besondere Anticamera. Herren in allen Lebensaltern und in sehr bunten Gewandungen, obwohl
eigentliche . Uniformen selten waren, vorherrschend war der lange, bis an die Waden reichende, von
einem Gürtel um die Hüften zusammengehaltene Staatsrock aus Sammet. Ich trug auch einen
solchen Rock, und zwar von blauer Farbe. Alle Gelehrten von Beruf in Herididasufoturanien tragen
sich blau, und ein Zeitungsredakteur ist dort unten auch ein Gelehrter von Beruf. Herr von
Stimpekrex gab mir leise einige Erklärungen:
»Passen Sie auf die Farben auf, die Farben sind wichtig: Hofleute grün, Gelehrte blau, Geistliche
braun, Juristen rot, Künstler weiß, Ärzte schwarz, Parlamentarier scheckig.«
»Warum sind die Ärzte schwarz?« fragte ich.
»Strafbestimmung aus alter Zeit! Früher mußten sie auch noch einen Totenkopf als Kokarde tragen.
Das ist aber durch einen Gnadenakt neuerdings aufgehoben. Die Kerls hatten mal bei einer Epidemie
eine falsche Diagnose gestellt, da ist eine ganze Provinz ausgestorben. Sehen Sie, da kommt schon
einer auf uns zu, der ist mein Onkel.«
Ein Schwarzer schob sich an uns heran. Ein kleines Männlein mit einem verrunzelten, verschobenen,
verschrobenen, zerstobenen Gesicht, in dem eine sanftrote Nase glänzte.
»Dr. Schnugu,« stellte er sich vor, »Waldarzt!«
»Hofarzt,« verbesserte Stimpekrex.
»Waldarzt,« wiederholte Dr. Schnugu grimmig. »Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, mein
Herr, denn ich hoffe, daß Sie das Volk über gesundheitliche Fragen aufklären werden.«
»Jawohl,« fiel Stimpekrex höhnisch ein, »er wird einen Leitartikel gegen die Ärzte schreiben.«
Dr. Schnugus Gesicht verschob und verschrob sich noch mehr, und seine Nase glimmte auf.
»Mein lieber Neffe,« sagte er, »gegen die Reserveleutnants etwas zu schreiben, ist allerdings nicht
erst nötig. Hab die Ehre! Mein Herr, ich werde Sie zu sprechen suchen, wenn dieser – dieser unreife
Mensch nicht bei Ihnen ist.«
Und er stampfte von dannen. Stimpekrex lachte ihm nach.
»Mein lieber Onkel! Wir müssen ihn besuchen, wir müssen ihn bestimmt besuchen, denn ich sage
Ihnen, er ist ein Unikum.«
Ein steinaltes Männlein trat vor mich und legte mir die Hand auf den Arm. Ganz gebückt stützte es
sich auf einen Stock mit silbernem Knauf und versuchte, die roten, blöden Äuglein zu mir
aufzuheben.
»Ähähä, ähähä!« begann das Männlein mit meckriger Stimme, »der Fremde! Der fremde junge Herr
von droben! Kenne die Menschen, – o ja, kenne sie! Da muß ich Ihnen was erzählen. Also wir waren
doch damals droben – Erz hacken, – ja, wir sieben, – und als wir heimkamen, – ich spürte es ja gleich,
daß jemand aus meinem Becherlein getrunken hatte, – ja, und die anderen schrien, daß eine Dälle in
ihrem Bettchen wäre. Ähähä, zum Lachen! Eine Dälle! In meinem Bettchen war eine sehr große Dälle.
Da lag sie selbst! O, Gott, ein schönes Mädchen! Ein liebes Mädchen! Gerade in meinem Bettchen!
Das paßte ihr. Na, also schlief ich bei den anderen und –«
Hier benutzte ich ein Gedränge, um von dem Alten, den ich für blödsinnig hielt, loszukommen. Herr
von Stimpekrex lachte.
»Also sie kneifen auch schon aus? Schon beim ersten Male? Und ich hab' die Geschichte schon
hundertmal anhören müssen, wirklich, schon hundertmal.«
»Erbarmen Sie sich,« sagte ich, »und erklären Sie mir wenigstens, was eine Dälle ist.«
»Eine Dälle ist eine Grube die man in ein Federbett gedrückt hat. Und der Alte ist das siebente
Zwerglein, in dessen Bettchen vor uralter Zeit das Schneewittchen geschlafen hat.«
»Aaaah! Sie hat aus seinem Becherlein getrunken und in seinem Bettchen geschlafen?«
»So ist es! Aus seinem ganzen langen Leben hat er sich nur dieses eine Abenteuer gemerkt, alles
andere hat er vergessen. Aber vom Schneewittchen erzählt er jedem zehnmal, hundertmal, kurz,
solange, bis der andere ausreißt.«
»Er ist wohl sehr alt?«
»O, Genaues weiß man nicht; aber sein Milliönchen hat er auf dem Rücken.«
»Was heißt das: sein Milliönchen?«
»Nun, eine Million Jahre! So alt ist er mindestens."
»Doch nicht eine Million Erdenjahre?«
»Sicher! Allerdings nach dem Julianischen Kalender gerechnet.«
Ich bekam einen sanften Ohnmachtsanfall. Mein Freund sah mich ernst an.
»Ja, wir sind nicht wie die Menschen, die schnell wachsen und aufblühen, aber noch schneller welken
als die Bäume des Waldes, wir entwickeln uns langsam, aber wir dauern lange. Auch ich werde am
nächsten l7. August schon 2467 und bin doch noch ein blutjunger Mann.«
Wir standen in einer Fensternische. Ich sehnte mich nach dem Tuch der Hexe. Ein paar Fliegen
spielten hinter uns am grünen Fensterglas.
»Denke dir,« summte die eine, »Schnurr ist gestorben.«
»Laß ihn gestorben sein,« brummte die andere, »er war ja schon 5½ Tag alt.«
»Haben Sie gehört?« fragte Stimpekrex lächelnd. »Gegen diese Fliegen haben Sie Ihr Milliönchen auf
dem Rücken. Und es sind doch auch Lebewesen.«
Ein Gescheckter trat an mich heran, ein großer, kräftiger Mann mit einem stattlichen Vollbart. ,
»Gestatten, daß ich mich vorstelle: Dr.Nein! M.d.R.«
»Dr. Barragu, Chefredakteur!«
»Geben Sie mir die Hand, Verehrtester! Ich freue mich, daß Sie da sind! Das hat Brust gekostet! Seit
279 Jahren habe ich in jeder Session des Reichsrats die Einführung einer Zeitung beantragt und bin
278 mal mit meinem Antrag durchgefallen. Das letztemal ist's geglückt. Hat aber Brust gekostet,
Verehrtester! Ich allein habe einmal fünf Tage und sechs Nächte lang ohne Unterbrechung geredet.«
Ein Schauer überrieselte mich. Dr. Rein rieb sich die Hände.
»Es ist nämlich bei uns die famose Bestimmung getroffen, daß niemand den Sitzungssaal verlassen
darf, solange die betreffende Sitzung dauert. Na, Sie können sich denken, was bei meiner Dauerrede
passiert ist. Die Hälfte der Abgeordneten schlief, die andere Hälfte war ohnmächtig, der Präsident lag
im Starrkrampf, und sämtliche Stenographen waren scheintot. Ich aber redete, redete ohne Ende.
Zuletzt war nur noch ein einziger außer mir bei Besinnung, leider gerade der Finanzminister, mein
wütendster Gegner. Der saß da, riß die Augen auf, aß Kaffeebohnen und stach sich von Zeit zu Zeit
mit einer Nadel in die rückwärtigen Oberschenkel. Es war ein grausiger Kampf: ich als Redner, er als
Zuhörer. Aber ich sage Ihnen, das Anstrengendere ist auf die Dauer doch das Zuhören. Nach fünf
Tagen und sechs Nächten fiel auch dieser letzte mit Gedröhne bewußtlos unter den Tisch, und ich
hatte gesiegt. Da sich niemand mehr zum Wort meldete, beantragte ich sofortige Abstimmung,
weckte meine Parteigenossen, die um die Rednertribüne verstreut lagen, dazu noch so viel andere,
als wir brauchen konnten; wir brachten mühsam den Vize‐Präsidenten auf die Beine und stimmten
ab. Mein Antrag wurde angenommen, glänzend angenommen. Die Einführung der Zeitung war
beschlossen! Hat aber Brust gekostet, Verehrtester!«
»Es muß eine anstrengende Sitzung gewesen sein,« sagte ich teilnahmsvoll.
»O, ich sage Ihnen! Hinterher hat sich herausgestellt, daß acht Mann akut verrückt geworden sind,
elf haben das Nervenfieber bekommen, und der Präsident ist heute noch nicht aufgewacht. Der arme
Mann leidet an chronischer Schlafsucht. Mich selber hat's auch arg mitgenommen; ich habe gleich
am selben Tage noch eine lebensgefährliche Brechruhr bekommen. Der Finanzminister, mein
Zuhörer, übrigens auch! Wir haben dann zusammen eine gemeinschaftliche Erholungsreise gemacht
und sind ja jetzt beide gottlob wiederhergestellt.«
»Lieber Freund, Se. Hoheit Prinz Hamrigula wünscht Sie kennen zu lernen.«
Stimpekrex war es, der also an mich herantrat. Dr. Neins Gesicht färbte sich bräunlich‐grün.
»Herr, Herr,« rief er, »gehen Sie nicht, lassen Sie's drauf ankommen, gehen Sie nicht! Dieser Prinz
Hamrigula ist der gemeinste Schuft, der schauerlichste Volksverderber, der elendeste Kronräuber,
der jemals unter der Erde gelebt hat. Er will Sie ausnützen, kapern, er weiß, daß die Presse –«
Stimpekrex hatte mich bereits fortgezogen. In einer Fensternische stand Prinz Hamrigula. Er war
jung, konnte nach meiner jetzigen Schätzung kaum 2000 Jahre alt sein, hatte aber jene kalten,
berechnenden Augen, die bei Jünglingen immer fatal wirken.
Ein Lächeln stahl sich um seine große Nase, während er mir in jener herablassenden Weise gewisser
»vornehmer« leute entgegentrat, die mich immer mehr als Nichtswürdigkeit denn als
Liebenswürdigkeit berührt hat.
Er schielte, war überhaupt häßlich und machte einen unangenehmen Eindruck auf mich. Einen
Märchenprinzen hatte ich mir anders vorgestellt. Ich konnte ein Unbehagen nicht unterdrücken,
obwohl ich ausgesprochen häßlichen Personen gegenüber immer sehr vorsichtig mit mir selbst bin.
Mein Schönheitssinn hat mir bei der Beurteilung von Leuten so oft die bösesten Streiche gespielt,
daß ich sehr mißtrauisch gegen mich selber bin. Ich gab mir alle Mühe, sympathische Züge an dem
häßlichen Prinzen zu entdecken, konstatierte, daß er einen festen, energischen Mund, eine
wohlgebildete Stirn und lebhafte Augen habe, daß er offenbar ein kluger, willensstarker Mann sei
und konnte doch meines Mißbehagens nicht Herr werden.
Der Prinz erzählte mir in auffallend freundlichem Tone, daß er ein sehr naher Verwandter des
regierenden Königs sei, aber viel zu leiden habe, da er von anderen Agnaten stark befehdet werde.
Ich werde auch eine recht schwierige Stellung haben, könne mich aber ganz auf ihn verlassen, da ich
ihm sehr sympathisch sei und er wohl sagen dürfe, daß er viel Einfluß habe.
»Ja, sehen Sie, und gerade in meinem Bettchen! O, ein reizendes Kind! Und die anderen schrien, daß
sie eine Dälle in ihrem Bettchen hätten – ähähähä, eine Dälle! Zum Lachen!«
Das Zwerglein!
Mit einer Verwünschung ergriff Prinz Hamrigula vor dem redseligen Alten die Flucht. Ich aber war
dem rettenden Greise dankbar und ließ mir geduldig die Geschichte von dem vergifteten Kamm
auseinandersetzen.
Indes erregte eine neue Persönlichkeit meine Aufmerksamkeit. Ein Mann stand in meiner Nähe, auf
dessen fabelhaft dünnen und gebogenen Beinchen ein dicker, ballonähnlicher Leib ängstlich hin‐ und
herjonglierte. Die ganze Erscheinung hatte etwas peinlich Unästhetisches. Dazu dienerte das
schnurrige Männlein, so oft ich es nur mit einem Blick streifte, und bei jeder solchen Verneigung
ergriff mich eine Angst, die Bauchkugel werde von ihrem unsicheren Gestell herabfallen.
»Alter Herr, können Sie mir nicht sagen, wer dieses Männlein ist, das immerfort dienert?«
Der Jahresmillionär hob die blöden Augen und dachte einige Augenblicke nach; dann verfiel er
wieder in sein blödes Lächeln und sagte:
»Ja, freilich, den Händler mit dem vergifteten Kamm hatte natürlich auch die Königin geschickt.«
Die Geduld ging mir aus; mit ein paar Worten des Abschieds wollte ich den Greis verlassen, da schoß
plötzlich das dienernde Männlein auf mich zu, machte eine auffällig tiefe Verneigung vor mir und
sagte:
»Euer Gnaden wollen huldvollst meine große Aufdringlichkeit verzeihen, wenn ich –«
»Mein Herr, ich glaube bestimmt, daß Sie mich verkennen,« unterbrach ich den überhöflichen Mann;
»ich bin nichts weiter als der Chefredakteur der neu zu gründenden Zeitung.«
»Und ich, Ew. Gnaden, ich bin der Theaterdirektor Krimskramski. Werden Ew. Gnaden die Güte
haben, die Theaterreferate selbst zu schreiben oder –«
»Erlauben Sie!«
Ein dicker, aufgeblasener Mann schob das artige Direktorlein brutal beiseite und wandte sich
hochmütig an mich.
»Hab gehört, Sie sind der neue Zeitungsmensch!«
»Chefredakteur Professor Doktor Barragu,« sagte ich mit scharfer Betonung. Der andere nickte und
wickelte die schwere Uhrkette um seinen plebejisch fetten Daumen.
»Jawohl, wollte mal fragen, wieviel Skonto Sie für Reklamen bei Barzahlung geben.«
»Zunächst bitte: wer sind Sie?«
Ich sah, daß ihn die Frage in dieser Form ärgerte. Aber er beherrschte sich, warf sich in die Brust,
spielte an einer Brillantnadel und sagte in einem Tonfall, in dem sich bequem eine Gottheit hätte
offenbaren können:
»Kommerzienrat Knallkulurando, Zement und künstliche Düngung!«
»Mein Herr, es tut mir leid, aber ich habe für Mist in meiner Zeitung vorläufig absolut keinen Raum.«
Ein Gelächter ertönte, und ich sah, daß ein Heer von Gescheckten auf mich eindrang. Sie hatten mich
umzingelt, und es drohte mir eine regelrechte Belagerung.
In diesem Augenblick erscholl eine Trompetenfanfare, Kanonendonner dröhnte darein, und
augenblicklich ordnete sich die ganze Gesellschaft zu einem langen Zuge. Ver König war in den
Thronsaal getreten.
Wenn ich einen Hofbericht über die Gratulationscour bei Herididasufoturu LXXV. liefern sollte, würde
er mangelhaft ausfallen. So manch einen Herzog, Minister, Würdenträger habe ich nicht »bemerkt«,
obschon er laut Rangliste unbedingt zu »bemerken« war; so manch eine Schönheit hat mich nicht
»geblendet«, obwohl das Auge eines Hofberichterstatters ganz zweifellos die Pflicht hat, sich pro Fest
wenigstens einigemal »blenden« zu lassen; so manch eine traumhafte Toilette hat weder meinen
»Neid noch meine Bewunderung« erregt – woraus ich den Schluß ziehe, daß ich für solche Dinge ein
verlorener Mann bin. Aber es gab unendlich viel Schönes.
Der König – der König war schön! Ein alter, feingliederiger Mann mit den milden Augen vornehmer
Greise, an deren abendlich sanfter Wärme zwar keine Früchte mehr reifen, aber auch keine Wetter
sich mehr entzünden, die mit ihrer ruhigen herbstlichen Strahlenschönheit die Werke eines langen
Fruchttages beleuchten und verklären.
Unter der goldenen Königskrone trug er die silberne Lockenkrone eines Mannes, der in Ehren alt
wurde, und diese weißseidenen Haare bildeten eine vollendet schöne Unterlage für das
schimmernde Machtmetall.
Zur Rechten des Königs saß eine wunderliebliche Jungfrau: die Prinzessin Goldina! Blondlockig,
blauäugig, schön, wie nur je eine Märchenprinzessin schön gewesen ist. Sie war des Königs Enkelkind,
das Ebenbild seiner einzigen, früh dahingerafften Tochter.
Neben ihr stand, hochaufgerichtet in männlicher Jugendschönheit, Juvento, der Erbprinz aus dem
Nachbarlande. Sein Vater war der Bruder des Königs. Früher waren beide Länder vereinigt gewesen.
Erst unter die beiden Brüder waren sie geteilt worden. Nun war Juvento an den Hof seines
königlichen Oheims gekommen und sollte ein ganzes Jahr in Marilkaporta bleiben. Ich ahnte, was die
Sehnsucht der Völker und wohl auch der Höfe war: eine Verbindung dieser beiden schönen, jungen
Leute, und damit wieder die Verbindung der getrennten Reiche.
Links vom König stand Hamrigula. Er hielt meist den Blick ergebungsvoll auf den Herrscher gerichtet;
zuweilen aber hingen seine lodernden, dunkeln Augen auf einen Augenblick an der lieblichen Goldina
oder musterten kalt und forschend die Gestalt des Erbprinzen.
Daran mußte ich denken, als wir heimgingen, so lebhaft denken, daß ich selbst der wenigen, gütigen
Worte vergaß, die der greise König an mich gerichtet hatte.
Unsere Redaktion
Ein Ministerrat, dem der König selbst präsidierte, und zu dem ich zugezogen wurde, beschäftigte sich
mit der Feststellung der Grundlinien des neuen Zeitungsunternehmens. So ernst wurde die Sache
genommen!
Bei uns zu Hause geht ja so etwas leichter. Wenn sich in Deutschland ein »frischaufstrebender«
Verleger, der 2000 Mark Kapital besitzt, und ein Literat, der über einen entsprechenden geistigen
Reichtum verfügt, begegnen, dann gibt es vier Wochen später eine neue Zeitung.
In dem Ministerrat gingen die Meinungen sehr auseinander. Der Kanzler meinte, wenn jedes
Vierteljahr eine Nummer erschiene, so wäre das völlig genügend. Die Leute müßten sich erst an die
Neuerung gewöhnen, und das Zeitunglesen sei eine der zeitraubendsten und unnützesten
Beschäftigungen. Die Redaktion solle gemeinsam vom Staatsministerum mit einer Anzahl vom König
zu ernennenden Parlamentariern, Gelehrten und anderen Männern der Öffentlichkeit geführt
werden; ich solle eine beratende Stimme haben. Abonnent dürfe jeder werden, der eine
Staatsprüfung bestanden, das 750. Lebensjahr zurückgelegt habe und mindestens in der zweiten
Steuerstufe sei.
Daraufhin um meine Meinung befragt, gab ich meine Dimission.
Der König nahm die Dimission nicht an, schloß vielmehr die Sitzung und gab mir auf, in einem
schriftlichen Gutachten meine Vorschläge niederzulegen, die er, wenn irgend möglich, genehmigen
werde.
Daraufhin gab das Kabinett seine Dimission, die ebenfalls nicht angenommen wurde.
Meine Vorschläge waren dann in der Hauptsache folgende:
Die Redaktion besteht aus Dr. Barragu, als Chef, Herrn von Stimpekrex, als Vertreter der
Regierungsparteien, Dr. Nein, als Vertreter der Opposition, und einem noch zu findenden
Lokalredakteur.
Die Zeitung erscheint wöchentlich einmal in einer von der Redaktion zu bestimmenden Stärke.
Eine Zensur existiert nicht.
Abonnent kann jeder werden, der bezahlen kann.
Das ganze Unternehmen geht auf Rechnung der Staatskasse.
Der König setzte an Stelle des wöchentlichen Erscheinens das einmonatliche; alle anderen Punkte
genehmigte er. Darauf gab das Kabinett abermals seine Dimission, die wiederum abgelehnt wurde.
Ich versprach den Herren, die zweimalige für sie höchst ehrenvolle Ablehnung ihrer Dimission bald in
der ersten Nummer gebührend hervorzuheben, worauf ich von ihnen zu einem diplomatischen
Abendbrot eingeladen wurde, bei dem wir uns alle königlich amüsierten.
Druckereien gab es mehrere in Marilkaporta. Auch Bibliotheken waren da. Die Herididasufoturianer
folgen dem smarten amerikanischen Brauche, alles von fremden Völkern nachzudrucken, was sie
durch ihren Beifall auszeichnen, ohne indes erst dem Autor oder Verleger mit irgendwelchen
Verhandlungen oder gar Honorarangeboten beschwerlich zu fallen. So fand ich in Marilkaporta die
interessantesten Bücher der Weltliteratur, angefangen von der Iliade der Griechen und den Veden
der Inder bis zu den »Schluchten des Balkan« von Karl May. Auch die eigene umfangreiche Literatur
blieb mir nicht lange verschlossen, da ich die Landessprache bald beherrschte.
Die Sprachenfrage interessierte mich natürlich sehr, zumal ich mich nach meiner Schätzung unter
österreichischem Staatsgebiet befinden mußte. Ich hörte, daß außer der Landessprache in den
Schulen das Deutsche, Polnische und Czechische obligatorisch sei, während das Wendische leider nur
als fakultatives Fach auftrat.
Noch vor der Herausgabe der ersten Nummer erhielt ich etliche hundert Briefe, in denen (meist in
Versen) die Erwartung ausgesprochen wurde, daß ich als guter Sohn meines Vaterlandes die Zeitung
deutsch drucken würde; gegen tausend polnisch gesinnte Herididasufoturianer drohten mir mit dem
Boykott, falls ich mich nicht der polnischen Sprache bedienen sollte, und ein czechisches Komitee
sandte mir einfach per Post einen Knüppel ins Haus.
Das war schlimm für einen Mann, der für Rassen‐ und Sprachenkämpfe nie etwas anderes übrig hatte
als schmerzliches Bedauern. Eine fremde Sprache hat mir nie eine Abneigung eingeflößt, höchstens
vorübergehend dann, wenn ich mich mit ihren unregelmäßigen Verben abquälte.
Aber das Märchenland ist glücklich. Es hat eine Sprache, die alle verstehen, in der alle Substantiva
nach dem Muster des Wortes »Bruder« dekliniert werden und in der das Eigenschaftswort »ehrlich«
das einzige ist, das sich nicht steigern läßt. Diese Sprache ist so kinderleicht und einfach, daß man sie
in wenigen Tagen lernen kann. Mancher begreift sie in einer Stunde; ja, ich glaube, die Begnadetsten
werden damit geboren.
Kurz und gut, ich druckte die Zeitung herididasufoturanisch, und ich habe damit bei Deutschen,
Polen, Czechen und Wenden die besten Erfahrungen gemacht. –
Bald in den ersten Tagen fand ich den »Lokalredakteur«. Schnaff hieß der Edle. Dr. Nein hatte ihn mir
empfohlen. Herr Schnaff reichte mir mit seiner Bewerbung einen »Lebenslauf« von dem Umfang
eines zweibändigen Romans ein, aus dem ich hier einige dürftige Angaben mache.
Herr Schnaff hatte in seiner Jugend nacheinander an sämtlichen vier Fakultäten studiert, hatte darauf
eine Stelle als Straßenkehrer angenommen, war dann als Zirkusathlet aufgetreten und darauf mit
einer gräflichen Familie als Reisebegleiter ins Ausland gegangen. Wegen einer gänzlich unglücklichen
Liebe zu einer Komtesse hatte er allein nach der Heimat zurückkehren müssen und daselbst einen
ehrenvollen Ruf an den königlichen Steinbruch von Marilkaporta erhalten, wo er sich in seinen
Mußestunden zum Wunderdoktor ausbildete, wegen einiger »Kunstfehler« wanderte er ins
Gefängnis, wo er sehr in sich gegangen sein muß, denn er etablierte sich nach seiner Entlassung als
Wanderprediger. Darauf spekulierte er in Bergkristallen, was ihm nichts einbrachte, war dann
siebzehn Jahre lang Röhrenputzer am Gesundheitssee und darauf Hauslehrer bei einem Bankier. Als
ihm die Pädagogik nicht mehr behagte, wandte er sich wieder den freien Künsten zu und erzielte als
Feuerfresser und Degenschlucker bedeutende Erfolge. Einer Magenverstimmung wegen gab er auch
diese Tätigkeit wieder auf und sang nun sechs Jahre lang ersten Tenor bei einer Begräbnis‐
Genossenschaftskapelle. Nach dem sechsten Jahre wurde er melancholisch. Er erfand nun eine
Bartpomade, von der er sich redlich zu ernähren beabsichtigte. Nach kurzer Zeit fand er indes den
Verkehr mit seinen Kunden, die meist sehr energisch ihr Geld von ihm zurückverlangten, zu
aufregend und rettete sich mit Verlust der linken Ohrmuschel und der rechten Backenzähne auf ein
kleines Theater, wo er tragische Rollen spielte. Da sich aber das Publikum als für seine Kunst unreif
erwies, trat er bei einem Schornsteinfeger in Dienst, fiel bereits am zweiten Tage vom Dache, war
dann lange Zeit Ehrenbürger eines Hospitals und darauf Staatsrentner. Zu seinem Bedauern ging er
auch dieser Würden wieder verlustig, da er genaß, und nachdem er einige Zeit als Hilfsheizer an
einem Vulkan fungiert hatte, glaubte er seinen wahren Beruf erkannt zu haben und gründete in
Marilkaporta ein Auskunftsbureau, das er »die Lupe« nannte und das über Vermögen, Befähigung
und Ruf der Herididasufoturianer, namentlich im negativen Sinne, die detailliertesten Auskünfte
erteilte,
»Sie werden diesem Manne eine gewisse Vielseitigkeit nicht absprechen können« sagte Dr. Nein.
Da ich ihm recht geben mußte, engagierte ich Herrn Schnaff.
Unserer nunmehr vollzähligen Redaktion wurde vom Staate ein prächtiger Redaktionspalast zur
Verfügung gestellt. Ich allein hatte darin sechs Zimmer zu meinem Gebrauch, außerdem eine
Wandelhalle für die lebhafte und eine Wandelhalle für die sentimentale Anregung; die »lebhafte«
Halle mit den kostbarsten, farbenfrohesten Gemälden, mit reizenden lauschigen Winkeln, mit
Tischlein deck dich und vielen anderen Genüssen, mit denen ich meinen irdischen Kollegen nicht
unnötig den Mund wässerig machen will, die »melancholische« eine fensterlose Halle mit
rotleuchtenden Pechfackeln, mit einem Sargduft von Firnis und Oleanderbäumen und einem
künstlich erzeugten, beständig über den Boden hinstreichenden, kalten Grabeshauch.
Unser Beratungssaal war so groß, daß der Landtag eines Kleinstaates bequem darin Platz gehabt
hätte, samt allem Publikum und allen Presseleuten. Für uns vier Männlein war der Saal zu groß und
viel zu prächtig, und es geschah meist, wenn wir eine Sitzung darin abhielten, daß uns dann allen
vieren rein gar nichts einfiel. Ich glaube überhaupt, daß die großen, prächtigen Beratungssäle oft eine
gedankenfeindliche Tendenz haben. Die Musen haben einen Hang zu proletarischem Liebesleben; sie
gebären ihre kräftigsten Kindlein gern in kalten Dachkammern.
Drei Tage nacheinander hielten wir Sitzungen ab, auf deren Tagesordnung als einziger Punkt die
Beratung des Namens stand, den die neue Zeitung führen sollte, vor dem Redaktionspalast stand
immer ein militärischer Doppelposten, der die Bajonette aufpflanzte, »wenn die Herren Beratung
hatten«. Es ist peinlich, in so großartig gesicherter Arbeitsruhe nichts zustande zu bringen. Gingen
wir nach der Sitzung, wenn wir absolut keinen passenden Namen gefunden hatten, nach Hause,
präsentierte die Wache, und ließ uns das Volk, das sich vor dem Palaste gesammelt hatte, in
achtungsvollem Schweigen passieren, dann war mir immer ganz jämmerlich zumute.
So rasch als möglich, bog ich in eine stille Nebengasse ein, jedesmal zum großen Verdruß Herrn
Schnaffs, der sich durch die militärischen und zivilen Ehrenbezeugungen sehr gehoben fühlte.
Am zweiten Beratungstage stießen wir auf dieser Flucht auf eine seltsame Behausung. Mitten in der
Stadtmauer lag ein großer Felsenwürfel, in den eine Tür führte. Der graue Stein war von Efeu
übersponnen, rechts und links standen Pinien, oben auf dem Würfel sprang ein Springbrunnen. Über
der Tür war eine kleine, durchgehende Öffnung, in der saß eine gelbäugige Eule.
»Was ist das?« fragte ich. »Ist das ein Haus?«
»Ich weiß nicht genau,« sagte Herr von Stimpekrex und wurde rot. »Aber es ist schon möglich.«
»Natürlich, natürlich wird es ein Haus sein,« meinte Dr. Nein, wobei mir seine Aufregung auffiel.
»Ach,« machte Herr Schnaff möglichst unbefangen, »ich hab mal gehört, es sei so eine Art
Erfrischungshaus. Es heißt »die kühle Eule«. Wissen Sie, weil es kühl darin ist, und weil eine Eule über
der Tür ist.«
»Gehen wir hinein,« entschied ich. Die Herren zögerten, aber ich klopfte an die Tür, die bald von
einem häßlichen, verwachsenen Zwerge geöffnet wurde.
Wir kamen in einen Raum, in dem einige Tische und Bänke waren, etwa nach dem Muster unserer
Dorfwirtshäuser.
Der Zwerg, der ein sehr durchtriebenes Gesicht hatte, begrüßte meine drei Gefährten mit Namen,
was diesen ersichtlich unangenehm war, und sagte dann:
»Weiß schon, was die Herren wollen, weiß schon! Grüne Limonade!«
Und er öffnete eine Falltür im Fußboden und huschte hinab.
Ein peinliches Schweigen griff Platz. Am aufgeregtesten war Stimpekrex. Er hüstelte und sagte:
»Ach ja, ich erinnere mich jetzt, daß ich schon einmal hier war. Daher kennt mich der Kerl. Aber es ist
lange her.«
»Ja,« sagte Schnaff, »ja, ich erinnere mich jetzt für meinen Teil auch.«
»Ach was,« schnauzte Dr. Nein, »natürlich war ich schon hier; ich wollte es bloß nicht jedem auf die
Nase binden.«
Pause. Um etwas zu sagen, fragte ich:
»Wie heißt denn das schnurrige Männlein?«
»Lillebolle,« knurrte Dr. Nein. »Ein durchtriebener Schuft! Und ein verrückter Kerl! Oben auf seinem
Dache hat er einen Teich mit einem Springbrunnen angelegt.«
Da erschien schon der Wirt und stellte uns je einen Humpen auf den Tisch.
»Grüne Limonade,« grinste er und verschwand wieder in seiner Höhle.
»Also auf Ihr Wohl, meine Herrenl«
Keiner tat mir Bescheid. Alle sahen mich gespannt und ängstlich an, während ich trank... trank... mit
Wonne trank und bei mir im stillen konstatierte, daß noch nie vorher ein kostbarerer Tropfen
»Rüdesheimer« über meine Lippen geflossen sei.
»Wie – wie finden Sie diese Limonade?« stammelte Herr von Stimpekrex.
»Ja, wie schmeckt Ihnen diese »grüne« Limonade?« fragte eifrigst Herr Schnaff.
»Meine Herren,« sagte ich, »ich beteure Ihnen feierlich, daß mir in meinem ganzen Leben noch keine
Limonade so gut geschmeckt hat, wie diese »grüne«.«
Da wurden sie fröhlich und tranken auch. Nur Herr von Stimpekrex blieb ein bißchen ängstlich und
meinte nach einiger Zeit:
»Es würde sich immerhin empfehlen, die Sache als Redaktionsgeheimnis zu betrachten.«
»Meine Herren,« sagte ich, »es ist selbstverständlich, daß wir uns hier in geheimer, ja höchst
geheimer Sitzung befinden, aus der nicht ein Jota verlauten darf.«
Darauf mußte Lillebolle neue Humpen bringen.
***
Auch am dritten Sitzungstage konnten wir uns über den Namen der neuen Zeitung nicht einigen und
gingen daher in gedrückter Stimmung an der salutierenden Wache und der angesammelten
Volksmenge vorbei, die nachträglich an unser tiefsinniges Aussehen allerlei Kombinationen geknüpft
hat.
Ganz zufällig kamen wir wieder an der »kühlen Eule« vorbei. Es schaute zwar keiner mit einem Blicke
hinüber, aber die Schritte aller nahmen ein gemäßigteres Tempo an, als wir uns dem Felsenhäuschen
näherten. Da blieb ich stehen und sagte:
»Meine Herren, ich glaube, die große Pracht unseres Beratungssaales verwirrt unseren Geist, und die
immerhin beträchtliche Wärme lähmt unsere Phantasie. Dort in der »kühlen Eule« finden wir das,
was wir brauchen: Frische und wohltuende Einfachheit. Wenn Sie noch nicht zu ermüdet sind,
schlage ich Ihnen vor, unsere abgebrochene Sitzung in der »kühlen Eule« fortzusetzen.«
Ich hatte die Genugtuung, daß sich alle Herren meiner Redaktion opferwillig mit dieser Fortsetzung
unserer Beratungen einverstanden erklärten.
Lillebolle, der unschöne, aber allzeit dienstbereite Zwerg erschien und stellte mächtige Humpen
grüner Limonade vor uns hin. Nachdem wir uns alle etwas betrunken hatten, begannen wir die
Beratung, Lillebolle zog sich allemal schleunigst nach seiner Höhle zurück, störte also nicht.
»Meine Herren,« sagte Dr. Nein, »ein passender Name für unsere Zeitung wird uns wahrscheinlich in
dem nächsten Säkulum nicht einfallen, also schlage ich vor, wir heißen die Zeitung: »Die Zeitung«.
Wir begriffen diese Worte nicht gleich. Schnaff kam zuerst hinter ihren Sinn.
»Ach, die Zeitung soll »Die Zeitung« heißen?«
»Jawohl!« sagte Dr. Nein. »Denn erstens, es kann niemand behaupten, daß der Name »Zeitung« für
eine Zeitung nicht passe: zweitens, es ist ein leichtfaßlicher und leichtbehaltbarer Name; drittens, er
enthält kein bestimmtes Programm, was immer unbequem und unkünstlerisch ist; viertens, er ist
diesem ersten aller derartigen Unternehmen wie auf den Leib geschrieben, da es die Urzeitung, die
Zeitung aller Zeitungen sein wird; fünftens, etwas Besseres wissen wir nicht.«
Die Wucht dieser Gründe, namentlich aber des letzten, bestimmte uns, Dr. Neins Vorschlag
einstimmig anzunehmen, worauf wir unsere Humpen leerten, um mit einer neuen Blume »Die
Zeitung« leben zu lassen. Darauf traten wir gleich in die Beratung der ersten Nummer ein. Ich als
Chef der Redaktion hatte vor, zuerst das Wort zu ergreifen, sah aber bald ein, daß das durchaus nicht
in der Absicht der übrigen Redakteure lag. Herr Schnaff begann zuerst zu reden.
Er meinte, die erste Nummer müsse phänomenal gestaltet werden. Sie müsse wertvoller sein, als alle
elf anderen Nummern zusammen genommen. Denn von der ersten Nummer hänge der
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