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Die Zauberfabrik

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KAPITEL SECHS

Die Welt war still und leise. Sonnenlicht wärmte Olivers Augenlider. Langsam öffnete er sie.

Durch den Schlitz im Vorhang fiel ein goldener Lichtstrahl. Es dauerte einen Moment, bis Oliver begriff, wo er sich befand. Er setzte sich auf und sah sich blinzelnd in dem schönen Zimmer in Armandos Fabrik um. Es war also kein Traum. Er war wirklich hier!

Es musste der nächste Morgen sein. Sein kleines Nickerchen hatte sich als Tiefschlaf entpuppt. Er war nicht überrascht. Er lag schließlich im wärmsten, bequemsten Bett der Welt. Für Oliver fühlte sich Armandos Fabrik jetzt schon mehr nach Zuhause an, als all die Häuser, in denen er bisher gewohnt hatte. Zufrieden kuschelte er sich noch einmal unter die Decke. Er empfand eine tiefe Verbundenheit mit diesem Ort und er wollte nie wo anders sein.

Aber was ist mit meiner Familie? dachte er beklommen. Sie mussten sein Fehlen inzwischen bemerkt haben. Er war eine ganze Nacht lang nicht nach Hause gekommen. Vielleicht dachten sie, dass der Sturm ihn weggespült hatte. Wahrscheinlich machten sie sich Sorgen.

Einerseits tat ihm das leid, aber ein anderer Gedanke machte sich in seinem Kopf breit. Wenn sie wirklich dachten, dass der Sturm ihn weggespült hatte, dann musste er nie wieder zurückgehen…

Oliver überlegte hin und her. Schließlich entschied er, dass er zuerst mit Armando sprechen sollte. Er würde bestimmt Rat wissen.

Bestens erholt sprang er aus dem Bett und eilte aus dem Zimmer. Er musste Armando finden! Schnell huschte er die Gänge des riesigen Kaninchenbaus entlang und fand bald zurück zur Küche, wo Horatio in der Ecke schlummerte. Von dort aus irrte er weiter. Dieses Gebäude war ein wahres Labyrinth. Türen, an die er sich vom Abend zuvor genau zu erinnern glaubte, waren auf einmal verschwunden.

Aber irgendwann hatte er es geschafft. Er war wieder in der großen Fabrikhalle. Im Tageslicht erschien sie ihm noch großartiger. Er konnte bis zur Decke sehen, die ihm so hoch vorkam wie die einer Kathedrale. Dort, an den schweren Holzbalken, sah er einige mechanische Vögel sitzen und zwischen den Dachbalken entlangflattern. Sie bewegten sich so natürlich, dass sie von echten Vögeln kaum zu unterscheiden waren, abgesehen davon dass ihre Flügel aus Messing waren und rot schimmerten. Dort oben sah er auch Fledermäuse, die kopfüber von den Latten hingen und ihre metallenen Flügel um die Brust gelegt hatten.

„Wie um alles in der Welt hat er das geschafft?“, flüsterte Oliver, während er fassungslos die fliegenden Maschinen über seinem Kopf beobachtete.

„Ah, Oliver! Guten Morgen!“, ertönte Armandos Stimme.

Oliver wandte den Blick von den Vögeln ab. Armando stand neben der Maschine, an der er auch am Abend zuvor gearbeitet hatte.

Sofort verließ Oliver der Mut. Er konnte ihn nicht einfach fragen, ob er in der Fabrik bleiben durfte.

„Hast du gut geschlafen?“, fragte der alte Mann.

„Ja, das habe ich“, sagte Oliver. „Um genau zu sein habe ich besser geschlafen als je zuvor. Dabei wollte ich mich doch nur ganz kurz hinlegen. Warum haben Sie mich nicht geweckt, als der Sturm vorbei war?“

Armando lachte leise. „Das habe ich versucht, mein Junge, aber du hast tief und fest geschlafen. Ich glaube, das hast du gebraucht.“ Er lächelte herzlich. „Aber jetzt will ich dir etwas über meine Fabrik und meine Erfindungen erzählen. Das habe ich dir doch versprochen. Möchtest du davor noch etwas essen? Oder eine heiße Dusche nehmen? Vielleicht frische Kleidung?“

Erst jetzt merkte Oliver, dass er immer noch den Pyjama trug.

Er wägte das Angebot ab. Frühstück, eine heiße Dusche und frische Kleidung bekam er zu Hause nicht jeden Tag. Es konnte doch nicht schaden, noch ein wenig zu bleiben. Er wollte sich auf jeden Fall anhören, was Armando zu erzählen hatte.

„Wenn du möchtest, kannst du auch deine Familie anrufen, damit sich deine Eltern keine Sorgen machen“, fügte der alte Erfinder hinzu, dem Olivers Zögern nicht entgangen war.

Doch das war das Letzte, was Oliver jetzt wollte. Rasch schüttelte er den Kopf. „Nicht nötig. Ich würde lieber zuerst die Fabrik besichtigen.“

Der alte Mann lehnte sich nach vorne und legte seine schwere Hand auf Olivers Schulter. Er sah ihn aus matten Augen an, doch Oliver erkannte die Warmherzigkeit darin. Er vertraute ihm. Zum wiederholten Male bekam Oliver das Gefühl, dass Armando mehr wusste, als er zu verstehen gab. Er wies mit einer ausladenden Handbewegung auf den Hallenboden.

„Hier entlang, bitte“, sagte er.

Sofort vertrieb die Neugier alle Gedanken an seine Familie und Oliver schlenderte langsam neben Armando her.

„Als ich meine ersten eigenen Geräte erfunden habe, war ich etwa so alt wie du, Oliver“, begann er. „Aber nichts wollte funktionieren“, lachte er. „Eine Steinschleuder habe ich hinbekommen, aber das war vorerst alles, was ich an mechanischem Geschick vorzeigen konnte.“

Oliver dachte an die Steinschleuder, mit der er auf Chris geschossen hatte. Was für ein Zufall, dass es ihm genauso ging.

Armando redete weiter. „In der Schule habe ich immer geglänzt, aber die anderen Kinder haben es mir nicht gerade leicht gemacht.“

„Mir machen es die anderen auch nicht leicht“, sagte Oliver leise.

Sie kamen zu einem Zimmer, dessen Tür geschlossen war. Armando öffnete sie und Oliver stockte der Atem. Es war eine Bibliothek, deren Regale bis ganz oben an die hohe Decke ragten. Eine hölzerne Wendeltreppe führte auf ein zweites Stockwerk, auf dem ein sehr gemütlich aussehender Sessel und eine große Leselampe standen.

Armando nahm ein Buch aus dem Regal. Es war in Leder eingebunden und der Titel war mit goldenen Buchstaben eingeprägt. Odontodactylus scyllarus. Es sah alt und sehr wertvoll aus.

„Wenn es um Bücher geht, bin ich unersättlich“, sagte Armando. „Die Geschichte der Luftfahrt interessiert mich ganz besonders. Ich wollte alles darüber wissen. Die Kinder haben mich immer Streber genannt.“

Oliver war sprachlos. Er nickte verblüfft, dass Armandos Schulzeit so viele Parallelen zu seiner eigenen aufwies. Es machte ihm Mut. Fasziniert beobachtete er, wie Armando das Buch sorgfältig zurück an seinen Platz stellte. Dann wanderte er langsam weiter. Neugierig folgte Oliver ihm.

„Ich habe die Schule mit hervorragenden Zeugnissen abgeschlossen. Danach bin ich auf ein College gegangen. Dann ging mein Leben erst richtig los. Zum ersten Mal hatte ich Zugang zu allen möglichen Materialien und Werkzeugen. Natürlich hatte ich auch brillante Mentoren. Ein paar der hellsten Köpfe aller Zeiten, wenn du mich fragst.“

Plötzlich schoss ein mechanischer Fasan schwirrend über Olivers Kopf. Erschrocken sprang er zur Seite. Der Bauch des Tieres hatte Olivers Hinterkopf gestreift. Oliver legte sich die Hand an die Stelle und stellte überrascht fest, dass die metallenen Federn des Tieres in allen Farben des Regenbogens schimmerten, als hätte jemand Öl darüber gegossen.

Armando hingegen wirkte nicht beeindruckt, er redete einfach weiter. Oliver richtete sich wieder auf.

„Damals waren große Erfindungen ganz hoch im Kurs“, erklärte Armando. „Durch den Krieg eröffneten sich mir ungeahnte Möglichkeiten. Das Militär brauchte innovative Technologien, sodass erfinderische Köpfe wie ich auf einmal sehr gefragt waren. Zuerst habe ich an Kriegswerkzeugen gearbeitet.“

Er deutete auf einen großen Raum. Oliver hatte den Raum am Abend zuvor bereits gesehen. Er beherbergte den riesigen Panzer mit den fremdartigen Waffen. Bei Tageslicht konnte Oliver noch mehr erkennen. Überall lagen Bahnschienen und Reifen herum, einige davon mit Stacheln und anderen merkwürdigen Besonderheiten.

„Sie haben mir diese Fabrik gegeben, dazu einen ganzen Stab von Mitarbeitern“, erklärte Armando.

„Wirklich?“, rief Oliver begeistert. In Seinem Buch hatte nichts davon gestanden, dass man Armando eine ganze Fabrik zur Verfügung gestellt hatte. Er war eher als Verrückter beschrieben, der über Fluggeräte fantasiert hatte, nicht wie jemand, der erfolgreich Kriegsmaschinerien entwickelt und produziert hatte.

Armando nickte. „Ich weiß, heute erscheint das fast unglaublich. Alles ist so… ruhig geworden.“

Einen Augenblick schien er seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, doch dann schüttelte er sanft den Kopf und ging langsam weiter.

Sie kamen in einen Raum, in dem zahlreiche Glasbehälter voller brodelnder Flüssigkeiten standen, kleine Bunsenbrenner leuchteten darunter und gaben zischende Laute von sich. Es war hieß hier und roch nach Chemikalien. Oliver rümpfte die Nase.

„Vielleicht hast du ja das Gerücht gehört, dass keine meiner Erfindungen je funktioniert hat“, sagte Armando.

Oliver wurde rot. Er schämte sich ein bisschen. „Ja, sowas habe ich gelesen“, piepste er.

Armando nickte traurig. „Sie haben mir mein Team weggenommen. Sie wurden alle in andere Fabriken und Labore geschickt, wo man größeren Nutzen aus ihnen schlagen konnte. Und meine Fabrik wurde geschlossen – na, zumindest offiziell. Ich habe aber heimlich weiter gemacht.“

Die geheime Wand! Na klar! Kein Wunder, dass dieser Teil der Fabrik so versteckt liegt. Armando musste sich und seine Arbeit einschließen, damit man ihn nicht aufhalten konnte.

„Dann sind Sie seitdem alleine hier?“, fragte Oliver.

„Ohne Unterstützung trifft es wohl besser“, entgegnete Armando. Er seufzte, als läge ihm eine schwere Last auf den Schultern. Mit dem Zeigefinger tippte er gegen seine Schläfe. „Hier drinnen ist so viel Wissen, aber es gibt niemanden, an den ich es weitergeben kann. Kein Sohn und keine Tochter, kein Freund und kein Nachfolger.“

 

Sie näherten sich einer Maschine. Sie sah aus, wie diese topfförmige Erfindung, die Oliver bereits zuvor im verlassenen Teil der Fabrik aufgefallen war, doch während die alte halb zerstört wirkte, sah diese hier brandneu aus.

Oliver berührte das kühle Metall mit der Fingerspitze.

„Ich nenne sie Vogelperspektive“, verkündete Armando.

„Wofür benutzt man sie?“

„Sie ermöglicht dir, bestimmte Dinge von oben zu betrachten. Im Krieg sollte sie zur Erkundung von feindlichen Gebieten eingesetzt werden.“

Oliver staunte. „Aber wie funktioniert sie? Dafür bräuchte man doch Kameras am Himmel. Und wozu ist dieser Topf gut? Soll sich das hier drehen? Ich verstehe es nicht ganz…“ Murmelnd untersuchte Oliver das Gerät.

Vielleicht hatte es etwas mit elektromagnetischen Strahlen zu tun, die durch Regentropfen flossen und so irgendwelche Bilder erzeugten, ähnlich wie Ultraschallwellen oder Sonarsysteme. Doch diese Erklärung schien Oliver zu abgehoben. So etwas wäre nur mithilfe einer unerklärlichen physikalischen Kraft zu bewerkstelligen.

Magie.

Armando lächelte. „Diese Erfindung hat leider nie richtig funktioniert. Ein Puzzlestück konnte ich nicht knacken. So ging es mir leider bei den meisten meiner ganz großen Erfindungen. Irgendeine Komponente hat immer gefehlt.“

Oliver fragte sich, was Armando damit meinte. Was sollte diese mysteriöse fehlende Komponente sein?

Schnell huschte er hinter Armando her, der bereits aus dem Zimmer ging.

„Sie haben also siebzig Jahre lang neue Geräte erfunden?“, fragte er.

„Und noch ist meine Zeit nicht abgelaufen.“

„Wurden Sie nicht in den Krieg geschickt, nachdem die Fabrik geschlossen war?“

Armando verzog das Gesicht. „Natürlich hätte ich gehen sollen, genau wie die anderen Männer. Aber die Regierung hat mir erlaubt, an meiner letzten großen Erfindung weiter zu arbeiten. Es handelt sich um ein Gerät, das wichtiger ist, als alle Kriegswaffen zusammen. Sie gaben mir sozusagen eine letzte Chance, es fertigzustellen.“

„Was ist es?“, fragte Oliver gebannt. Da fiel ihm wieder ein, dass in seinem Buch von einer Zeitmaschine die Rede gewesen war. Wollte Armando etwa darauf anspielen?

Doch der alte Mann hob abwehrend die Hand. „Nicht der Rede wert, mein Junge, es ist mir nie gelungen.“ Er wirkte plötzlich niedergeschlagen. Es tat Oliver leid, ihn auf dieses Thema gebracht zu haben. Die Enttäuschung stimmte ihn ganz offensichtlich immer noch traurig.

„Nichts ist unmöglich“, sagte er in dem Versuch, den Erfinder wieder aufzumuntern. „Vielleicht finden Sie morgen das fehlende Stück!“

Doch seine Worte schienen Armando noch trauriger zu machen. Langsam und mit ächzenden Gelenken ließ er sich auf einen Stuhl nieder.

„Die Zeit läuft mir davon, mein Junge“, sagte er. „Meine Tage sind gezählt.“

Oliver hatte den Eindruck, dass er nicht nur sein Alter meinte, sondern eine Art Vorsehung.

Armando seufzte. Sein ganzer Enthusiasmus war verpufft.

„Damit ist die Tour dann wohl zu Ende“, sagte er matt.

Oliver war enttäuscht. Das konnte nicht das Ende sein! Es durfte nicht das Ende sein! Er wollte nicht, dass die Zeit mit seinem großen Vorbild zu Ende ging. Er wollte für immer hier bleiben! Doch selbst als Armando mit hängenden Schultern auf die Tür zu wankte, wollte Oliver diese eine große Bitte nicht über die Lippen kommen. Sie waren wie zugenäht.

Die Feigheit blockierte seinen Hals, als Oliver Armando langsam in den langen Gang folgte. An einem Ende des Ganges lag das Zimmer, in dem Oliver geschlafen hatte. Das Zimmer, das er insgeheim schon als sein eigenes Zimmer betrachtete und das er für immer behalten wollte. Doch sie gingen in die entgegengesetzte Richtung, weg von dem gemütlichen Zuhause, hin zu der alten, offiziellen Fabrik.

Als sie zu der geheimen Wand kamen, sah Oliver sich noch einmal sehnsüchtig um. Der Anblick der glänzenden Maschinen, künstlichen Vögel und Fledermäuse brachte ihn immer noch zum Staunen. Er bewunderte Armando für all diese fantastischen Schöpfungen. Traurig dachte er, dass er niemals die Gelegenheit bekommen würde, mit seinem großen Vorbild daran zu arbeiten.

„Es war mir ein großes Vergnügen, dich zu treffen, Oliver“, sagte Armando und hielt ihm die Hand zum Abschied hin.

Oliver hörte die Melancholie in seiner freundlichen Stimme. Er ergriff die Hand des alten Mannes. Obwohl er es sich so sehr wünschte, schaffte er es einfach nicht, sein großes Anliegen vorzutragen.

„Ja“, sagte er stattdessen tonlos. „Es war wirklich wundervoll.“

Dann drehte er sich langsam um und ging mit schlurfenden Schritten auf die geheime Wand zu. Schwermütig dachte er an das beklemmende Leben, in das er nun zurückkehren musste, an die ungemütliche Nische und seinen gewalttätigen Bruder.

Er streckte die Hand aus und suchte nach dem Hebel. Da fiel sein Blick auf einen kleinen Tisch mit der heutigen Tageszeitung. Darauf waren die traurigen Gesichter von Olivers Familie zu sehen. Oliver erschrak. Warum waren Chris und seine Eltern in der Zeitung? Er las den Titel:

Junge im Sturm verschwunden – Aufruf der Eltern

Sein Herz blieb stehen. Dann machten sie sich also doch Sorgen um ihn? Sofort bekam er ein schlechtes Gewissen.

Er nahm die Zeitung und klappte sie auf. Als er den Artikel genauer ansah, bemerkte er, dass die Überschrift noch weiter ging: Aufruf der Eltern zu emotionaler und finanzieller Unterstützung

Oliver war fassungslos. Es ging also doch nicht um ihn, sondern darum, Geld und Mitleid aus der Sache zu schlagen. Wahrscheinlich würden sie sich auch noch darüber ärgern, wenn er jetzt nach Hause käme, weil er ihren großen Auftritt im Rampenlicht zerstören würde und keine Spendengelder mehr fließen würden.

Seine Hand lag auf dem Hebel. Auf der anderen Seite dieser Wand wartete eine Welt voller Gemeinheiten und Quälereien, voller Verzweiflung und Ungerechtigkeit. Aber hier, in Armandos Welt, gab es so viel mehr. Hier konnte er seine Träume wahr werden lassen. Hier hatte er ein echtes Zuhause, ein eigenes Zimmer und einen Menschen, der ihm Respekt und Weisheit bot. Er wäre verrückt, all das aufzugeben. Außerdem hatte er das unverkennbare Gefühl, dass er dazu bestimmt war, an diesem Ort zu sein. Hier hatte er alles, auf der anderen Seite hatte er nichts.

Wie ein Blitz durchfuhr ihn eine Welle von Courage. Langsam nahm er die Hand von dem Hebel. Er drehte sich um und ging einen Schritt auf Armando zu. Fest entschlossen sah er ihn an. Sein Hals fühlte sich immer noch an, als käme nie wieder ein Wort heraus, aber er nahm all seinen Mut zusammen und sagte so laut er konnte die Worte, die sein Leben für immer verändern konnten:

„Armando, lassen Sie mich hier bleiben und helfen. Ich bin sicher, dass wir sehr gut zusammen arbeiten werden.“

Dann biss er sich auf die Lippen und beobachtete die alte, klapprige Gestalt auf der anderen Seite der großen Halle.

„Hierbleiben?“, wiederholte Armando.

Oliver trat nervös von einem Bein auf das andere. „Also… ich meine… hier arbeiten. Zusammen mit Ihnen.“ Immer wilder nagte er an seiner Unterlippe. Schnell ging er näher zu seinem Helden. „Ich bin wirklich gut mit technischen Dingen und ich kann helfen. Ich bin ganz sicher.“

Armando zog eine Augenbraue hoch. „Du meinst, dass du hier bleiben willst? Für immer? Aber was ist mit deinem Leben, Oliver?“

„Mein Leben ist ein Alptraum“, sagte Oliver grimmig. „Mein Bruder ist brutal, ich habe kein Zimmer, sondern nur eine alte Matratze in einer windigen Nische. Ich habe das Gefühl, dass ich… hierher gehöre. Zu Ihnen. Zu dieser Fabrik. Verstehen Sie das?“

Armando lächelte gütig. „Aber ich bin zu alt um für dich zu sorgen.“

„Aber sie sorgen doch jetzt schon viel besser für mich, als meine Eltern es je getan haben.“

„Und was soll aus der Schule werden? Du musst doch in die Schule gehen.“

„Alles, was sie mir dort erzählen, weiß ich schon längst! Und alles, was ich noch lernen muss, kann ich von Ihnen lernen. Sie können mir beibringen, wie man Maschinen baut. Ich kann Ihr Lehrling werden!“

Oliver spürte, dass Armando mit sich rang. Er wollte sich dem alten Mann nicht aufzwängen, aber zum ersten Mal in seinem Leben war er ganz sicher, dass er das Richtige tat. Er konnte es nicht einfach aufgeben.

„Ich werde alles tun, wirklich“, bettelte Oliver. „Bitte! Bitte lassen Sie mich beweisen, dass ich Ihnen keine Last bin.“

Armando sah Oliver lange an, bevor er antwortete.

„Ich schätze, es kann nicht schaden, deine Geschicklichkeit zu testen“, sagte er schließlich.

Oliver machte große Augen. Er hatte zwar nicht zugestimmt, aber er hatte ihn auch nicht abgewiesen. „Wirklich? Sie lassen mich helfen?“

„Ja“, sagte Armando. „Aber davor musst du mir noch einen Gefallen tun.“

„Sofort! Was Sie wollen!“

Armando grinste. „Zieh dir etwas Anständiges an.“

Oliver sah an sich hinab und wurde rot.

Er trug noch immer den fremden Pyjama.

KAPITEL SIEBEN

Als Oliver unter dem warmen Wasser in der Dusche stand, schwirrte ihm der Kopf. Armando hatte zwar nicht gesagt, dass er als Lehrling bei ihm wohnen durfte, aber er durfte vorerst bleiben. Das machte ihm Hoffnung. Er hatte das Gefühl, dass es eine Art Probe war, der er sich in den kommenden Stunden unterziehen musste. Nicht dass Armando es so genannt hatte. Eigentlich hatte er gar nicht viel gesagt, aber Oliver hatte das dringende Bedürfnis, sich zu beweisen und Armando zu zeigen, dass er zu ihm gehörte.

Er ging zum Schrank und fand darin mehrere Overalls. Sie waren sauber, aber sehr altmodisch. Er nahm sich einen dunkelblauen Overall aus dem Schrank und zog ihn an. Natürlich war er viel zu groß. Oliver krempelte die Ärmel und Hosenbeine hoch und blickte in den Spiegel. Er sah aus, als käme er direkt aus den 1940ern!

Kaum war er fertig, rannte er auch schon zurück zu Armando, um seine erste Lektion zu lernen.

„Hier bin ich“, rief er enthusiastisch und kam schlitternd neben dem alten Mann zum Stehen.

Armando sah ihn von oben bis unten an, dann nickte er zufrieden, dass der Junge nicht länger im Pyjama herumlief.

„Du hast also die Sachen meiner damaligen Arbeiter gefunden“, sagte er. „Sie sind noch aus der Zeit des Krieges. Damals haben ein paar Arbeiter hier gewohnt.“

„Macht es Ihnen etwas aus, wenn ich sie trage?“, fragte Oliver schüchtern.

„Überhaupt nicht! Es ist schön zu sehen, dass sie nach all den Jahren wieder gebraucht werden. Armandos Blick schweifte in die Ferne. Er dachte an bessere Zeiten. „Nun, wenn ich mich richtig erinnere, wolltest du mir zeigen, was du alles kannst.“

Oliver nickte aufgeregt. Er folgte Armando zu einer langen Werkbank. Dort lagen verschiedene Stoffe und ein ganzer Haufen von Drähten. Er begriff sofort, dass dort alles bereitlag, was er für seinen Unsichtbarkeitsumhang brauchte. Er sah Armando begeistert an.

„Arbeiten Sie etwa an einem Unsichtbarkeitsumhang?“, fragte er.

„Nicht mehr“, winkte Armando ab. „Das hat bisher noch keiner geschafft und ich habe es auch aufgegeben.“

„Ich würde es gerne versuchen“, gestand Oliver.

„Wenn ich dir einen Rat geben darf, dann verschwende keine wertvolle Zeit damit!“, entgegnete Armando. „Mich hat es Jahre gekostet!“

Oliver war enttäuscht. Der Gedanke daran, sich irgendwann wirklich unsichtbar machen zu können, war für ihn eine große Hoffnung. Aber wenn Armando nicht wollte, dass er daran arbeitete, dann würde er es auch nicht tun. Vielleicht musste er diesen einen Traum einfach aufgeben.

Oliver folgte Armando durch die verschlungenen Gänge der Fabrik. Bald erkannte er den Gang wieder, in dem der Raum mit dem großen Panzer lag.

 

Zu Olivers Überraschung führte Armando ihn genau auf diesen Raum zu.

„Sie wollen doch nicht etwa, dass ich eine Kriegswaffe baue?“, fragte Oliver unsicher und starrte mit großen Augen den Panzer an.

„Himmel, nein“, sagte Armando. „Ich will sehen, ob du es schaffst, das Periskop digital zu machen.“

„Oh“, sagte Oliver, der nicht sicher war, ob das so viel besser war.

Das einzige Periskop, das er je gebaut hatte, hatte er aus einem alten Teleskop und einem Spiegel gebaut. Er wusste aber, dass die Navy bereits in den 60ern Periskope erfunden hatte, die an einen Monitor angeschlossen waren, und später dann photonische Masten, die Kameras und Infrarot-Technologien benutzten. Es war also möglich. Und Oliver hatte fest vor, es zu schaffen. Armando hatte nicht gesagt, dass es ein Test war, oder dass Olivers Zukunft in der Fabrik von dieser Aufgabe abhing, aber Oliver hatte trotzdem das Gefühl, dass es um sein Leben ging.

Er nahm sich viel Zeit, das Periskop genau anzusehen. Es war tatsächlich die gleiche schlichte Variant, die er selbst gebaut hatte. Als er sich schließlich eine Lösung ausgedacht hatte, machte er eine Liste von Dingen, die er brauchen würde, um seinen Plan umzusetzen.

„Haben Sie vielleicht eine Kathodenstrahlröhre?“, fragte Oliver. Er würde sie brauchen, um einen Bildschirm zu bauen.

„Selbstverständlich“, sagte Armando. „Ich habe hier von allem etwas… irgendwo.“

„Wenn das so ist, dann brauche ich auch eine Kamera. Und jede Menge Kabel. Eine Hauptplatine und Lötzinn. Oh, und ein paar Batterien oder eine andere Energiequelle.“

War da gerade ein zufriedenes Lächeln über Armandos Gesicht gehuscht, oder hatte Oliver sich das eingebildet? Vielleicht konnte er ihn wirklich überzeugen, dass er der richtige Lehrling war. Vorerst wollte Oliver sich jedoch keine falschen Hoffnungen machen. Erst wollte er seine Aufgabe lösen.

„Du darfst dir alles nehmen, was du dafür brauchst“, sagte Armando und machte mit der Hand eine großzügige Bewegung durch den Raum. Ich muss mich jetzt um ein paar Sachen kümmern. Komm zu mir, wenn du fertig bist.“

Das sollte wohl bedeuten, dass Oliver sich alles selbst zusammensuchen musste.

Er sah Armando hinterher, der sich langsam zur Tür bewegte und im Gang verschwand. Kaum war er auf sich alleine gestellt, fertigte er rasch eine Zeichnung zu seinem Vorhaben an. Er zeichnete einen einfachen Mast, an dessen Ende er die Kamera montieren würde. Die Kabel sollten durch eine Röhre am Mast entlang nach unten führen und unten würde sich der Bildschirm befinden, der alles anzeigen sollte, was es außerhalb des Panzers zu sehen gab. Theoretisch war alles ganz einfach, aber gleichzeitig war es größer als alles, was Oliver bisher gebaut hatte.

Sobald er sich im Klaren darüber war, wie genau seine Erfindung aussehen sollte, machte er sich auf die Suche nach den Einzelteilen. Er wanderte durch die Fabrik, öffnete Schränke und war sehr beeindruckt, was es dort alles gab. Armando hatte nicht gelogen. Hier gab es wirklich von allem etwas. Kleine und große Metallteile, biegsame Röhren, Holzstücke, Reifenteile, Spiralen und bunte Druckfedern, die aussahen, als kämen sie aus einem Zauberkasten.

Es dauerte lange, bis Oliver alles zusammen gesammelt hatte, was auf seiner Liste stand. Mit vollen Armen trug er seine Beute zu der Werkbank im Panzerraum.

Er arbeitete zügig und versuchte, sich von seinem Stress nicht allzu sehr unter Druck setzen zu lassen. Doch wenn er jetzt versagte, würde Armando ihn bestimmt nicht als Lehrling wollen. Er musste ihm einfach beweisen, dass er der Richtige war, sonst müsste er zurück zu der schäbigen Nische und seinem brutalen Bruder. Er durfte nicht scheitern.

Oliver setzte sich eine Schutzbrille auf und zündete den Lötkolben. Er war begeistert, dass er endlich die Werkzeuge benutzen durfte, für die die meisten Erwachsenen ihn immer zu jung hielten. Er befestigte alle Kabel an der Hauptplatine, wie er es in seinem Buch tausendmal gesehen hatte. Er genoss den Geruch des geschmolzenen Lötzinns und war stolz, als er die Geräte mit der Energiequelle erfolgreich verbunden hatte.

Ohne zu wissen, wie viel Zeit bereits verstrichen war, schloss er die letzten Teile an und trat schließlich zurück, um sein Werk zu bewundern. Leider musste er gestehen, dass das Resultat nicht so eindrucksvoll wirkte, wie er es sich vorgestellt hatte. Das Abflussrohr, das er als Mast genommen hatte, war schief, der Bildschirm war uralt und mitgenommen – er kam ganz offensichtlich von einer Müllhalde – und hatte einen merkwürdig gebogenen Bildschirm. Aber besser konnte er es nicht hinbekommen.

Er holte Armando, der von Olivers Werk nicht besonders beeindruckt wirkte. Oliver glaubte sogar, Enttäuschung in seinem Blick zu sehen.

„Bist du fertig?“, fragte er.

Wieder spürte Oliver, wie wichtig diese Aufgabe war. Hatte er wirklich alles gegeben? War das hier das Beste, was er in sich hatte? Plötzlich fühlte er sich sehr verunsichert.

Vielleicht hatte er doch nicht das Zeug dazu, Armandos Lehrling zu werden. Dann würde er ihn bestimmt in sein armseliges Leben zurückschicken. Oliver konnte den Gedanken kaum ertragen.

„Ja, es ist fertig“, sagte Oliver schweren Herzens.

Er schaltete die Maschine ein und hörte ein elektrisches Summen. Oliver atmete durch. Soweit, so gut. Das kleine Licht an der Rückseite der Kamera begann rot zu blinken. Sie funktionierte also. Oliver schöpfte neue Hoffnung.

Dann führte er Armando zu dem Bildschirm. Zu Olivers Entsetzen mussten sie feststellen, dass der Bildschirm schwarz blieb. Das Bild der Kamera wurde nicht angezeigt, dabei war das der ganze Punkt der Aufgabe gewesen. Wenn er es nicht schaffen würde, das Bild auf den Bildschirm zu bekommen, dann hatte er auf der ganzen Linie versagt.

Er spürte Armandos Enttäuschung, doch das war nicht annähernd so schmerzhaft wie seine eigene Enttäuschung. Er hatte sich selbst im Stich gelassen. Es war naiv gewesen zu denken, dass er mehr als ein armer Junge aus einer schlechten Familie sein konnte.

Oliver konnte es nicht ertragen, sich Armandos Meinung über seine Arbeit anzuhören. Er drehte sich traurig um und ging, ließ seinen großen Misserfolg einfach hinter sich.

„Oliver…“, sagte Armando.

Oliver wollte es nicht hören. „Sie müssen es nicht aussprechen. Ich werde einfach gehen.“

„Oliver…“, wiederholte Armando.

„Lassen Sie nur. Ich verstehe schon. Ich gehe.“

„OLIVER!“, rief Armando.

Diesmal blieb Oliver stehen. Er war inzwischen bei der Tür angekommen und drehte sich mit Tränen in den Augen zu Armando um. Der stand immer noch neben Olivers Werk.

„Ja?“, sagte er leise und machte sich auf Armandos vernichtende Worte gefasst.

„Ich glaube, du hast etwas übersehen“, sagte Armando.

Das hatte Oliver nicht erwartet. „Was denn?“

Armando wies mit dem Kinn auf das Gebilde. „Komm und sieh es dir an. Ich wette, du wirst es selbst merken.“

Schnell ging Oliver zurück zu seiner hässlichen Maschine. Eigentlich wollte er sie nicht einmal mehr ansehen. Was sollte er noch an dem Ergebnis ändern können?

Doch als er näher kam, bemerkte er schnell, was Armando gemeint hatte. Etwas hakte bei der Verbindung zwischen der Kamera und dem Bildschirm. Obwohl beides eingeschaltet und funktionstüchtig war, sah die Linse irgendwie falsch aus. Sie war zu dunkel, als wäre eine Öl- oder Schmutzschicht darauf.

Schnell eilte er hin und wischte sie mit dem Ärmel seines Overalls sauber. Dicker, schwarzer Dreck blieb an seinem Ärmel kleben und schon erschien ein verschmiertes Bild auf dem Bildschirm.

Oliver konnte es nicht glauben. Seine Erfindung hatte also doch funktioniert! Nur der Dreck auf der Linse hatte die Kamera blind gemacht, weswegen der Bildschirm schwarz geblieben war.

„Ich habe es geschafft“, murmelte Oliver erstaunt. Er konnte es kaum glauben.

Immer wieder wischte er über die Linse und beobachtete, wie das Bild immer klarer wurde. Das war der Beweis: seine Erfindung war ein Erfolg!

Er sah zu Armando hinüber. Er lächelte zufrieden. Oliver spürte, wie ihm Tränen der Freude in die Augen stiegen.

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