, denn es ist wahr, daß alle kleinen Leute sehr eitel sind.

Der Leutnant sprang nun von der Schreibtischplatte auf das dicke Eisbärfell, das auf der Diele lag,

hinab, und forderte mich auf, auch »hinabzukommen«. Ich kroch auf allen Vieren an den Rand des

Stuhlsitzes und lugte hinunter. Es war ein Abgrund! Ein Schwindel faßte mich, und ich würde eher als

Mensch von den Kölner Domtürmen als jetzt als Herididasufoturanier von diesem Stuhle gesprungen

sein.

»Mein Herr,« sagte ich, »ich werde in alle Ewigkeit nicht da hinunterspringen, denn es würde mein

Tod sein.«

»Nein, mein Herr,« entgegnete er lächelnd, »es wird Ihnen nicht das mindeste passieren.«

»Aber, mein Herr,« sagte ich wieder, »Sie müssen einsehen, daß es eine Tollkühnheit wäre. Besorgen

Sie einen Luftballon, eine lange Leiter oder wenigstens einen Fallschirm, so will ich es wagen.«

Da hörte ich meine Wirtin draußen rumoren. Ein schrecklicher Gedanke fiel mich an. Wenn sie

hereinkäme! Wenn es ihr einfiele, an den Schreibtisch zu treten und sich in meinen Stuhl zu setzen!

Sie wog 213 Pfund! O, dann gute Nacht, du schöne Welt, ihr zwanzig Millionen und fernen

Wunderländer, dann wurde ich winziges Männlein mit all meinen Hoffnungen und Talenten unter

einem Flanellrock grausam zerquetscht, verschüttet, begraben.

»Kommen Sie herab, mein Herr!« rief der kleine Leutnant wieder. »Springen Sie dreist herab!«

Mir schwindelte noch immer, aber dann, als ich den Tritt der Wirtin wieder hörte und an den Flanell

des Todes dachte, schloß ich die Augen und tat den tollkühnen Sprung.

O, es ging gut! Ich schlug mich gar nicht und lachte, als ich auf dem Eisbärfell saß.

Abermals hörten wir die Wirtin, und da zögerten wir keinen Augenblick mehr. Mit fabelhafter

Geschicklichkeit kletterte Herr von Stimpekrex am Fenster hinauf, wirbelte es auf und zog mich mit

hinaus aufs Fenstersims.

Kalt pfiff der Wind die Mauer entlang, und eine große Schneeflocke kam und deckte mir die kleine

Hand zu.

Der »Blaue Adler« drüben war hell erleuchtet, und mein bester Freund trat gerade durch die Tür ins

Haus. Er pfiff das wonnige Goethelied: »Nun sind wir versammelt zu löblichem Tun, drum

Brüderchen ergo bibamus.« Ich wurde traurig und bekam Durst, als ich dieses Lied hörte. Aber Herr

von Stimpekrex überließ mich nicht meinen sentimentalen Gefühlen. Auch er fing an zu pfeifen, leise

und wunderbar, und ich ahnte wohl, daß es ein Zauberpfiff war.

Nach wenigen Minuten kamen zwei Krähen geflogen, die setzten sich neben uns aufs Fenstersims.

»Aufsitzen!« befahl der kleine Leutnant und zeigte auf die eine Krähe. Ich wandte ein, daß ich ein

sehr schlechter Reiter sei und in gar keiner Unfallversicherung wäre; aber das ließ er nicht gelten.

»Riesengebirge! Station Boberquelle!« befahl er den Arähen, und zwei Minuten später sausten wir

durch die Luft.

***

Ein Krähenritt durch die Luft hat viel Sonderbares an sich. Ich kann sagen, daß ich weich und warm

saß und keinerlei Erschütterungen verspürte, auch recht schnell fortkam. Nur der Gedanke, ich könne

jeden Augenblick! einige hundert Meter tief hinunterfallen, hatte viel Unangenehmes an sich. Auch

entsteht durch die rasche Bewegung und den beständigen Flügelschlag der Krähe ein ziemlich

heftiger Luftzug, so daß ich Personen, die leicht zu katarrhatischen Anfällen neigen, einen Krähenritt

nicht empfehlen kann.

Mein Begleiter und ich sprachen wenig miteinander; auch die Krähen verhielten sich ziemlich

schweigsam. Diese Tiere haben überhaupt, wie ich später erfuhr, nur einen sehr geringen

Wortschatz. Was über die gewöhnlichen Phrasen, Essen, Trinken und Eierlegen betreffend,

hinausgeht, sind fast nur Schimpfworte. Aber es gibt Menschen, bei denen es ähnlich ist.

Ein paar Sterne leuchteten, der Mond machte seine Reise durch die weißen Schneewolken. Er sah so

weiß aus, als ob er fröre. Der Trubel der großen Stadt verklang hinter uns, die hellen Lichter

erloschen, wir kamen übers freie Feld. Das lag in einem blauweißen, frostigen Licht. Auf den

 

verschneiten, öden Wiesen bei den vermummten Weiden standen ein paar zitternde Rehe. Die

Wälder stöhnten leise vor Frost, und auf den Bergen lastete eine eisige Kälte.

Da fing auch mich an zu frieren, denn ich war ohne Überzieher. Herr von Stimpekrex bedauerte sehr,

nicht wenigstens eine Reisedecke mitgenommen zu haben.

Ich fühlte an meine Nase und stach mich daran wie an einer Nadel. So hart, spitz und klein war sie. Es

mußte furchtbar sein, in eine so kleine Nase einen großen Schnupfen zu bekommen.

»Wenn wir wenigstens einen Schluck Kognak bei uns hätten!« seufzte ich.

Mein Begleiter sah mich vorwurfsvoll an, und der fatale Paragraph 17 fiel mir ein.

Und so ging es weiter durch die kalte Silvesternacht, immer unter den weißen Schneewolken hin, aus

denen von Zeit zu Zeit vereinzelte Flocken wie tanzende, aufgewirbelte Papierfetzen über unseren

Weg huschten.

Wenn man sehr friert, ist es gut, zu pfeifen, da macht man wenigstens den Gesichtsmuskeln

Bewegung. Und die Musik macht auch etwas Courage.

Also pfiff ich. Es war eine freie Phantasie von Wagnerschem Kolorit. Allmählich aber ging die

Phantasie in die Weise eines Liedes über: »Hier sind wir versammelt zu löblichem Tun, drum

Brüderchen –«

»Wissen Sie was,« unterbrach mich Herr von Stimpekrex, »wir werden mal Station machen, um uns

ein wenig zu wärmen. Es ist hier in der Nähe ein Eichhörnchennest, eine recht nette Herberge. Der

Wirt schläft freilich um diese Zeit; aber wir werden ihn herausklopfen.«

Im Eichhörnchennest

Nein, der Wirt schlief nicht. Der würdige Herr saß einige Schritt von der Tür seines Hauses entfernt,

dicht in seinen hellen Winterpelz gehüllt. Meinen Begleiter empfing er mit großem Respekt, indem er

sich in einer Riesenverneigung von dem obersten Ast der Eiche auf den untersten stürzte. Als er nach

Beendigung dieses Kompliments wieder oben angelangt war, sagte er sehr devot:

»Ich heiße Euer Gnaden nebst Hochdero Begleiter untertänigst willkommen, muß aber gehorsamst

bemerken, daß leider – oder glücklicherweise – ich weiß wirklich nicht, was ich in diesem Falle zu

sagen die Ehre habe –«

»Also was?« unterbrach ihn der Leutnant. »Daß schon Besuch drin ist im Neste, wollen Sie wohl

sagen?«

Herr Eichhorn wiederholte seine Verneigung, wobei er sich jedoch diesmal nur bis in die mittlere

Etage hinabstürzte, und sagte dann:

»Jawohl, Exzellenz, es sind zwei Damen bei mir abgestiegen: eine Fremde und das gnädige Fräulein

Elkaguntascha.«

Bei dem letzten Namen bemächtigte sich des kleinen Leutnants eine fabelhafe« Erregung. Ich sah,

daß er zitterte und doch im Gesicht ganz rot war. Ich ahnte etwas.

»Fräulein Elkaguntascha hier – dort drin? – Hier? O, das ist ja – das ist ja wirklich – nämlich eine

entfernte Bekannte, Verehrtester, – schon von den Eltern her – jawohl! – Haben Sie nicht zufällig

einen Spiegel zur Hand, Herr Wirt?«

Er war ganz außer Rand und Band. Herr Eichhorn stürzte sich etwa fünfzig Meter in die Tiefe hinab

und erschien bald mit einem Stückchen blanken Eises, in dem sich Herr von Stimpekrex eifrigst

bespiegelte.

»Melden Sie uns den Damen, Herr Wirt! Fragen Sie, ob sie mir und diesem Kavalier die große Gunst

erweisen würden, ein Viertelstündchen mit ihnen plaudern zu dürfen.«

Herr Eichhorn verschwand, und ich stieg indessen von der Krähe. Wartend standen wir auf dem

Eichenaste. Das Nest lag wie eine ehrwürdige, poetische Hütte vor uns, von Schnee bedeckt, vom

Mondlicht versilbert, liebreich umfaßt von den starken Armen des Eichbaumes.

Da erschien in der Tür ein weißes Figürchen.

»Aber mein bester, verehrtester Herr Ftimpekrepf! Wie hier? Daw ift ja grofartig!«

Eine allerliebste Dame! Nur daß sie das »S« nicht sprechen konnte. Herr von Stimpekrex seiltänzerte

über den Eichenast, kniete vor der Dame nieder und küßte ihr mit Inbrunst die Hand. Ich folgte

seinem Beispiel, hatte aber bei der ganzen Geschichte eine greuliche Angst, die Balance zu verlieren.

»Der Chefredakteur unserer neuen Zeitung, Professor Doktor Barragu,« stellte mich Herr von

Stimpekrex vor.

Ich erlaubte mir die bescheidene Einwendung, daß ich nicht Barragu heiße und auch weder Doktor

noch Professor sei; Herr von Stimpekrex aber belehrte mich, daß erstens Barragu die wörtliche

Übersetzung meines Namens ins Herididasufoturanische sei, und daß ich zweitens auch der beiden

Titel nicht entbehren könne, da in Herididasufoturanien keiner als kluger Mann angesehen werde,

der nicht mindestens Doktor sei.

»Ich freue mich wehr, Herr Profeffor, wie kennen fu lernen,« sagte das freundliche Fräulein. »Ich war

nämlich ebenfalw aufwärtw und habe eine Dame engagiert, die unferen Prinfeffinnen daw

Klavierfpielen und Engliwfprechen lernen woll.«

»Und jetzt sind Sie auf dem Heimwege?« fragte der Leutnant freudestrahlend.

»Jetft reifen wir nach Haufe!« nickte sie und lud uns endlich ein, in die Stube zu kommen.

Das Gemach war nicht sehr groß, aber behaglich warm. In dem Halbdunkel erkannte ich anfangs

nicht viel, allmählich aber gewöhnten sich meine Augen an die Dämmerung, und ich sah eine Dame,

die auf einem lang daliegenden Tannenzapfen saß. Das war sicher die Engländerin. Ich hatte mich

lange mit der englischen Sprache nicht beschäftigt, nahm aber alle meine Kraft zusammen und sagte:

»Good evening, Lady, I am very pleased to see you. I am a human being, as well as you and, like you,

engaged to Herididasufoturanien.«

»Wie spricht auch deutf!« rief Fräulein Elkaguntascha mir zu.

Die Fremde reichte mir die Hand.

»Ja, mein Herr, ich bin eine Deutsche. Sie können sich denken, daß ich mich ebenfalls aufrichtig

freue, Sie kennen zu lernen.«

»It is better to speak English!« sagte ich mit einem Seitenblick auf die beiden anderen und setzte

mich zu der Fremden, nachdem sie mich freundlich dazu eingeladen hatte. Es waren nur zwei

Sitzgelegenheiten da: zwei Tannenzapfen, die hier die Stelle von Bänken vertraten; auf dem einen

saßen bereits Herr von Stimpekrex und Fräulein Elkaguntafcha, die herididasufoturanisch sprachen.

Es war merkwürdig, wie ich mich vom ersten Augenblick an zu der Fremden hingezogen fühlte. Das

war wohl, weil wir beide Menschenkinder waren, die einer merkwürdigen Zukunft entgegengingen.

Wir saßen nahe der Tür. Das Mondlicht drang herein und ließ mich die Züge meiner Nachbarin

deutlich erkennen. Sie war sehr schön, und ihre Kleinheit fiel mir gar nicht auf, da ich alles mit

Wichtelchenaugen sah. Der Nachtwind spielte leise mit ihren schwarzen Haaren und rötete das

Gesichtchen, aus dem ein paar bange, dunkle Augen schauten.

Ich erzählte ihr, was ich an diesem Abend Wundersames erlebt hatte, und sie berichtete, daß ihr ganz

Ähnliches passiert sei. Ein Klavierlicht neben ihr hätte sich plötzlich in die kleine Dame

(Elkaguntascha) verwandelt, die ihr ein Engagement an den Hof von Herididasufoturanien als Sprachund

Klavierlehrerin angeboten hätte.

»Und denken Sie,« setzte sie verschämt hinzu, »zwei Millionen Mark soll ich für das eine Jahr

Honorar erhalten.«

Ich schwieg. Zwei Millionen – ein Lumpengeldl Ja, es ist auffallend, wie schlecht die

Klavierlehrerinnen gegenüber den Chefredakteuren besoldet werden.

»Ich nahm es an,« fuhr die Fremde fort, »nur um des Geldes willen. Wir sind arm, obwohl wir vom

Adel sind. Papa ist tot, Mama ist oft kränklich, und dann habe ich noch zwei jüngere Schwestern und

einen älteren Bruder, der Student ist und viel Geld kostet, obwohl er ganz fleißig und sparsam ist.«

Gerührt betrachtete ich das gute Kind.

»So opfern Sie sich für die Ihrigen,« sagte ich teilnehmend. »Denn es wird Ihnen wohl schwer

geworden sein, die Heimat zu verlassen.«

Sie schlug das Gesichtchen nieder.

»Schwer! Ohne Abschied fortgegangen von der Mutter. Sie hätte mich sonst nimmermehr in eine so

ungewisse, gefahrvolle Zukunft gehen lassen. Ich tat es, um ihnen allen später ein sonnigeres Leben

bereiten zu können. Sie brauchen es doch alle so nötig.«

»Ich bewundere Sie, liebes Fräulein, ich bewundere Sie!«

»Sie müssen das nicht sagen, mein Herr; ich tue doch bloß meine Pflicht, und Sie haben ja ganz

dasselbe gewagt.«

»Ja,« lachte ich, »aber aus ganz anderen Beweggründen. Weil ich ein leichtsinniger Mensch war, weil

ich mir vor lauter Schulden keinen Rat wußte, weil ich ein Abenteuer erleben und Geld verdienen

wollte für ein späteres genußreiches, ach, höchst selbstsüchtiges Leben.«

Sie sah mich freundlich an.

»Nur gute Menschen klagen sich selbst an,« sagte sie mild. »Und wenn Sie nicht, wie ich, Sehnsucht

gehabt hätten dahinunter, tiefe, heiße Sehnsucht, würden Sie trotz allem nicht hingehen.«

Ich reichte ihr die Hand und war bewegt.

»Wir wollen Freunde sein, wenn es Ihnen recht ist, wir wollen als Fremdlinge dort unten in der

geheimnisvollen Welt menschenbrüderlich zusammenhalten.«

Sie gab mir freudig ihre Rechte und nahm sie nicht bald wieder fort. Heimlich zog der Nachtwind um

unser kleines, warmes Haus, der mächtige Eichbaum regte im Schlafen müde die gewaltigen Glieder,

und draußen schien der Mond, und draußen ging die Zeit, nach der die Menschen rechnen.

Übers weiße Feld kam von fernher ein dumpfes Singen. Dort drüben in der blaudunstigen Ferne lag

wohl ein schlafendes Menschendorf, ein schlafendes Menschenkirchlein, und auf dem Turm stand

eine alte Frau, das vergangene, müde Jahr, die schlug mit zitternden Händen ihre letzte Stunde.

Zwölf Uhr. Neujahr!

»Auf eine glückliche Zukunft!«

«Ein glückliches, gesegnetes, neues Jahrl« sagte sie herzlich.

Meine Gedanken wanderten durch die Nacht zu den Freunden. Im »Adler« saßen sie jetzt, und einer

hielt eine Rede aufs neue Jahr. Ich wußte, sie würden von mir sprechen, von meiner unerwarteten,

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