Der weiße Affe

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Musik

Weil Fleur und Michael Mont sich von dem bedeutenden und gültigen Gesetz gesellschaftlicher Beziehungen leiten ließen, nicht etwa weil sie sich ein Vergnügen erwarteten, besuchten sie das Konzert von Hugo Solstis. Außerdem waren sie der Meinung, daß Solstis, ein Engländer von russisch-holländischer Herkunft, zu den Erneuerern der englischen Musik gehörte: er befreite sie vom Zwang der Melodie und des Rhythmus und gab ihr so ungehemmte Möglichkeiten der Entwicklung, und zugleich stattete er sie mit literarischen und mathematischen Reizen aus. Niemals konnte man einem Konzert eines Künstlers dieser Schule beiwohnen, ohne beim Weggehen das Wort ›interessant‹ im Munde zu führen. Bei dieser erneuerten englischen Musik einzuschlafen, war ebenfalls ganz unmöglich. Fleur, die einen gesunden Schlaf hatte, hatte es nicht einmal versucht. Michael dagegen hatte es getan und sich danach beklagt, er habe so ungefähr das Gefühl gehabt, auf dem Bahnhof von Lüttich eingenickt zu sein. An diesem Abend hatten sie wieder die Sitze am Mittelgang in der ersten Reihe des Balkons, für die Fleur eine Art selbstverständliches Monopol besaß. Dort konnten Hugo und die übrigen sie sehen, wie sie ihren Platz in der englischen Erneuerungsbewegung einnahm. Von dort konnte man auch leicht in den Korridor entwischen, um mit den Herren Kunstkennern in Koteletten das Wort ›interessant‹ zu tauschen; oder man konnte rasch eine Zigarette dem kleinen goldenen Etui entnehmen, einem Hochzeitsgeschenk der Kusine Imogen Cardigan, um ein oder zwei Züge lang auszuruhen. Ehrlich gesagt, Fleur besaß ein natürliches Gefühl für Rhythmus, das peinlich berührt war während der langen und ›interessanten‹ Stücke, die gewissermaßen des Komponisten Aufstieg und Fall von seinem Dornenbett symbolisierten. Ganz im geheimen liebte sie Melodien, und die Unmöglichkeit, dies jemals zu beichten, ohne Solstis, Baff, Birdigal, Mac Lewis, Clorane und all die andern englischen Erneuerungskomponisten zu verlieren, heischte von ihrer Natur, die ihre spartanischen Züge hatte, manchmal die äußerste Selbstüberwindung. Nicht einmal Michael wollte sie ›beichten‹ und es war obendrein noch eine Qual, wenn er mit seiner angeborenen Respektlosigkeit vor Persönlichkeiten, die das Leben im Schützengraben und im Bureau eines Verlegers noch verstärkt hatte, manchmal murmelte: ›Herrgott! Komm doch endlich zur Sache!‹ oder ›Donnerwetter, dem ist aber übel!‹ Und dabei wußte sie ganz genau, daß Michael die Sache viel besser ertragen konnte als sie selber, da er wissenschaftlich gebildeter war und ihn der Trieb zu tanzen nicht so in den Fußspitzen juckte.

Das erste Thema der neuen Komposition von Solstis, ›Phantasmagoria Piemontesque‹, derenthalben sie eigens gekommen waren, begann mit einigen langgezogenen Akkorden.

»Au weh!« flüsterte ihr Michael ins Ohr. »Drei Möbelstücke werden gleichzeitig über einen Parkettboden geschleift!«

In Fleurs unwillkürlichem Lächeln lag das ganze Geheimnis, warum ihre Ehe doch erträglich war. Schließlich war Michael so ein lieber Kerl! Tiefes Gefühl und quecksilbriger Geist – Spaßmacher und treuer Liebhaber – alles zusammen reizte und rührte sogar ein Herz, das schon vergeben war, ehe es ihm geschenkt wurde. ‹›Gefühl‹ ohne ‹›Reiz‹ hätte sie gelangweilt, ‹›Reiz‹ ohne ‹›Gefühl‹ hätte sie irritiert. In diesem Augenblick kam er ihr höchst anziehend vor! Er hörte jenem Eröffnungsthema in einer Art und Weise zu, die Fleurs Bewunderung erzwang; die Hände hielten die Knie umklammert, seine Ohren standen ab, die Augen waren ganz glasig vor lauter Loyalität zu Hugo und seine Zunge spielte in der Wange. Das Stück war wohl ‹›interessant‹ – während sie scheinbar aufmerksam zuhörte, hing sie innerlich ihren Gedanken nach, wie das jetzt oft bei ihr vorkam. Da drüben saß L. S. D., der ‹›Über-Dramatiker‹; sie kannte ihn nicht – noch nicht. Er sah eigentlich erschreckend aus, sein Haar war so kerzengerade in die Höhe gebürstet. Und sie stellte sich vor, wie er sich gegen den Hintergrund eines chinesischen Bildes und auf ihrem kupfernen Fußboden ausnehmen würde. Und dort – ja! Gurdon Minho! Wie merkwürdig, daß er zu so etwas Modernem ging! Sein Profil sah wirklich etwas römisch aus, Zeitalter des Mark Aurel! Mit dem angenehmen Gedanken, daß morgen um diese Zeit diese Antiquität wahrscheinlich schon ihrer Sammlung angehören würde, ließ sie ihre Blicke weitergleiten und sortierte gewissermaßen die Versammlung, Gesicht um Gesicht, denn sie wollte keine einzige Größe übersehen haben.

Die ‹›Möbelstücke‹ waren ganz plötzlich zur Ruhe gekommen.

»Interessant!« sagte eine Stimme über ihrer Schulter. Aubrey Greene! Ungreifbar, wie mondbestrahlt, mit dem seidenen blonden Haar, das er glatt zurückgestrichen trug, und den grünlichen Augen; wenn er lächelte, wurde sie nie das Gefühl los, daß er sich über sie lustig mache. Aber er war ja auch ein Karikaturenzeichner!

»Ja, nicht wahr?«

Er schlängelte sich davon. Er hätte schon ein wenig länger bleiben können – für irgend einen andern war keine Zeit mehr, ehe Birdigal mit seinen Liedern anfing. Da kam auch schon der Sänger Charles Powls! Wie dick und brav er aussah, wie er so den kleinen Birdigal zum Klavier schleppte.

Eine reizende Begleitung – anmutig plätschernd, melodiös!

Der dicke brave Mann fing an zu singen. Er sang so anders als die Begleitung war! Der Gesang hämmerte mit jeder Note derart auf ihren plexus solaris los, daß ihr mit mathematischer Sicherheit Hören und Sehen verging. Birdigal mußte beim Komponieren in ständiger Angst gelebt haben, daß jemand sein Lied ‹›sangbar‹ finden könnte. Sangbar! Fleur wußte, wie ansteckend das Wort war; wie Masern würde es sich durch die ganze Gesellschaft ausbreiten, und dann war es um Birdigal geschehen! Der arme Birdigal! Aber ‹›interessant‹ war es auf jeden Fall. Nur, wie Michael sagte: »Herrgott noch einmal!«

Drei Lieder! Powls war wundervoll – so loyal! Niemals traf er einen Ton so, daß es wie Musik klang! Ihre Gedanken flatterten zu Wilfrid. Ihm allein von allen jüngeren Dichtern gestand man das Recht zu, etwas zu sagen; das gab ihm eine so eigene Position – er schien aus dem Leben zu kommen und nicht aus der Literatur. Außerdem hatte er allerhand im Krieg geleistet, war ein Sohn von Lord Mullyon, würde wahrscheinlich den Mercer-Preis, eine hohe Auszeichnung, für seine ›Kleine Münze‹ erhalten. Wenn Wilfrid sie verließ, so fiel ein Stern vom Firmament über ihrem Kupferfußboden. Er hatte kein Recht, sie im Stich zu lassen. Er mußte lernen, nicht so heftig zu sein, nicht so – körperlich zu denken. Nein, sie konnte sich Wilfrid nicht entschlüpfen lassen. Sie konnte aber auch keine Sentimentalität mehr in ihrem Leben dulden, keine verzehrende Leidenschaft mehr, die zu nichts führte und nur einen bitteren Nachgeschmack zurückließ. Davon hatte sie genug gekostet. Noch immer spürte sie einen dumpfen, warnenden Schmerz.

Birdigal verbeugte sich, Michael sagte: »Gehn wir hinaus auf eine Zigarette! Das nächste Stück ist eine Niete.« Oh! Ah! Beethoven. Der arme alte Beethoven! So antiquiert – und doch hörte man ihn ganz gern!

Im Korridor und Buffetraum wimmelte es von Anhängern der Restaurationsbewegung. Junge Männer und Frauen mit Gesichtern und Köpfen von lebhaftem und verschrobenem Charakter tauschten untereinander das Wort ›interessant‹. Männer von mehr massivem Typus, die Matadoren mit sitzender Lebensweise glichen, behinderten die Bewegungsfreiheit. Fleur und Michael gingen ein kurzes Stück, lehnten sich dann an die Wand und zündeten ihre Zigaretten an. Fleur rauchte sehr zierlich – eine ganz winzige Zigarette in einer winzigen Bernsteinspitze. Es hatte den Anschein, als ob sie den blauen Rauch viel lieber bewunderte als hervorbrächte. Sie mußte auch an Sphären denken, die jenseits dieser Menge lagen – man konnte nie wissen, wer hier war! – die Sphäre zum Beispiel, in der Alison Cherrell lebte: politisch-literarisch, vorurteilslos im Geschmack, aber wie Michael sich immer ausdrückte, ›so überzeugt davon, daß sie die einzige Gesellschaftssphäre überhaupt sind, ebenso wie ein Gesundheitsapostel von seinem System durchdrungen ist; man muß sich nur ansehn, wie sie fortwährend einer über den andern Memoiren schreiben!‹ Sie fürchtete immer, daß Leute dieser Sphäre das Rauchen der Frauen in öffentlichen Gebäuden vielleicht nicht billigen würden. Auf eine vorsichtige Weise den Bilderstürmern sich anschließend, vergaß sie doch nie, daß sie mit ihren beiden Beinen zumindest in zwei ganz verschiedenen Welten stand. Während sie beobachtete, was links und rechts von ihr vorging, bemerkte sie an die Wand gelehnt einen, dessen Gesicht hinter dem Programm verborgen war. ›Wilfrid‹, dachte sie, ›und er tut so, als sähe er mich nicht!‹ Gekränkt wie ein Kind, dem man einen Sixpence stibitzt hat, sagte sie: »Dort ist Wilfrid! Hol' ihn her, Michael!«

Michael ging zu seinem Brautführer hinüber und berührte seinen Arm. Desert blickte stirnrunzelnd von seinem Programm auf. Sie sah, wie er die Achseln zuckte, sich umwandte und in der Menge verschwand. Michael kam zurück.

»Wilfrid hat heute abend einen Rappel; er sagt, er paßt heute nicht in menschliche Gesellschaft – sonderbarer Kauz!«

Wie blind die Männer doch waren! Michael bemerkte nichts, weil Desert sein Freund war, und das war ein Glück! So war Wilfrid fest entschlossen, sie zu meiden! Na, man würde ja sehen! Und sie sagte: »Ich bin müde, Michael, gehen wir nach Hause.«

Er ließ die Hand durch ihren Arm gleiten.

»Das tut mir leid, mein Herz, gehn wir!«

Einen Augenblick blieben sie in einer Seitentür stehen, um Woomans, den Dirigenten, zu beobachten, der zum Orchester hinaufstürzte.

»Da schau ihn an«, sagte Michael, »wie eine Vogelscheuche, die man aus einem venetianischen Fenster hinausgehängt hat und deren ausgestopfte Arme und Beine im Winde flattern! Und schau die Frapka und ihren Flügel an – welch turbulentes Paar!«

 

Ein seltsamer Ton erklang.

»Himmel, eine Melodie!« sagte Michael.

Ein Diener murmelte leise: »Jetzt muß ich die Tür schließen.« Fleur sah noch einmal flüchtig L. S. D., der mit geschlossenen Augen, aufrecht wie seine Frisur, dasaß. Die Tür wurde geschlossen – sie standen draußen im Vestibül

»Wart hier, mein Schatz, ich werd ein Wägelchen auftreiben.«

Fleur vergrub ihr Kinn im Pelz. Es herrschte östlicher Wind und Kälte. Da sagte eine Stimme hinter ihr: »Nun, Fleur, soll ich ostwärts gehn?«

Wilfrid! Den Kragen bis zu den Ohren hochgestellt, die Zigarette zwischen den Lippen und die Hände in den Taschen, so verschlang er sie mit dem Blick.

»Wilfrid, du bist wirklich albern!«

»Alles was du willst. Soll ich ostwärts gehn?«

»Nein, Sonntag vormittag – elf Uhr in der Tate-Galerie. Wir wollen alles durchsprechen.«

»Abgemacht!« Und fort war er.

Wie sie so plötzlich wieder allein war, fühlte Fleur zum ersten Mal die erschreckende Wirklichkeit. Würde Wilfrid sich wirklich nicht zur Vernunft bringen lassen? Ein Taxi fuhr vor, Michael winkte, Fleur stieg ein.

Als sie an einer grell beleuchteten Gruppe junger Damen vorbeifuhren, die den interessierten Londonern die höchste Vollendung Pariser Unangezogenheit vorführten, fühlte sie, wie Michael sich zu ihr neigte. Wenn sie Wilfrid behalten wollte, mußte sie nett zu Michael sein. Nur: »Du brauchst mich nicht gerade in Piccadilly Circus zu küssen, Michael!«

»Tut mir leid, Kätzchen! Es war ein bißchen verfrüht – ich wollte dich gerade gegenüber dem ›Partheneum‹ erwischen.«

Fleur erinnerte sich, wie er die ersten vierzehn Tage ihrer Flitterwochen auf einem unbequemen spanischen Sofa geschlafen hatte; wie er immer darauf bestand, daß sie kein Geld für ihn ausgeben solle, und daß sie sich immer noch von ihm schenken lassen mußte, was ihm gefiel, obgleich sie dreitausend Pfund im Jahr erhielt und er nur zwölfhundert; wie er aus dem Häuschen geriet, wenn sie nur einen Schnupfen hatte, und wie er immer zum Tee nach Hause kam. Ja, er war wirklich ein lieber Kerl! Aber würde ihr das Herz brechen, wenn er morgen nach dem Osten oder Westen ginge?

Während sie an ihn geschmiegt dasaß, war sie überrascht von ihrem eigenen Zynismus.

In der Halle lag ein Zettel mit einer telephonischen Mitteilung: ›Bitte, sagen Sie Mrs. Mont, daß Mr. Gurdon Minho kommt. Lady Alison.‹

Das war eine Beruhigung. Eine wirkliche Antiquität! Sie drehte die Lichter an und stand einen Augenblick in Bewunderung ihres Zimmers versunken. Wirklich hübsch! Ein leichtes Schnaufen kam aus der Ecke. Ting-a-ling lag goldbraun auf seinem schwarzen Kissen wie ein kleiner chinesischer Löwe da, fremd und erhaben, er hatte gerade seine Abendunterhaltung an den Gittern des Platzes beendet.

»Ja, du bist auch da!« sagte Fleur.

Ting-a-ling rührte sich nicht. Seine runden, schwarzen Augen beobachteten, wie seine Herrin sich entkleidete. Als sie aus dem Badezimmer zurückkam, war er schon zu einer Kugel zusammengerollt. Fleur dachte: ‹›Sonderbar! Woher weiß er, daß Michael heute abend nicht zu mir kommt?‹ Und in ihr gut gewärmtes Bett schlüpfend, rollte auch sie sich zusammen und schlief ein.

Aber ganz gegen ihre Gewohnheit erwachte sie während der Nacht. Ein langer, unheimlich gedehnter Ruf erklang – von irgendwoher – von der Themse – von den Elendsvierteln in der Nähe; Erinnerungen stiegen auf – heftig, schmerzhaft – an ihre Flitterwochen – Granada, seine Dächer tief unten, Jet, Elfenbein, Gold; des Wächters Ruf, die Verse in Jons Brief:

›Ruf in der Nacht! Tief unten im Dunkel der alten

Schlafenden spanischen Stadt, unter den weißen Sternen!

Was will der Ruf? – Sein angstvoll dauernd Klagen?

Ist's der des Wächters, der sein zeitlos Lied der Ruhe singt?

Ist's nur ein Wandersmann, der Lieder singt dem Mond?

Nein! Ein Beraubter ist's, des liebend Herz der Klage voll.

Es ist sein Schrei: Wie lang noch?‹

Ein Ruf, oder hatte sie es nur geträumt? Jon, Wilfrid, Michael! Vergeblich, ein Herz zu haben!

4.
Dinner

Lady Alison Cherrell, geborene Heathfield, die Tochter des ersten Earl of Campden und die Gemahlin des Königlichen Rates Lionel Cherrell, Michaels jungen Onkels, war eine entzückende Engländerin, unter Menschen aufgewachsen, die man für die Seele der Gesellschaft hielt. Diese Gesellschaft, die eine Fülle von Geist, Energie, Geschmack und Geld besaß, entstammte Generationen von Politikern und Rechtsgelehrten, deren Blut durch Verbindungen mit Aristokraten blau gefärbt war, hatte aber nichts mit dem Snooks-Klub und den langweiligen Zufluchtsstätten der durch Geburt und Privilegien Begünstigten zu tun. Die Gesellschaft war reizend und lustig, frisch und frei und nach Michaels Meinung ›snobistisch und altmodisch in ästhetischer und intellektueller Hinsicht, aber einsehen werden sie's nie. Sie halten sich für die Krone der Schöpfung, für aufgeweckt, gesund, modern, vornehm und intelligent. Sie können sich einfach nicht vorstellen, daß es noch ihresgleichen gibt. Aber sie haben zu wenig Phantasie. Ihre wirklich schöpferischen Taten kann man an den fünf Fingern abzählen. Man muß sich nur ihre Bücher ansehen: immer schreiben sie über irgend etwas – über Philosophie, Spiritualismus, Poesie, Fischerei, oder über sich selbst. Sogar ihre Sonette versiegen, ehe sie fünfundzwanzig Jahre alt sind. Alles kennen sie, nur die Menschen außerhalb ihrer Gesellschaftsschicht nicht. Ja, arbeiten – das tun sie schon – sind Hans Dampf in allen Gassen; das müssen sie ja sein, denn niemand hat so viel Verstand, Energie und Geschmack wie sie. Aber sie drehen sich fortwährend in ihrem eigenen verwünschten Kreis herum. Der ist ihre Welt – und die könnte noch schlechter sein. Sie haben auf ihr eigenes Goldenes Zeitalter ein Patent genommen; aber seit dem Krieg zeigt sich schon ein wenig Fliegenschiß darauf.‹

Alison Cherrell, Gesellschaftsdame durch und durch, so energisch-seelenvoll, so freundlich, ungezwungen und gemütlich, wohnte in fast unmittelbarer Nähe von Fleur, in einem Hause, das so hübsch gebaut war wie nur irgend eines in London. Mit vierzig Jahren besaß sie drei Kinder und war von ansehnlicher Schönheit, die ganz leise Spuren ihrer geistigen und körperlichen Tätigkeit aufwies. Da sie sich leicht begeisterte, hatte sie Michael gern, trotz seiner seltsamen Art zu kritisieren, so daß sein Eheabenteuer ihr Interesse von Anfang an erregt hatte. Fleur besaß feinen Geschmack und eine rasche, natürliche Auffassungsgabe – es lohnte sich wohl, diese neue Verwandtschaft zu kultivieren. Aber obgleich Fleur aufnahms- und anpassungsfähig war, so paßte sie sich merkwürdigerweise durchaus nicht an; sie erregte noch immer die Neugier Lady Alisons, die an den engen Kreis auserwählter Geister gewöhnt war und nun einen gewissen Reiz im Kontakt mit Leuchten der Neuen Zeit fand, die sich auf Fleurs Kupferfußboden trafen. Dort stieß sie auf eine Respektlosigkeit, die, obwohl nicht allzu ernst genommen, sie doch stark aufmunterte. Auf jenem Boden kam sie sich fast altmodisch vor. Das gerade, stachelte ihren Ehrgeiz an.

Nach Fleurs telephonischer Anfrage wegen Gurdon Minho hatte sie den Schriftsteller angerufen. Sie kannte ihn, wenngleich nicht sehr gut. Niemand schien ihn gut zu kennen – er war liebenswürdig, höflich, schweigsam, ziemlich zurückhaltend und langweilig. Sein Lächeln, das manchmal ironisch, manchmal freundlich war, konnte einen aus der Fassung bringen. Seine Bücher waren bald beißend spöttisch, bald sentimental. Auf jeden Fall war es beinahe Mode, ihn abzukanzeln, obgleich er noch immer zu existieren schien!

Sie rief ihn an: Ob er morgen zum Dinner zu ihrem jungen Neffen, Michael Mont, kommen wolle, um dort die jüngere Generation zu treffen? Seine Antwort kam mit ziemlich hoher Stimme: »Herzlich gern! In voller Gala oder Smoking?«

»Das ist wirklich reizend von Ihnen! Man wird sich so freuen. Volle Gala, glaub ich. Es ist ihr zweiter Hochzeitstag.« Als sie das Hörrohr zurückhängte, dachte sie: ›Wahrscheinlich schreibt er ein Buch über die Leute!‹

Da sie sich ihrer Verantwortung bewußt war, ging sie früh hin.

Ihr Gatte hatte eine große Versammlung in der Advokatenkammer, so daß sie allein kam und das Gefühl hatte, ein Abenteuer zu erleben. Das war sehr angenehm nach einem Tag, den sie in unschlüssiger Erregung über das Ergebnis im Snooks-Klub verbracht hatte. Sie wurde nur von Ting-a-ling empfangen, der mit dem Rücken zum Feuer lag, sie anstarrte und weiter keine Notiz von ihr nahm. Sie ließ sich auf dem graugrünen Sofa nieder und sagte: »Na, du komischer kleiner Kauz, kennst du mich nach so langer Zeit noch immer nicht?«

Ting-a-lings glänzende schwarze Augen schienen zu sagen: ›Ich weiß, daß du immer wiederkehrst; die meisten Dinge kehren immer wieder. Es gibt nichts Neues in der Welt.‹

Lady Alison verfiel in Sinnen: Die neue Generation! Wünschte sie denn, daß ihre eigenen Töchter dazugehörten? Sie würde gern einmal mit Mr. Minho darüber sprechen – vor dem Krieg hatte sie einmal dort in Beechgroves ein sehr nettes Gespräch mit ihm geführt. Das war vor neun Jahren gewesen. So verging die Zeit, und alles änderte sich. Eine neue Generation! Und worin lag denn der Unterschied? »Ich glaube, wir besaßen mehr Tradition«, sagte sie leise zu sich.

Ein schwaches Geräusch ließ sie von ihren Füßen aufblicken, die sie gedankenvoll angestarrt hatte. Ting-a-ling bewegte seinen Schwanz auf der Matte hin und her, als applaudiere er. Fleurs Stimme sagte hinter ihr: »Ich komme schrecklich spät, liebste Alison. Es war wirklich reizend von dir, mir Mr. Minho zu verschaffen. Hoffentlich vertragen sie sich alle. Auf jeden Fall wird er zwischen uns beiden sitzen: ich setze ihn an die Spitze der Tafel und Michael an das Ende zwischen Pauline Upshire und Amabel Nazing, Sibley zu deiner Linken, Aubrey zu meiner Rechten, neben ihn Nesta Gorse und Walter Nazing, ihnen gegenüber Linda Frewe und Charles Upshire. Zwölf. Du kennst sie alle. Oh, und bitte, nimm es Nesta und den Nazings nicht übel, wenn sie zwischen den Gängen rauchen. Amabel läßt sich davon nicht abhalten. Sie kommt aus Virginien – es ist die Reaktion. Ich hoffe nur, daß sie wenigstens etwas wie Kleider anhat, wenn Michael auch sagt, daß gerade das ein Fehler von ihr wäre. Da Mr. Minho heute kommt, bin ich ein wenig nervös. Hast du Nestas Parodie im ›Bouquet‹ gelesen? Oh, das ist doch schrecklich lustig – ganz klar auf L. S. D. gemünzt! Ting, lieber Ting, wirst du denn hierbleiben, wenn alle die Leute kommen? Na, dann leg dich hier hinauf, sonst wird man auf dich treten. Sieht er nicht ganz chinesisch aus? Er verleiht diesem Zimmer gewissermaßen die letzte Vollendung.«

Ting-a-ling lag mit der Schnauze auf den Vorderpfoten mitten auf einem grau-grünen Kissen.

»Mr. Gurdon Minho!«

Der berühmte Romancier sah blaß und gefaßt aus. Während er die beiden ihm entgegengestreckten Hände schüttelte, starrte er Ting-a-ling an und sagte: »Wie hübsch! Sei gegrüßt, mein Kleiner!«

Ting-a-ling rührte sich nicht. ›Sie halten mich also für einen, ganz gewöhnlichen englischen Hund, mein Herr?‹ schien sein Schweigen zu sagen.

»Mr. und Mrs. Walter Nazing, Miss Linda Frewe.«

Amabel Nazing trat zuerst ein, unverhüllter Alabaster vom blonden Haar abwärts bis zu den sechs Zoll schimmernden Rückens über der Taille, verhüllter Alabaster von vier Zoll unter dem Knie bis zu den schimmernden Spitzen ihrer Schuhe. Der hervorragende Romancier wandte unwillkürlich seinen Blick von Ting-a-ling ab.

Walter Nazing, der seiner Frau folgte, die er um ein gut Stück überragte, ließ nur einen winzigen weißen Kragenrand aus Schwaden von Schwarz hervorscheinen, und sein Gesicht, das vor hundert Jahren gemeißelt schien, ähnelte leicht dem Shelleys. Auch seine literarischen Produktionen ähnelten manchmal, wie behauptet wurde, der Poesie jenes Barden und manchmal der Prosa von Marcel Proust. ›Au weh!‹ wie Michael sagte.

Über Linda Frewe, die Fleur sofort mit Gurdon Minho bekannt machte, waren noch nie zwei Leute in ihrem Salon einig gewesen. Die Meinungen über ihre Werke ›Nichtigkeiten‹ und ›Der wütende Don‹ waren vollkommen geteilt. Diese Bücher, die nach der Ansicht einiger genial, nach andern Faseleien waren, erregten immer eine interessante Debatte, ob ein klein wenig Verrücktheit den Wert der Kunst vermehre oder vermindere. Sie selber legte wenig Wert auf Kritik – sie schuf.

 

» Der Mr. Minho? Wie interessant! Ich habe noch nie etwas von Ihnen gelesen.«

»Wie, du kennst nicht Mr. Minhos Katzen? Aber sie sind doch wundervoll. Mr. Minho, ich möchte so gern, daß Mrs. Walter Nazing Ihre Bekanntschaft macht. Amabel – Mr. Gurdon Minho.«

»Oh, Mr. Minho, wie wunderbar nett! Ich wünschte mir schon als Baby Ihre Bekanntschaft, zu machen.«

Fleur hörte den Romancier ruhig erwidern: »Ich wollte, es wäre noch früher gewesen«, und ging von Zweifeln befangen zu Nesta Gorse, um sie und Sibley Swan zu begrüßen, die hereinkamen, als ob sie zusammenlebten: sie stritten gerade über L. S. D. Nesta trat für ihn ein, weil er so laut seinen eigenen Ruhm verkündete, während Sibley dabei blieb, daß die Erneuerungsbewegung dem Witz ein Ende gemacht hätte; dieser Bursche aber lebte!

Michael folgte mit den Upshires und Aubrey Greene, den er in der Halle getroffen hatte. Die Gesellschaft war vollzählig.

Fleur schwärmte für Vollkommenheit und empfand an diesem Abend etwas wie Alpdrücken. War es ein Erfolg? Es war so offenbar, daß Minho von allen Anwesenden am wenigsten brillierte; sogar Alison verstand sich besser zu unterhalten. Und doch hatte er einen so feinen Schädel. Wenn er nur nicht etwa früh nach Hause ging! Sie konnte darauf wetten, daß jemand sagen würde: ›Eine Antiquität!‹ oder ›fad und kahlköpfig!‹, ehe sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte. Er war rührend nett, als ob ihm daran läge, daß man ihn gern habe oder wenigstens nicht zu sehr verachte. Und es mußte natürlich mehr in ihm stecken, als seine Worte jetzt verrieten. Nach der Krabbenomelette schien er sich tatsächlich mit Alison über die Jugend zu unterhalten. Fleur hörte mit einem Ohr zu.

»Jugend fühlt …Hauptstrom des Lebens …findet nicht, was sie braucht. Vergangenheit und Zukunft von einem Heiligenschein umstrahlt sehen …Stimmt! …Das gegenwärtige Leben ist nichts wert …Nein … Der einzige Trost für uns – wir werden eines Tages veraltet sein wie Congreve, Sterne, Defoe …wir werden eine Möglichkeit haben? …Warum? Was treibt sie denn weg von dem Hauptstrom? Oh! Wahrscheinlich Übersättigung …Zeitungen …Photographien. Sie sehen nicht das Leben selbst, nur Berichte …Wiedergaben des Lebens; alles erscheint ihnen schäbig, unsauber und spekulativ …Die Jugend sagt: ›Weg damit, wir wollen die Vergangenheit oder die Zukunft!‹«

Er nahm einige gesalzene Mandeln und Fleur sah, wie seine Augen über die Schultern Amabel Nazings hinglitten. Dort unten war die Konversation das reine Ballspiel – jeder empfing den Ball, um ihn gleich wieder weiterzugeben. Er flog von Kopf zu Kopf. Und nach jedem Angriff streckte jemand die Hand aus, nahm eine Zigarette und blies eine blaue Wolke über den Speisetisch, auf dem keine Decke lag. Fleur erfreute sich an dem Glanz ihres spanischen Zimmers, an dem mit Fliesen belegten Fußboden, den farbenprächtigen Früchten aus Porzellan, dem gepreßten Leder, den Kupfergegenständen und Soames' Goya über dem maurischen Diwan. Wenn der Ball zu ihr kam, gab sie ihn prompt weiter, aber sie ergriff nie die Initiative. Ihre Gabe war, alles gleichzeitig zu bemerken, Mrs. Michael Mont präsentierte die brillanten Nichtigkeiten Linda Frewes, die Anregungen und Nadelstiche von Nesta Gorse, die wie Mondlicht nie ganz zu fassenden Andeutungen von Aubrey Greene, die aufwühlenden Schlagworte von Sibley Swan, Amabel Nazings kleine, kühle amerikanische Kühnheiten, die sonderbaren kurzen Anekdoten von Charles Upshire, Walter Nazings aufreizende Widersprüche, die kritischen verwickelten Bemerkungen von Pauline Upshire, Michaels lustig-unbekümmerte Schleudern und Pfeile, sogar Alisons kluge Lebendigkeit und Gurdon Minhos Schweigen – das alles präsentierte sie gleichzeitig, setzte es ins beste Licht und hielt Auge und Ohr auf den Ball der Unterhaltung gerichtet, damit er ja nicht zu Boden falle und liegenbleibe. Ein brillanter Abend, aber – war es ein Erfolg?

Auf dem graugrünen Sofa saß sie, nachdem der letzte Gast gegangen war und Michael Alison nach Haus begleitete, und dachte an Minhos ›Jugend, die nicht findet, was sie braucht‹. Nein! Die Dinge paßten nicht zusammen. »Passen nicht zusammen, nicht wahr, Ting?« Aber Ting-a-ling war müde, nur die Spitze eines seiner Ohren zitterte. Fleur lehnte sich seufzend zurück. Ting-a-ling rollte sich auf, legte seine Vorderpfoten auf ihr Bein und blickte ihr ins Gesicht ›Schau mich an‹, schien er zu sagen, ›mir geht es gut. Ich bekomme, was ich will, und ich will, was ich bekomme. Jetzt will ich schlafen gehn.‹

»Aber ich will nicht!« sagte Fleur, ohne sich zu rühren.

›Nimm mich nur auf den Arm!‹ sagte Ting-a-ling.

»Na ja«, sagte Fleur, »ein netter Mensch, aber nicht der richtige, Ting.«

Ting-a-ling legte sich auf ihren bloßen Armen zurecht.

›Alles ganz schön und gut‹, schien er zu sagen. ›Aber es gibt zu viel Sentimentalität und ähnliches außerhalb von China. Komm doch!‹

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