Der weiße Affe

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»Nun?«



»Nichts zu machen. Der alte Schubjack ist zu gerecht.«



Michael zerwühlte sein Haar.



»Warte fünf Minuten in meinem Zimmer, während ich's dem armen Teufel sage, dann begleit ich dich.«



»Nein«, sagte Desert, »ich geh einen andern Weg.«



Nicht die Tatsache, daß Wilfrid einen andern Weg ging – das tat er fast immer –, sondern etwas im Ton seiner Stimme und in seinem Gesichtsausdruck beschäftigte Michaels Phantasie, während er hinunterschritt, um Bicket zu suchen. Wilfrid war ein wunderlicher Mensch – er konnte so plötzlich ›dunkel‹ werden!



In den untern Regionen fragte Michael: »Bicket schon fort?«



»Nein, Sir, da ist er.«



 Da stand er in seinem schäbigen Mantel, mit den eingesunkenen Schultern, dem schmalen, blassen Gesicht und den viel zu großen Augen.



»Bedaure, Bicket, Mr. Desert hat's versucht, aber es war vergebens.«



»Ja, Sir.«



»Kopf hoch! Sie werden schon eine Stelle finden.«



»Nicht viel Aussicht, Sir. Aber ich dank Ihnen herzlich, und ich dank auch Mr. Desert. Gute Nacht, Sir! Leben Sie wohl!«



Michael sah ihn den Gang hinunter schwanken und in der dämmerigen Straße verschwinden. »Großartig!« sagte er und lachte …



Der natürliche Verdacht Michaels und seines älteren Geschäftsteilhabers, daß man ihnen einen Bären aufgebunden hatte, war wirklich nicht berechtigt. Weder die Frau noch die Lungenentzündung waren erfunden. Während Bicket in der Richtung der Blackfriars-Brücke davonschwankte, dachte er nicht an seine Missetat und auch nicht daran, wie gerecht Mr. Danby gewesen war, sondern, was er seiner Frau sagen sollte. Natürlich würde er ihr nicht erzählen, daß er beim Stehlen erwischt worden war; er mußte sagen, daß man ihn hinausgeschmissen hatte wegen Widersetzlichkeit gegen den Oberpacker; aber was würde sie nun von ihm denken, wo doch alles davon abhing, daß er sich keine Widersetzlichkeit gegen den Oberpacker zuschulden kommen ließ! Es war einer jener traurigen Fälle großer Zuneigung, so daß er Tag für Tag mit dem Gefühl in die Arbeit gegangen war, daß er sein halbes Herz daheim gelassen hatte, in dem Zimmer, wo sie lag. Und als der Arzt schließlich sagte: »Sie ist über das Schlimmste hinaus, aber sie ist durch die Krankheit sehr herabgekommen – Sie müssen sie ordentlich auffüttern«, da hatte er den festen Entschluß gefaßt, daß er diese Angst um ihre Gesundheit nicht länger ausstehen wolle. Während der nächsten drei Wochen hatte er achtzehn Exemplare von ›Kleine Münze‹ auf die Seite gebracht, die fünf mitinbegriffen, die man in seinem Mantel gefunden hatte. Er war nur deshalb auf Mr. Deserts Buch verfallen, weil es so gut ging, und nun tat es ihm leid, daß er sich nicht auf irgend einen andern verlegt hatte. Mr. Desert war so anständig gewesen! An der Ecke des ›Strand‹ blieb er stehen und überzählte sein Geld. Die zwei Pfund, die ihm Michael gegeben hatte, und sein Lohn, zusammen fünfundsiebzig Shilling, das war alles in der Welt, was er besaß. Er kaufte ein Gelee und eine Büchse ›Kraftnahrung‹, die man mit Wasser kochen konnte. Mit vollgestopften Taschen bestieg er einen Autobus, der ihn bis zur Ecke seiner kleinen Gasse in Surrey führte. Er bewohnte mit seiner Frau zwei Parterrezimmer zu acht Shilling die Woche, und seit drei Wochen war er die Miete schuldig. ›Am besten, ich bezahl das‹, dachte er, ›und hab ein Dach überm Kopf, bis ihr besser ist.‹ Er würde es ihr auch leichter beibringen können, wenn er ihr die Quittung für die Miete mitbrächte und ein bißchen gutes Essen. Was für ein Glück, daß sie gut achtgegeben hatten, kein Kind zu bekommen! Er ging in das Tiefparterre hinunter. Seine Vermieterin war mit der wöchentlichen Wäsche beschäftigt. Vor lauter Überraschung über die vollständige und freiwillige Bezahlung hielt sie inne und erkundigte sich nach seiner Frau.



»Es geht ihr recht gut, danke schön.«



»Na, das freut mich, es muß Ihnen doch eine große Erleichterung sein.«



»Freilich«, sagte Bicket.



 Die Vermieterin dachte: ›So dünn wie ein Schneider – ich muß immer an einen kleinen Krebs denken, eh man ihn kocht, mit den Augen, die er hat.‹



»Hier ist Ihre Quittung, und ich dank schön. Tut mir leid, daß ich deswegen nervös war, aber man hat's schwer heutzutag.«



»Sehr schwer«, sagte Bicket. »Wiedersehn!«



Mit der Quittung und dem Gelee in der linken Hand öffnete er die Tür seines Vorderzimmers.



Seine Frau saß vor einem sehr kleinen Feuer. Ihr kurzgeschnittenes schwarzes Haar, das sich an den Enden ringelte, war während ihrer Krankheit gewachsen; sie warf es zurück, als sie lächelnd den Kopf wandte. Schon manchmal war Bicket dieses Lächeln sonderbar vorgekommen – so auch heute – einfach rührend, geheimnisvoll, als könnte sie Dinge sehen, die ein anderer nicht sah. Sie hieß Victorine, und er sagte: »Nun, Vic? Dieses Gelee wird gut schmecken, und die Miete hab ich auch bezahlt.« Er setzte sich auf die Lehne des Sessels und sie legte ihre Hand auf sein Knie – ihr dünner Arm schaute bläulich-weiß aus dem dunklen Schlafrock hervor.



»Nun, Tony?«



Ihre großen dunklen Augen unter den wunderschön geschwungenen Brauen in dem blassen schmalen Gesicht schienen aus der Ferne zu blicken, und wenn sie einen anschauten, dann ging's einem durch und durch.



So packte es ihn auch jetzt wieder und er sagte: »Hast du Luft gekriegt?«



»Danke – schon viel besser. Jetzt werd ich bald ausgehen können.«



Bicket beugte sich über sie und suchte ihre Lippen.



Der Kuß dauerte einige Zeit, weil er in ihn alle Gefühle legte, die er während der letzten drei Wochen weder ihr noch irgend jemand sonst hatte anvertrauen können. Etwas erschöpft richtete er sich wieder auf, starrte ins Feuer und sagte: »Keine guten Nachrichten, Vic – ich hab meinen Posten verloren.«



»O Tony! Warum?«



Bicket schluckte.



»Tatsache ist, das Geschäft geht schlecht und sie bauen ab.«



Es war ihm nun zur Gewißheit geworden, daß er lieber seinen Kopf unter den Gasschlauch legen würde, als ihr die Wahrheit sagen.



»Ach du lieber Gott, was sollen wir jetzt tun?«



Bickets Stimme klang fest.



»Sorg dich nur nicht, ich werd schon was finden«; und er begann zu pfeifen.



»Aber du hast doch das Geschäft so gern gehabt.«



»So, wirklich? Ein paar von den Burschen dort hatt ich ganz gern; aber das Geschäft – was war denn eigentlich dran? Den ganzen Tag Bücher einpacken in einem Kellergeschoß. Wir wollen was essen und früh schlafen gehen – ich glaub, ich könnt eine Woche schlafen, jetzt, wo ich die Zeit dazu hab.«



Während er mit ihrer Hilfe ihr Nachtmahl herrichtete, hütete er sich, ihr in die Augen zu blicken, aus Angst, daß es ihm wieder ›durch und durch gehen‹ könnte! Sie waren erst ein Jahr verheiratet, nachdem sie sich  auf der Trambahn kennengelernt hatten, und Bicket wunderte sich oft, was sie wohl an ihm gefunden haben mochte, an ihm, der acht Jahre älter und im Krieg nicht diensttauglich gewesen war. Und doch mußte sie ihn gern haben, sonst hätte sie ihn doch niemals

so

 angeschaut.



»Setz dich und kost dieses Gelee.«



Er selbst aß Brot mit Margarine und trank Kakao dazu, er war niemals recht hungrig.



»Soll ich dir sagen, was mein Fall wär?« fragte er. »Zentral-Australien, das wär mein Fall! Wir haben dort drinnen ein Buch drüber gehabt; es sollen viele dorthin auswandern. Ich möcht ein bißchen Sonne. Ich glaub, wenn wir Sonne gehabt hätten, wären wir beide doppelt so groß geworden. Ich möcht dich gern einmal mit roten Backen sehen, Vic.«



»Was kostet es denn, dorthin zu fahren?«



»Viel mehr, als was wir zusammenscharren können, das ist das Schlimme. Aber ich hab darüber nachgedacht. In England ist nichts mehr zu machen. Es sind zu viele meinesgleichen hier.«



»Nein«, sagte Victorine, »noch nicht genug.«



Bicket blickte in ihr Gesicht und dann rasch wieder auf seinen Teller.



»Warum hast du mich eigentlich gern?«



»Weil du nie zuerst an dich denkst, deshalb.«



»Eh ich dich kannte, war's anders. Aber für dich, Vic, möcht ich alles tun.«



»Dann iß ein bißchen von dem Gelee, es ist schrecklich gut.«



Bicket schüttelte den Kopf. »Wenn wir eines Morgens aufwachen könnten und in Australien sein!« sagte er. »Aber das eine ist ganz sicher: wir werden nur in dem elenden kleinen Zimmer aufwachen. Tut nichts! Ich werd eine Stelle bekommen und doch noch das Geld zusammensparen.«



»Könnten wir nicht auf ein Pferd wetten?«



»Na ja, ich hab alles in allem nur siebenundvierzig Shilling, und was fängst du an, wenn wir das verlieren? Du weißt, daß du dich gut nähren mußt. Nein, ich muß eine Stelle finden.«



»Sie werden dir doch ein gutes Zeugnis geben, nicht wahr?«



Bicket erhob sich und räumte die Teller und Tassen zusammen. »Natürlich werden sie mir's geben, aber in der Branche ist nichts mehr zu machen – überfüllt.«



›Ihr die Wahrheit sagen? Niemals! Gott steh mir bei!‹



Nun lag er in dem Bett, das gerade etwas zu groß für einen war und gerade etwas zu klein für zwei, und dachte darüber nach, was er seiner Gewerkschaft sagen solle und wie er es anstellen müsse, um wieder eine Stelle zu bekommen. Ihr Haar hing ihm fast in den Mund. Und wie die Stunden dahinschlichen, verbrannte er in Gedanken alle seine Schiffe hinter sich. Um die Arbeitslosenunterstützung zu bekommen, würde er der Gewerkschaft sagen müssen, was los war. Zum Teufel mit der Gewerkschaft! Es fiel ihm nicht ein, sich dort zu rechtfertigen! Er wußte ganz genau, warum er die Bücher stibitzt hatte, aber das ging keinen sonst was an; niemand würde begreifen, was er gefühlt hatte, wie er sie so schweratmend, bleich und mager hatte im Bett liegen sehen. Er mußte sich selber einen Weg bahnen! Und anderthalb Millionen Arbeitsloser! Na, für vierzehn Tage hatte er noch zu leben, und irgend etwas würde sich schon finden.  Er könnte am Ende doch einen oder zwei Shilling riskieren, um etwas Geld zu gewinnen, man konnte ja nie wissen! Sie rührte sich im Schlaf. ›Jawohl‹, dachte er, ›ich würd es noch einmal tun …‹

 



Nachdem er am nächsten Tag einige Stunden herumgelaufen war, blieb er in einer grauen Straße unter dem grauen östlichen Himmel vor einem Schaufenster stehen, hinter dem ein Arrangement von Früchten zu sehen war, Korngarben, Metallstücke und leuchtende blaue Schmetterlinge in der bescheidenen goldenen Sonne eines annoncierten Australiens. Für Bicket, der niemals England und nur selten London verlassen hatte, war es dasselbe, als wenn er vor dem Paradies stünde. Die Atmosphäre drinnen im Bureau war zwar nicht so goldig-warm und die verlangte Geldsumme war ganz beträchtlich; aber er war doch dem Paradies einen Schritt näher gekommen, als er Prospekte heimtrug, die ihm in den Händen brannten, so heiß schienen sie zu sein.



Später saßen sie beide in ihrem einzigen Lehnstuhl – es war doch ein Vorteil, so mager zu sein – und studierten mit dem größten Eifer die Blätter, die sich vor ihren Augen in Gold verwandelten, und berauschten sich an ihrem Glanz.



»Glaubst du, daß das wirklich wahr ist, Tony?«



»Wenn nur ein Drittel davon wahr ist, so ist das für mich mehr als genug. Irgendwie müssen wir nur hinüberkommen. Gib mir einen Kuß.«



Aus der Hauptstraße, um die Ecke herum, erklang das Rumpeln der Trambahnen und Lastwagen, und das Klirren der Fensterscheiben, durch die der trockene Ostwind hereinzog, vervollständigte ihre Illusion, daß sie in einem von der Gaslampe erhellten Paradies Zuflucht gefunden hatten.





9.

 Wirrnis



Zwei Stunden, nachdem Bicket gegangen war, schwankte auch Michael heimwärts. Wie gewöhnlich hatte der alte Danby recht – wenn man seinen Packern nicht mehr trauen konnte, dann konnte man ebensogut gleich das Geschäft zusperren. Nun, da er Bickets Augen nicht mehr vor sich hatte, begann er zu zweifeln. Vielleicht hatte der Kerl gar keine Frau. Doch bald mußte er anstatt über Bickets Moral über Wilfrids Benehmen nachdenken. Die letzten drei Mal, da er ihn getroffen hatte, war der gute Wilfrid so kurz angebunden und sonderbar gewesen. Brütete er vielleicht Gedichte aus?



Am Fuß der Treppe fand er Ting-a-ling in abwartender Haltung sitzen. ›Ich werde hier sitzen bleiben‹, schien er zu sagen, ›bis mich jemand hinaufträgt; gleichzeitig möchte ich bemerken, daß es später als gewöhnlich ist!‹



»Wo ist deine Herrin, du kleines Wappentier?«



Ting-a-ling schnüffelte. ›Ich könnte es verzeihen‹, fuhr er stillschweigend fort, ›wenn du mich tragen wolltest, die Stufen sind zu anstrengend für mich.‹



Michael nahm ihn auf den Arm. »Wir wollen sie suchen gehn.«



Dieser Arm preßte ihn etwas unsanfter als der seiner Herrin, und Ting-a-ling  starrte mit schwarzen Glasaugen vor sich hin und seine herunterhängende Schwanzquaste zitterte.



Im Schlafzimmer ließ ihn Michael so geistesabwesend niederfallen, daß er mit hängendem Schweif in seine Ecke schlich und sich dort grollend hinkauerte.



Fast zur Zeit zum Dinner und Fleur noch nicht zu Hause! Michael ging, so weit er sich erinnerte, ihre Pläne durch. Heute hatte sie Hubert Marsland und jenen Rotoristen – wie hieß er doch gleich? – zum Lunch gehabt. Danach hatte man wohl tüchtig auslüften müssen. Die Rotoristen verursachten – wie Milch – Kohlensäure in den Lungen. Was, schon halb acht! Was hatten sie denn eigentlich heute abend vor? Wollten sie nicht zu jenem Stück von L.S.D. gehen? Nein – das war morgen. War denn wirklich gar nichts los? In diesem Falle würde sie natürlich ihre freie Zeit so viel wie möglich einschränken. Demütig machte er diese Feststellung. Michael hatte keine Illusionen, er wußte, daß er ein alltäglicher Mensch war; er besaß nur ein gewisses ausgleichendes Temperament und natürlich seine Liebe zu ihr. Er gab sogar zu, daß seine Liebe eine Schwäche war, da er leicht in übertriebene Ängstlichkeit verfiel, was sonst seinen Grundsätzen zuwider lief. Sich zum Beispiel bei Coaker oder Philps – ihrem Diener und ihrem Stubenmädchen – zu erkundigen, wann sie fortgegangen war, wäre ganz gegen jene Grundsätze gewesen. Die Zustände in der Welt waren derart, daß Michael sich ständig fragte, ob seine eigenen Angelegenheiten überhaupt der Aufmerksamkeit wert waren; aber gleichzeitig waren die Zustände in der Welt auch derart, daß manchmal seine eigenen Angelegenheiten das einzige zu sein schienen, was überhaupt der Aufmerksamkeit wert war. Praktisch gesprochen konnte man seine Angelegenheiten mit einem Wort bezeichnen: Fleur! Doch wenn er ihnen zu viel Aufmerksamkeit schenkte, so fürchtete er, ihr lästig zu fallen.



Er ging in sein Ankleidezimmer und knöpfte seine Weste auf. ›Lieber nicht‹, dachte er, ›wenn sie mich beim Heimkommen schon angekleidet findet, so sieht das so absichtlich aus!‹ Er knöpfte seine Weste wieder zu und ging hinunter. Coaker war in der Halle.



»Mr. Forsyte und Sir Lawrence waren um sechs Uhr hier, Sir. Mrs. Mont war ausgegangen. Um welche Zeit soll ich das Dinner servieren?«



»Oh! Ungefähr um viertel neun. Ich glaube nicht, daß wir ausgehn.«



Er ging ins Wohnzimmer, durchschritt seine chinesische Öde und zog den Vorhang zurück. Der Platz lag kalt, dunkel und zugig da und er dachte: ›Bicket – Lungenentzündung – hoffentlich hat sie ihren Pelz an.‹ Er nahm eine Zigarette heraus und steckte sie wieder zurück. Wenn sie ihn am Fenster stehen sähe, würde sie es für eine lächerliche Besorgnis halten. So ging er wieder hinauf, um nachzusehen, ob sie ihren Pelz angezogen hatte!



Ting-a-ling, der noch immer in seiner Ecke lag, grüßte ihn mit wedelndem Schweif, der jedoch plötzlich wie enttäuscht stillstand. Michael öffnete den Schrank. Der Pelz fehlte. Gut! Er sog den Duft ein, als Ting-a-ling an ihm vorbei trottete, und eine Stimme sagte: »Guten Abend, Liebling!« Michael wünschte, daß der Gruß ihm gegolten hätte, und kam hinter der Schranktür hervor. Himmel! Wie reizend sie aussah mit vom Wind geröteten Wangen! Er stand schweigend und nachdenklich.



 »Hallo, Michael! Ich hab mich etwas verspätet. Bin im Klub gewesen und zu Fuß nach Haus gegangen.«



Michael hatte ein ganz unerklärliches Gefühl, daß sie ihm etwas verschwieg. Er verschwieg auch etwas und sagte: »Ich wollte gerade nachschauen, ob du deinen Pelz anhast, es ist so scheußlich kalt. Dein Vater und Bart waren hier, und da sie fasten mußten, sind sie wieder weggegangen.«



Fleur warf ihren Mantel ab und ließ sich in einen Stuhl fallen. »Ich bin so müde! Wie hübsch deine Ohren heute abend gespitzt sind, Michael!«



Michael ließ sich auf ein Knie nieder und legte seine Arme um ihre Taille. Ihre Augen blickten so seltsam, so forschend, daß er, ein wenig erschreckt, von bangen Zweifeln gepackt wurde.



»Wenn

du

 Lungenentzündung bekämst«, sagte er, »dann würde

ich

 einfach den Verstand verlieren.«



»Warum in aller Welt soll ich denn Lungenentzündung bekommen?«



»Du kennst den Zusammenhang nicht – macht nichts, es würde dich auch nicht interessieren. Wir gehen nicht aus, nicht wahr?«



»Natürlich gehn wir aus. Heute ist Alisons Empfang.«



»O weh! Aber wenn du müde bist, könnten wir doch absagen.«



»Aber mein Lieber, unmöglich! Die verschiedensten Leute kommen zu ihr.«



Eine abfällige Bemerkung unterdrückend, seufzte er nur: »Ganz recht! In voller Kriegsbemalung?«



»Ja, weiße Weste. Ich seh dich so gern in weißer Weste.«



Kleine Schmeichelkatze! Er drückte ihre Taille und erhob sich. Fleur streichelte ganz leicht seine Hand, und er ging getröstet in sein Ankleidezimmer …



Aber Fleur saß wenigstens fünf Minuten sehr still – nicht gerade eine Beute widerstreitender Empfindungen, aber doch von beträchtlicher Verwirrung erfaßt.

Zwei

 Männer hatten in der letzten Stunde dasselbe getan – vor ihr gekniet und die Arme um ihre Taille gelegt. Es war zweifellos voreilig von ihr gewesen, in Wilfrids Wohnung zu gehen. Erst im Augenblick, als sie dort war, empfand sie deutlich, daß sie in der Tat vollkommen unvorbereitet für irgend etwas Physisches war. Er war ja in Wahrheit nicht weiter gegangen als Michael. Aber – du lieber Gott! – sie hatte das Feuer gespürt, mit dem sie spielte, seine Qualen waren ihr plötzlich klar geworden. Sie hatte ihm streng verboten, Michael ein Wort zu sagen, aber instinktiv begriff sie, daß sie sich in seinem Kampf, beiden gegenüber loyal zu sein, auf gar nichts verlassen könne. Obgleich sie erschrak, verwirrt und gerührt war, konnte sie doch nicht umhin, eine angenehme Wärme zu fühlen, daß sie von zwei Männern zugleich so sehr geliebt wurde, und gleichzeitig war sie neugierig, wie die Sache enden würde. Sie seufzte. Sie hatte ihrer Sammlung von Erfahrungen eine neue hinzugefügt – aber wie sie weiter sammeln konnte, ohne die Sammlung zu beschädigen oder vielleicht sogar die Sammlerin, das war ihr nicht klar.



Nachdem sie zu Wilfrid vor der ›Eva‹ gesagt hatte: ›Du bist ein Narr, wenn du fortgehst, warte!‹, wußte sie, daß irgend etwas, und zwar bald, geschehen müsse. Oft hatte er sie gebeten, zu ihm zu kommen, um seine alten Möbel zu besichtigen. Vor einem Monat, ja vor einer Woche noch  wäre sie gegangen, ohne sich zu bedenken, und hätte Michael später von den alten Möbeln erzählt. Aber jetzt sann sie immer wieder darüber nach; und wenn nicht die Kohlensäuredünste des Lunchs gewesen wären und das Gefühl, das von der Gesellschaft des Rotoristen, von Amabel Nazing, von Linda Frewe ausging, nämlich, daß Skrupel solcher Art altmodisch wären, daß Sensationen aller Art das Leben bedeuteten, so würde sie wahrscheinlich noch immer darüber nachdenken. Als die Gäste gegangen waren, hatte sie tief Atem geschöpft und das Hörrohr des Telephons in der chinesischen Teetruhe ergriffen.



Wenn Wilfrid um halb sechs zu Hause wäre, würde sie kommen und seine alten Möbel anschauen.



Seine Antwort: »Mein Gott! Wirklich?« ließ sie fast innehalten. Aber indem sie ihr Zögern mit dem Gedanken überwand: ›Ich will pariserisch – wie Proust sein!‹, war sie in den Klub gegangen. Dreiviertel Stunden verbrachte sie ohne eine andere Anregung als drei Schalen russischen Tees, drei alte Nummern des ›Modespiegels‹, die Rückansicht dreier Mitglieder, Fossilien vom Lande, und achtete schließlich genau darauf, eine Viertelstunde zu spät zu kommen. Im letzten Stockwerk stand Wilfrid in der offenen Tür, bleich wie eine Seele im Fegefeuer. Sanft ergriff er ihre Hand und zog sie herein. Mit einem leichten Schauder dachte Fleur: ›Also so ist es? Du coté de chez Swann?‹ Sie machte ihre Hand los und begann sofort eifrig von einem Möbelstück zum andern zu gehen, alles eingehend besichtigend.



Es waren altenglische Möbel, die an ein Rittergut gemahnten, hie und da ein Stück aus dem Osten oder Ersten Kaiserreich, von irgendeinem Desert gesammelt, der Reisen gemacht oder am französischen Hof gedient hatte. Sie fürchtete sich, Platz zu nehmen, aus Angst, daß dann geschehen könnte, was die führenden Autoritäten der Literatur in solchen Situationen immer geschehen ließen: ebenso wenig wollte sie das intensive Gespräch aus der Tate-Galerie fortsetzen. ›Möbel betrachten‹ war ungefährlich, und nur in den kurzen Zwischenräumen, in denen er sie nicht ansah, blickte sie zu ihm hin. Sie wußte, daß sie sich nicht ganz in der Art der ›Garçonne‹ benahm oder nach den Vorschriften Amabel Nazings; daß sie in der Tat in Gefahr war wegzugehen, ohne eine neue Sensation erlebt zu haben. Sie konnte nichts dafür, aber Wilfrid tat ihr leid; seine Augen suchten flehentlich die ihren, und es war peinvoll, den Zug um seinen Mund zu sehen. Als sie schließlich die Möbel total erschöpft hatte, so daß sie sich niedersetzen mußte, warf er sich ihr zu Füßen. Sie stemmte die Knie gegen seine Brust, und so viel Sicherheit als möglich gewinnend, fühlte sie halb hypnotisiert die Tragik der Sache, sein Entsetzen über sich selbst, seine Leidenschaft für sie. Es ging ihr nahe und tat weh; sie hatte sich verleiten lassen, etwas zu erwarten, was nun in Wirklichkeit ganz anders war. Es fiel gewissermaßen aus dem Rahmen, und wie – wie konnte sie nur davonkommen, ohne ihm und sich selber noch mehr weh zu tun? Als sie schließlich draußen war, ohne den Kuß, den er ihr gegeben hatte, zu erwidern, ward ihr klar, daß sie jetzt eine Viertelstunde wirklich gelebt hatte, aber sie war durchaus nicht sicher, ob es ihr auch gefiele …Nun, da sie sich wieder in ihrem Zimmer in Sicherheit befand und sich für Alisons Gesellschaft umkleidete, versuchte sie sich vorzustellen, was sie wohl gefühlt hätte, wenn  die Sache so weit gediehen wäre, wie es nach den führenden Autoritäten der Literatur durchaus in Ordnung war. Ganz bestimmt hatte sie nicht ein Zehntel der Gedanken und Sensationen durchgekostet, die ihr in irgendeinem modernen Literaturwerk angedichtet worden wären. Ihre Illusionen waren etwas zerstört, oder war sie selber nicht auf der Höhe? Und das Gefühl, nicht auf der Höhe zu sein, konnte Fleur nicht ertragen. Während sie leicht ihre Schultern puderte, wandte sie ihre Gedanken der bevorstehenden Gesellschaft bei Alison zu.

 





Obgleich Lady Alison an einer gelegentlichen Zusammenkunft mit der jungen Generation Gefallen fand, so glänzten an ihren Abenden doch die Aubrey Greenes und Linda Frewes nicht durch ihre Anwesenheit. Nesta Gorse allerdings war einmal dagewesen, aber ein Politiker aus Juristen- und zwei aus literarischen Kreisen, die sich mit ihr abgegeben, hatten sich nachträglich über sie beklagt. Sie hatte, wie es schien, mit kleinen, spitzen Pfeilen die eitlen Gewänder ihres Selbstgefühls geritzt. Sibley Swan wäre willkommen gewesen, weil er für die Vergangenheit eine Lanze brach, aber er schien bisher die Dinge von oben zu betrachten. So war es nicht die Intelligenz, sondern nur die intellektuelle Gesellschaft, die versammelt war, als Fleur und Michael eintraten, und die Konversation sprühte von all dem Glanz und dem ›savoir faire‹, das jedem Gespräch über Kunst und Wissenschaft eigen ist, wenn es von denjenigen geführt wird, die, wie Michael sich ausdrückte, glücklicherweise das ›faire‹ nicht zu machen brauchten.



»Trotzdem sind das die Leute«, flüsterte er Fleur ins Ohr, »die Künstlern und Schriftstellern einen Namen machen. Wer ist die große Kanone heute abend?«



Es schien eine Dame zu sein, die zum erstenmal in London auftrat und Volkslieder vom Balkan sang. Aber in einer Nische rechts standen vier Tische zum Bridgespiel bereit. Sie waren schon besetzt. Unter denen, die noch immer umherstanden und zuhörten, waren hie und da ein Gurdon Minho, ein Gesellschaftsmaler und seine Frau oder ein Bildhauer, der auf einen Auftrag wartete. Fleur, die zwischen Lady Feynte, der Frau des Malers, und Gurdon Minho in Person eingekeilt war, begann eine Flucht zu planen. Dort, ja dort war Mr. Chalfont! Fleur, die eine ausgezeichnete Beurteilerin des Milieus war, verschwendete bei Lady Alison nie ihre Zeit an Künstler und Schriftsteller –

die

 konnte sie überall treffen. Hier suchte sie sich instinktmäßig das ›politisch-literarische größte Tier‹ aus, um es festzunageln. Ganz von der Idee besessen, wie sie Mr. Chalfont festnageln könnte, übersah sie ein Drama, das sich draußen abspielte.



Michael war oben auf der Treppe stehengeblieben, da ihm der Sinn nicht nach Unterhaltung und Geplänkel stand. Er lehnte gegen das Geländer; wespenschlank in seiner weißen Weste und die Hände tief in den Hosentaschen, beobachtete er die Drehungen und Windungen von Fleurs weißem Hals und lauschte den Balkanliedern, fast ohne überhaupt zu denken. Bei dem Wort: ›Mont‹ schrak er zusammen. Wilfrid stand gerade unter ihm. Mont! Seit zwei Jahren hatte Wilfrid ihn nicht mehr so genannt.



»Komm herunter!«



Auf dem Treppenabsatz stand eine Büste von Lionel Cherrell, Königlichem  Rat, von Boris Strumolowski, in dem Genre, das er aus Zynismus angenommen hatte, als June Forsyte es aufgegeben, seinen wahren, aber nicht anerkannten Genius zu unterstützen. In der Ausstellung der Royal Academy in jenem Jahre war die Büste von den andern fast nicht zu unterscheiden gewesen, und die jungen Cherrells machten sich nun einen Spaß daraus, ihr einen Schnurrbart anzumalen.



Neben dieser Statue lehnte Desert mit geschlossenen Augen an der Wand. Sein Gesicht war für Michael ein Rätsel.



»Was ist geschehen, Wilfrid?«



Desert rührte sich nicht. »Du sollst es wissen. Ich liebe Fleur.«



»Was?«



»Ich mag nicht hinterm Berg halten. Du hast mit mir zu rechnen. Tut mir leid, aber es ist einmal so. Schlag zu!« Sein Gesicht war totenblaß und dessen Muskeln zuckten. Bei Michael war es umgekehrt, sein Herz begann zu zucken. Was für ein ganz abscheulicher und so seltsam schrecklicher Augenblick! Sein bester Freund – sein Brautführer! Instinktiv tastete er nach seinem Zigarettenetui, instinktiv bot er es Desert an. Instinktiv nahmen sie beide Zigaretten und gaben sich gegenseitig Feuer. Dann sagte Michael: »Fleur – weiß es?«



Desert nickte. »Sie weiß nicht, daß ich es dir sage, sie hätte es nicht erlaubt. Du kannst ihr nichts vorwerfen – noch nicht.« Und die Augen geschlossen, fügte er hinzu: »Ich kann nichts dafür.« Das war Michaels eigener unterbewußter Gedanke. Natürlich! Natürlich! Es war absurd, nicht zu sehen, wie natürlich es war. Dann verschloß sich etwas in ihm gegen Desert, und er sagte: »Anständig von dir, es mir mitzuteilen; aber wirst du nun nicht – abreisen?«



Deserts Schultern zuckten gegen die Wand zurück.



»Ich hab es anfangs geglaubt, aber es scheint nicht so.«



»Scheint nicht? Das verstehe ich nicht.«



»Wenn ich ganz sicher wüßte, daß ich keine Aussichten hätte – aber ich weiß es nicht sicher«, und plötzlich blickte er Michael ins Gesicht: »Es hat jetzt keinen Sinn mehr, uns gegenseitig mit Glacéhandschuhen anzufassen. Ich bin verzweifelt, und ich entreiße sie dir, wenn ich kann.«



»Mein Gott!« sagte Michael. »Das geht zu weit!«



»Jawohl! Sag mir's nur gründlich! Aber wenn ich daran denke, daß du jetzt mit ihr heimgehst, während ich –« er stieß ein grauenhaftes kurzes Lachen aus, »dann rate ich dir, mir

nichts

 zu sagen!«



»Gut!« entgegnete Michael. »Da es sich hier um keinen Dostojewskij-Roman handelt, so ist, glaube ich, kein Wort weiter drüber zu verlieren.«



Desert trat einen Schritt vor und legte die Hand auf die Büste Lionel Cherrells.



»Wenigstens begreifst du, daß ich mein möglichstes getan hab – meine Aussichten vielleicht ruiniert – wenn ich dir's jetzt sagte. Ich hab wenigstens keine Bombe geworfen, ohne vorher Krieg erklärt zu haben.«



»Nein«, sagte Michael düster.



»Schmeiß meine Bücher hinaus, irgendein anderer Verleger soll sie übernehmen.«



Michael zuckte die Achseln.



»Also gute Nacht!« sagte Desert. »Tut mir leid, so primitiv zu sein.«



 Michael blickte seinem Brautführer gerade ins Gesicht. Den Ausdruck bitterster Verzweiflung darin konnte man nicht mißverstehen. Er machte eine halbe Bewegung mit der Hand, rief halb seinen Namen ›Wilfrid‹ und stieg dann die Treppe empor, während Desert hinunterging.



Als er wieder auf seinem Beobachtungsposten gegen das Treppengeländer gelehnt stand, versuchte er sich weiszumachen, daß das Leben doch eigentlich zum Lachen sei, aber es gelang ihm nicht. Seine Position verlangte die Klugheit einer Schlange, den Mut eines Löwen und die Sanftmut einer Taube; und er war sich nicht bewußt, diese sprichwörtlichen Tugenden zu besitzen. Wenn Fleur ihn so geliebt hätte, wie er sie liebte, so hätte er für Wilfrid wahres Mitgefühl empfinden können. Es war so natürlich, sich in Fleur zu verlieben. Aber sie liebte ihn nicht, o nein, sie liebte ihn nicht! Michael besaß eine Tugend, wenn man es überhaupt eine Tugend nennen konnte: eine bescheidene Meinung von sich selbst und die Neigung, von seinen Freunden nur das Beste zu glauben. Er hatte eine hohe Meinung von Desert gehabt; und – seltsamerweise dachte er auch jetzt nicht niedrig von ihm. Da war sein Freund, der ihm eine tödliche Schmach antun, der ihm die Liebe seiner Frau abspenstig machen wollte, ehrlich gesagt ihre Zuneigung, und dennoch hielt er ihn nicht für einen Schurken. Er wußte, daß eine solche Duldsamkeit fehl am Platze war; aber Willensfreiheit und die Freiheit, sich nach eigenem Ermessen zu binden, waren für ihn nicht nur literarische Begriffe, sie waren ein Teil seiner Natur. Härte, so wünschenswert sie auch immer sein mochte, würde er nicht anwenden können. Und etwas wie Verzweiflung zerriß sein Herz, als er die kleinen Tricks beob

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