Der weiße Affe

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5.
Eva

Die Wohnung des Honourable Wilfrid Desert lag gegenüber der Bildergalerie der Cork Street. Er war das einzige männliche Mitglied der Aristokratie, dessen Verse überhaupt jemand drucken wollte. Er hatte diese Zimmer mehr wegen ihrer ruhigen Lage als wegen ihrer Bequemlichkeit gemietet. Seine Möbel jedoch waren mit dem Geschmack und Luxus ausgestattet, von dem die reichen Häuser Englands überfließen. Als Wilfrid einzog, hatte Lord Mullyon, der cornische Edelmann, zwei Möbelwagen voll von Einrichtungsgegenständen von seinem Landsitz in Hampshire geschickt. Man fand Wilfrid aber selten zu Hause und hielt ihn für einen Sonderling wegen seiner ziemlich einzigartigen Position unter den jüngeren Schriftstellern, und weil er im Ruf eines Nomaden stand. Er wußte vielleicht selbst kaum, wo er seine Zeit zubrachte oder seine Sachen schrieb, da er an einer Art krankhafter Angst vor geschlossenen Räumen litt, an einer Furcht, daß andere seine Freiheit beschränken könnten. Als der Krieg ausbrach, hatte er gerade Eton verlassen; nach Beendigung des Krieges war er dreiundzwanzig und fühlte sich so alt wie nur je ein junger Mann, der ein Gedicht zustandegebracht hat. Seine Freundschaft mit Michael, die im Spital begonnen hatte, war eingeschlafen und dann plötzlich zu neuem Leben erwacht, als Michael im Jahre 1920 in die Verlagsfirma Danby & Winter, Blake Street, Covent Garden, eintrat. Wilfrids Verse hatten den leichtsinnigen Enthusiasmus des emporkommenden Verlegers geweckt. Wilfrid mußte unbedingt literarisch festen Fuß fassen und die vertraulichen gemeinsamen Mahlzeiten hatten damit geendet, daß die Firma den eindringlichen Vorstellungen Michaels nachgab. Sie berauschten sich gegenseitig an dem ersten Buch, das Wilfried geschrieben und bei dem Michael Pate gestanden, und Michaels Hochzeitsfest setzte allem die Krone auf. Brautführer! Seit damals war Desert an jene beiden gebunden, so weit er überhaupt an irgend etwas gebunden sein konnte; doch um ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, war es ihm erst seit einem Monat klar geworden, daß die Anziehungskraft nicht von Michael, sondern von Fleur ausging. Desert sprach niemals vom Krieg. Es war unmöglich, aus seinem eigenen Munde ein Bekenntnis zu hören, das etwa folgendermaßen gelautet hätte: ›Ich habe so lange zwischen Grauen und Tod gewohnt; ich habe die Menschen kennengelernt, wie sie zuinnerst sind; ich habe die Hoffnung auf irgend etwas so gründlich aus meinem Wesen getilgt, daß ich nie mehr den geringsten Respekt vor Theorien, Versprechungen, Konventionen, Prinzipien und Morallehren haben kann. Ich habe die Menschen zu sehr gehaßt, die darin geschwelgt haben, während ich in Dreck und Blut schwelgte. Die Illusion ist weg. Keine Religion und keine Philosophie kann mich befriedigen – Worte, nichts als Worte. Ich habe noch meine Sinne, aber ihr Verdienst ist es nicht. Ich bin noch immer, wie ich finde, der Leidenschaft fähig; ich kann noch mit den Zähnen knirschen und grinsen; ich hab noch etwas von dem Kameradschaftsgefühl des Schützengrabens in mir, aber ob das Wirklichkeit ist oder nur ein Komplex, das weiß ich noch nicht. Ich bin gefährlich, aber nicht so gefährlich wie jene, die in Worten handeln, in Theorien, Prinzipien und allen Arten von fanatischem Idiotismus, der sich in Blut und Schweiß anderer Menschen auswirkt. Eines hat mich der Krieg gelehrt: das Leben als Komödie zu betrachten. Darüber lachen – das einzige, was einem übrigbleibt!‹

Als er Freitag abend das Konzert verlassen hatte, war er sofort nach Hause gegangen. Er warf sich der Länge nach auf eine Mönchsbank aus dem fünfzehnten Jahrhundert, die mit seidenen Federkissen aus dem zwanzigsten restauriert worden war, verschränkte die Arme unter dem Kopf und gab sich folgenden Gedanken hin: ›So wird es nicht weiter gehen. Sie hat mich verzaubert. Für sie bedeutet es gar nichts, aber für mich ist es die Hölle. Am Sonntag werd ich Schluß machen – in Persien ist man gut aufgehoben. Auch in Arabien ist man gut aufgehoben – Blut und Sand genug. Sie ist unfähig, irgend etwas aufzugeben. Wie sie mich bestrickt hat! Bestrickt durch ihre Augen, ihre Haare, ihren Gang und den Klang ihrer Stimme, bestrickt durch Wärme, Duft und Farbe. Die Brücken hinter sich abbrechen – das wird sie nie tun! Was dann? Soll ich an ihrem chinesischen Kamin herumlungern mit dem kleinen chinesischen Hund? Und immer dieses Fieber, diese Qual, weil ich sie nicht küssen kann? Lieber möcht ich wieder zwischen den feindlichen Granaten fliegen. Sonntag! Wie die Frauen es lieben, Höllenqualen zu verlängern! Es wird nur wieder dasselbe sein wie heute nachmittag. Wie unliebenswürdig von dir, fortzugehen, wo mir deine Freundschaft so kostbar ist! Bleib und sei doch meine zahme Katze, Wilfrid! Nein, meine Liebe, diesmal wirst du es nicht so leicht haben. Und ich auch nicht. Bei Gott!‹

Als sich am Sonntagmorgen die zwei jungen Leute in jener Galerie, die auch britischer Kunst ein Asyl bietet, vor der ›Eva‹ trafen, die an den Blumen im Garten Eden riecht, waren noch sechs Mechaniker da, in schmierigen Kleidern und übermüdet aussehend, ein Aufseher und ein Paar aus der Provinz, von denen keiner fähig schien, auch nur das geringste zu bemerken. Und tatsächlich war diese Zusammenkunft ganz unauffällig. Zwei junge Leute jener Klasse, die keine Ideale mehr hat, verdammten gemeinsam die Vergangenheit. Desert mit seiner scheinbar gleichgültigen Sprechweise, seinem Lächeln und seiner elegant-unkonventionellen Art ließ kein sehnendes Herz vermuten. Fleur war von beiden die bleichere und interessantere. Desert sagte fortwährend zu sich selbst: ›Nur kein Theater – denn etwas anderes würde es nicht sein!‹ Und Fleur dachte: ›Wenn ich ihn so in diesem ruhigen Zustand halten kann, so werd ich ihn nicht verlieren, denn solang es nicht zu einem Ausbruch seiner Leidenschaft kommt, wird er nicht weggehen.‹

Erst als sie ein zweites Mal vor der ›Eva‹ standen, sagte er: »Ich weiß nicht, warum du mich herbestellt hast, Fleur. Es hat keinen Sinn, so herumzuspielen. Ich verstehe dein Gefühl sehr gut. Ich bin ein Porzellan aus deiner Sammlung, das du nicht verlieren willst. Aber das Spielen behagt mir nicht, meine Liebe, und damit basta!«

»Wie abscheulich von dir, Wilfrid!«

»Also, hier trennen wir uns! Gib mir die Pfote!«

Er blickte sie lächelnd, aber mit einem dunklen, schicksalsschweren Blick seiner schönen Augen an, und sie sagte stammelnd: »Wilfrid, ich – ich weiß nicht. Ich brauche Zeit. Ich kann es nicht ertragen, dich unglücklich zu sehen. Geh nicht fort! Vielleicht werd ich – auch unglücklich sein. Ich – ich weiß nicht!«

Desert schoß der bittere Gedanke durch den Kopf: ›Sie kann nichts loslassen – sie versteht es einfach nicht!‹ Aber er entgegnete ganz sanft: »Kopf hoch, mein Kind! In vierzehn Tagen wirst du's überwunden haben. Ich werd dir etwas schicken – zum Trost. Warum soll ich nicht nach China gehn – ein Land ist so gut wie das andere? Ich werd dir ein Stück Porzellan aus der Ming-Periode schicken, ein besseres Zeitalter als dieses.«

Fleur sagte leidenschaftlich: »Hör auf, du beleidigst mich!«

»Ich bitte um Entschuldigung. Ich will dich nicht so böse zurücklassen.«

»Was willst du eigentlich von mir?«

»Oh! Ach, laß! Das hieße wieder von vorn anfangen. Und übrigens hab ich auch seit Freitag nachgedacht. Ich will nichts weiter, Fleur, als deinen Segen und deine Hand. Gib sie mir! Los!«

Fleur legte ihre Hand auf den Rücken. Es war zu demütigend! Er hielt sie für eine kaltblütige Sammlerin, für eine kleine Katze, die Mäuse packte und mit ihnen spielte, obzwar sie sie nicht fressen wollte!

»Du glaubst, ich bin aus Eis«, sagte sie und ihre Zähne nagten an der Oberlippe. »Nun, da irrst du dich!«

Desert blickte sie an; sein ganzes Unglück lag in diesem Blick. »Ich habe deinen Stolz nicht aufstacheln wollen«, sagte er. »Machen wir ein Ende, Fleur. Es hat keinen Sinn.«

Fleur wandte sich ab und schaute die ›Eva‹ an – ein ungestümes Frauenzimmer, ohne Sorge, gierig sog sie den Duft der Blumen bis zur Neige ein. Warum nicht auch so sorglos sein und alles mitnehmen, was einem in den Weg kam? So viel Liebe gab es doch nicht in der Welt, daß man vorübergehen konnte, ohne den Duft der Blumen einzuatmen, ohne sie zu pflücken. Davonlaufen! Nach dem Osten gehen! So etwas Extravagantes konnte sie sich natürlich nicht leisten! Aber, vielleicht – – was lag daran? – Diesen Mann oder jenen, wenn man keinen wirklich liebte!

Unter den gesenkten, weißen, dunkel bewimperten Lidern hervor sah sie den Ausdruck seines Gesichtes und daß er regungsloser dastand als die Statuen. Und plötzlich sagte sie: »Du bist ein Narr, wenn du fortgehst. Warte!« Und ohne ein weiteres Wort oder einen Blick ging sie davon und ließ Desert atemlos vor dem Bild der gierigen Eva stehen.

6.
Der ›alte Forsyte‹ und der ›alte Mont‹

Als Fleur verwirrt und bestürzt wegging, trat sie einer allzu bekannten Gestalt fast auf die Zehen, die vor einem Alma Tadema wie in finsterer Sorge stand und als grüble sie über die Veränderlichkeit des Marktpreises.

»Papa! Du bist in der Stadt? Komm mit mir zum Lunch. Ich muß schnell nach Hause.«

Sie hängte sich in seinen Arm ein, und mit ihrer Gestalt die ›Eva‹ vor ihm verdeckend, führte sie ihn weg, während sie dachte: ›Hat er uns gesehen? Kann er uns gesehen haben?‹

»Bist du warm genug gekleidet?« murmelte Soames.

»Mehr als genug!«

»Das sagt ihr Frauen immer. Ostwind, und dein Hals so offen! Na, ich weiß wirklich nicht.«

»Nein, Papa, aber ich weiß es.«

Die grauen Augen überflogen sie prüfend von Kopf bis Fuß.

»Was machst du denn hier?« fragte er. Und Fleur dachte: ›Gott sei Dank, er hat nichts gesehen. Er würde nie gefragt haben, wenn er was gesehen hätte.‹ Und sie erwiderte: »Ich interessiere mich für Kunst, liebster Papa, ebenso wie du.«

 

»Also, ich logiere bei deiner Tante in Green Street. Dieser Ostwind hat meine Leber angegriffen. Was treibt denn dein – wie geht es Michael?«

»Danke, soso. Gestern abend hatten wir ein Dinner.«

Hochzeitstag! Der Realismus der Forsytes erwachte in ihm, und er blickte ihr von unten her in die Augen. Er steckte seine Hand in die Manteltasche und sagte: »Ich wollte dir das da bringen.«

Fleur sah einen flachen Gegenstand, in rosa Seidenpapier eingewickelt.

»Geliebter Papa, was ist es?«

Soames steckte das Paketchen in die Tasche zurück. »Das werden wir später sehen. Kommt jemand zum Lunch?«

»Nur Bart.«

»Der alte Mont! Ach du lieber Gott!«

»Aber, Liebster, hast du denn Bart nicht gern?«

»Gern? Er und ich haben nichts miteinander gemein.«

»Ich hatte geglaubt, daß ihr so ziemlich die gleichen Ansichten habt.«

»Er ist ein Reaktionär«, sagte Soames.

»Und was bist du denn, Papachen?«

»Ich? Was soll ich denn sein?« Mit diesen Worten bekräftigte er die Politik, die sich auf nichts festlegt und die er mit zunehmendem Alter immer mehr als die einzig richtige für einen vernünftigen Menschen erkannte.

»Wie geht's der Mama?«

»Sie sieht gut aus. Ich sehe nichts von ihr – sie hat ihre Mutter zu Besuch – sie amüsieren sich.«

Er nannte Madame Lamotte niemals Fleurs Großmutter. Je weniger seine Tochter mit ihrer französischen Verwandtschaft zu tun hatte, um so besser.

»Oh!« rief Fleur, »dort ist Ting und eine Katze!« Ting-a-ling, der von einem Stubenmädchen an der Leine spazierengeführt wurde, schnaufte entsetzlich und versuchte, ein Gitter zu erklettern, auf dem eine schwarze Katze saß, mit einem Buckel und glühenden Augen.

»Gib ihn mir, Ellen. Komm zum Frauchen, mein Kleiner!«

Ting-a-ling kam wirklich, aber nur, weil er doch nicht in der andern Richtung gehen konnte; er schnaufte mit gesträubten Haaren und drehte immer wieder den Kopf zurück.

»Ich hab's so gern, wenn er natürlich ist«, sagte Fleur.

»Hinausgeworfenes Geld – für so einen Hund!« erklärte Soames. »Du hättest eine Bulldogge anschaffen sollen und sie in der Halle schlafen lassen. Die Einbrüche nehmen kein Ende. Deiner Tante wurde der Türklopfer gestohlen.«

»Ich würde Ting nicht hergeben, nicht für hundert Türklopfer.«

»Eines schönen Tages wird man dir ihn noch stehlen – die Rasse ist jetzt in der Mode.«

Fleur öffnete ihre Haustür. »Aha«, sagte sie, »Bart ist schon da!«

Ein Zylinder ruhte auf einem von Soames geschenkten Marmorschrank, der Mäntel aufheben und die Motten fernhalten sollte. Soames legte seinen Hut neben den andern und betrachtete beide. Sie glichen einander wie ein Ei dem andern, groß, hoch, glänzend, und dieselbe Firma stand drinnen. Er hatte die Zylindermode wieder mitgemacht, nachdem der Generalstreik und der Kohlenstreik von 1921 zusammengebrochen waren, denn sein Instinkt hatte ihm gesagt, daß die Revolution nun für geraume Zeit in Mißkredit gekommen sei. Er zog das rosa Paket aus der Tasche und sagte: »Ich weiß nicht, was du mit diesem Ding da anfangen wirst, aber da hast du's.« Es war ein seltsam geschnittener und gefärbter Opal in einem Kreis von winzigen Brillanten.

»Oh!« schrie Fleur auf, »wie entzückend!«

»Venus, die sich auf den Wellen wiegt, oder etwas Ähnliches«, murmelte Soames. »Es ist ungewöhnlich. Starkes Licht bringt es erst zur Geltung.«

»Aber es ist einfach himmlisch! Ich werd es sofort anlegen.«

Venus! Wenn ihr Vater gewußt hätte! Sie schlang die Arme um seinen Hals, um ihr Gefühl der Betroffenheit zu verbergen. Soames verlor keinen Augenblick seine gewohnte Ruhe, als sie ihre Wange gegen sein gut rasiertes Gesicht rieb. Wozu Gefühle verraten, wenn sie beide ganz genau wußten, daß seine Liebe doppelt so groß war als ihre?

»Leg es an«, sagte er, »damit wir sehen können.«

Vor einem alten Spiegel in Lackrahmen befestigte Fleur die Brosche an ihrem Hals. »Es ist herrlich. Liebster Papa, ich bin dir so dankbar! Ja, deine Krawatte sitzt gerade. Dieser weiße Vorstoß gefällt mir. Das solltest du immer mit Schwarz tragen. Komm jetzt mit!« Und sie zog ihn in ihr chinesisches Zimmer. Es war leer.

»Bart muß oben bei Michael sein und ihm von seinem neuen Buch erzählen.«

»Schreiben – in seinem Alter?« sagte Soames.

»Aber Liebster, er ist doch ein Jahr jünger als du.«

»Ich schreibe nicht. So ein Narr bin ich doch nicht. Hast du wieder ein paar neumodische Freunde aufgetrieben?«

»Nur einen: Gurdon Minho, den Romancier.«

»Wieder einer von der neuen Schule?«

»Aber nein, liebster Papa! Du hast doch sicherlich von Gurdon Minho gehört. Er schreibt schon seit Menschengedenken.«

»Für mich sind sie alle gleich«, brummte Soames. »Hält man etwas von ihm?«

»Ich glaube wohl, daß sein Einkommen größer ist als deines. Er ist beinahe schon ein Klassiker – er braucht bloß noch zu sterben.«

»Ich werd mir eines seiner Bücher kaufen und es lesen. Wie heißt er, sagtest du?«

»Kauf dir ›Große und kleine Fische‹ von Gurdon Minho. Das kannst du dir doch merken, nicht wahr? Oh, da sind sie ja! Michael, schau, was mir der Vater geschenkt hat.«

Sie nahm seine Hand und führte sie zu dem Opal an ihrem Hals. ›Sie sollen nur beide sehen‹, dachte sie, ›wie gut wir miteinander stehen.‹ Obgleich ihr Vater sie nicht mit Wilfrid in der Galerie bemerkt hatte, befahl ihr das Gewissen: ›Stärke deine Achtbarkeit, du kannst nicht wissen, ob du nicht in Zukunft eine Stütze brauchen wirst!‹

Aus einem Winkel ihres Auges beobachtete sie jene beiden. Eine Zusammenkunft zwischen dem ›alten Mont‹ und dem ›alten Forsyte‹, wie Bart ihren Vater im Gespräch mit Michael nannte, kam ihr immer lachhaft vor, aber sie wußte niemals genau warum. Bart war sehr gebildet, aber sein Wissen war wunderschön eingebunden und nach strengen Grundsätzen revidiert von einem Geist, der noch immer mit dem achtzehnten Jahrhundert verbunden war. Ihr Vater wußte nur, was für ihn von Vorteil war, doch seine Wissenschaft war ohne Einband und er kümmerte sich keineswegs darum, sie zu revidieren. Wenn er wirklich ein Spät-Viktorianer war, so war es doch nicht unter seiner Würde, nötigenfalls auch von einer späteren Zeit zu profitieren. Der alte Mont glaubte an die Tradition, der alte Forsyte nicht. Fleurs Scharfsinn hatte schon lange einen Unterschied bemerkt, der zu Gunsten ihres Vaters sprach. Und doch war des alten Mont Unterhaltung so viel aktueller, flüssiger, abwechslungsreicher und geschwätziger, und man wähnte sich immer ganz genau informiert. Der alte Forsyte dagegen brachte nur kurz gefaßte Tatsachen vor. Es war wirklich unmöglich zu entscheiden, welcher von beiden ein wertvolleres Museumsstück war; und alle beide waren so gut konserviert!

Sie schüttelten einander nicht gerade die Hände, aber Soames sagte etwas über das Wetter. Und fast augenblicklich machten sich alle vier über die Sonntagsmahlzeit her, der Fleur durch andauernde Willensanstrengung jede Beziehung zum britischen Nationalcharakter genommen hatte. Sie tranken also Hummer-Cocktails und speisten ein Risotto von Hühnerleber und eine Omelette au rhum; und das Dessert gab sich Mühe, so spanisch auszusehen wie nur möglich.

»Ich war in der Tate-Galerie«, sagte Fleur, »ich finde sie so rührend.«

»Rührend?« fragte Soames und schnupperte in der Luft.

»Fleur meint, Sir, daß so viel altenglische Kunst auf einmal zu sehen einen genau so rührt wie eine Baby-Schönheitskonkurrenz.«

»Das versteh ich nicht«, sagte Soames steif. »Es sind ein paar sehr gute Bilder dort.«

»Aber keine Bilder von Erwachsenen, Sir.«

»Ah! Ihr jungen Leute haltet eure ganze verrückte Fingerfertigkeit für Reife!«

»Nein, Vater, das meint Michael nicht. Es ist ganz richtig, daß der englischen Malerei die Weisheitszähne noch nicht gewachsen sind. Auf den ersten Blick kannst du den Unterschied zwischen englischer und irgendeiner kontinentalen Malerei sehen.«

»Gott sei Dank, daß man ihn sieht!« fiel Sir Lawrence ein. »Die Schönheit der Kunst dieses Landes ist ihre Unschuld. Politisch sind wir das älteste Land der Welt und ästhetisch das jüngste. Was sagen Sie dazu, Forsyte?«

»Mir ist Turner alt und weise genug«, sagte Soames kurz. »Kommen Sie am Dienstag zur Aufsichtsratssitzung der P.P.R.G.?«

»Dienstag? Wir wollten doch Fasane jagen, nicht wahr, Michael?«

Soames brummte. »Die können warten«, sagte er. »Wir werden den Rechenschaftsbericht beschließen.«

Durch des alten Mont Einfluß hatte er einen Sitz im Aufsichtsrat dieses emporkommenden Unternehmens, der ›Providentia-Prämien-Rückversicherungs-Gesellschaft‹, erhalten und, um die Wahrheit zu sagen, saß er nicht sehr bequem darin. Obgleich das Gesetz über die Geltendmachung von Ansprüchen das zuverlässigste in der Welt war, so gab es doch Umstände, die anfingen, ihn mit Unruhe zu erfüllen. Er schielte über seine Nase hinweg. Leichtes Gewicht, dieser engstirnige Kerl von einem Baronet mit den beweglichen Augenbrauen – und wie der Vater so der Sohn. Und plötzlich fügte er hinzu: »Ich bin besorgt. Wenn ich vorher gewußt hätte, daß dieser Elderson das große Wort führen würde, zweifle ich sehr daran, ob ich in den Aufsichtsrat eingetreten wäre.«

Wie der alte Mont das Gesicht verzog!

»Elderson!« sagte er. »Sein Großvater war meines Großvaters Wahlagent zur Zeit der Reform Bill; es war der korrupteste Wahlkampf, der jemals ausgefochten wurde, und der Agent brachte ihn durch – er kaufte jede einzelne Stimme – küßte die Frauen aller Farmer. Eine wundervolle Zeit, Forsyte, eine wundervolle Zeit.«

»Und vorüber«, sagte Soames. »Ich halte nichts davon, daß man dem Urteil eines einzelnen Mannes so weit vertrauen soll, wie wir Elderson vertrauen; dieses ausländische Versicherungsgeschäft gefällt mir nicht.«

»Mein lieber Forsyte – ein erstklassiger Kopf, dieser Elderson; ich kenne ihn, seitdem ich auf der Welt bin, wir studierten ja zusammen auf der Universität in Winchester.«

Soames stieß einen tiefen Laut aus. In dieser Antwort des alten Mont lag ja gerade ein gut Teil der Ursache seiner Beunruhigung. Die Herren vom Aufsichtsrat hatten anscheinend alle zusammen in Winchester studiert! Es war zum Tollwerden! Sie waren alle so achtbar, daß sie nicht wagten, einander gegenseitig auf die Finger zu sehn, nicht einmal ihre gemeinsame Politik näher zu prüfen. Schlimmer als ihre Angst vor Irrtum oder Schwindel war die Angst, den Anschein zu erwecken, als ob sie einander mißtrauten. Und das war auch natürlich, denn einander mißtrauen war ein Übel, das man unmittelbar spürte. Und Soames wußte, daß man solch unmittelbare Übel gern vermied. Was eigentlich diese Unruhe heraufbeschworen hatte, war nur die von seinem Vater James ererbte Neigung, zwischen zwei und vier Uhr morgens wach zu liegen, wo aus der Puppe leichten Mißtrauens so leicht der Schmetterling Panik auskriecht. Die P.P.R.G. war ein so imposanter Konzern, und er stand erst seit kurzer Zeit mit ihr in Verbindung, daß es vermessen schien, jetzt schon Lunte zu riechen, besonders, da er seine Stellung als Aufsichtsrat würde aufgeben müssen und damit auch die tausend Pfund im Jahr, die sie ihm einbrachte, wenn er Lunte roch ohne Grund und ohne Lunte. Wie aber, wenn die Lunte schon vorhanden wäre? Das war es ja gerade! Und da saß der alte Mont und schwätzte von seinen Fasanen und seinem Großvater! Der Kerl war doch zu beschränkt! Und der traurige Gedanke überfiel ihn: ›Niemand hier ist imstande, eine Sache ernsthaft zu betrachten, nicht einmal meine eigene Tochter‹, und er schwieg still. Ein Geräusch an seinem Ellenbogen scheuchte ihn auf. Dieser Seidenaff von einem Hund hatte sich auf einen Stuhl zwischen ihm und seiner Tochter aufrecht hingesetzt! Wollte er vielleicht, daß er ihm etwas geben solle? Eines Tages würden ihm noch die Augen herausfallen. Und Soames fragte: »Na, was willst denn du?« Wie ihn das kleine Biest anstarrte mit seinen Augen wie Schuhknöpfe! »Da hast du!« sagte er und bot ihm eine gesalzene Mandel an. »Das frißt du wohl nicht?«

Ting-a-ling fraß es.

»Er hat eine Leidenschaft dafür, Vater. Nicht wahr, Liebling?«

Ting-a-ling blickte auf und starrte Soames an, den ein sonderbares Gefühl durchrieselte. ›Ich glaube, das kleine Biest hat mich gern‹, dachte er, ›es blickt mich immer an.‹ Mit der Fingerspitze tippte er dem Hund auf die Nase. Ting-a-ling leckte ihn ganz leicht mit seiner eingerollten, schwärzlichen Zunge.

 

»Armer Kerl!« murmelte Soames unwillkürlich und wandte sich dem alten Mont zu.

»Bitte, erwähnen Sie meine Bemerkung nicht.«

»Lieber Forsyte, was haben Sie denn gesagt?«

Grundgütiger! Und mit einem solchen Menschen saß er zusammen im Aufsichtsrat! Warum er den Posten eigentlich angenommen hatte, da er doch weder das Geld brauchte noch neue Sorgen wollte – das mochte Gott wissen. Sowie er Aufsichtsrat geworden war, hatten Winifred und andere Mitglieder seiner Familie sofort angefangen, Aktien zu kaufen, um ihre Einkommensteuer auszugleichen – sieben Prozent Zinsen für Vorzugsaktien, neun Prozent für gewöhnliche, statt der beständigen fünf Prozent, mit denen sie hätten zufrieden sein sollen. Es war nun einmal so: er konnte nichts tun, was man ihm nicht nachgemacht hätte. Er war immer so sicher gewesen, ein so vollkommener Führer durch den Irrgarten finanzieller Angelegenheiten! In seinem Alter noch solche Sorgen zu haben! Seine Augen suchten Trost in dem Glanz des Opals am Halse seiner Tochter, – hübsche Sache, hübscher Hals! Na! Sie schien ja jetzt recht glücklich zu sein – und hatte ihre Vernarrtheit vor zwei Jahren nunmehr vergessen! Dafür mußte man jedenfalls dankbar sein. Was sie jetzt nötig hatte, war ein Kind, damit sie ein wenig ins Gleichgewicht käme in all dem Getümmel von modernen Zwei-Groschen-Dichtern und Malern und Musikern. Eine leichtfertige Gesellschaft, aber Fleur hatte einen gescheiten kleinen Kopf. Wenn sie ein Kind bekäme, würde er ihr weitere Zwanzigtausend aussetzen. Das war eben ein Vorzug ihrer Mutter: sie war solid in Geldangelegenheiten, gute französische Art. Und Fleur, soweit er sie kannte, streckte sich nach der Decke. Was war das? Der Name ›Goya‹ schlug an sein Ohr. Eine neue Biographie über ihn kam heraus? Hm! Das bestätigte seine langsam wachsende Überzeugung, daß Goya wieder obenauf war.

»Ich glaube, ich werde das da losschlagen«, sagte er und zeigte auf das Bild. »Ein Argentinier ist hier, der es haben möchte.«

»Sie wollen Ihren Goya verkaufen, Sir?« Es war Michaels Stimme. »Bedenken Sie doch, wie sehr man Sie darum beneidet.«

»Man kann nicht alles haben«, sagte Soames.

»Die Reproduktion, die wir für ›Die neue Biographie‹ haben anfertigen lassen, ist großartig gelungen. ›Eigentum des Mr. Soames Forsyte‹ steht darunter. Warten Sie doch auf jeden Fall noch, bis das Buch herausgekommen ist, Sir.«

»Schein oder Wirklichkeit, eh, Forsyte?«

Machte der sich am Ende gar über ihn lustig, dieser schmalköpfige Kerl von einem Baronet?

» Ich hab keinen Erbsitz«, sagte er.

»Nein, aber wir, Sir«, murmelte Michael, »Sie könnten es eigentlich Fleur hinterlassen.«

»Na ja,« sagte Soames, »das wollen wir abwarten.« Und er blickte seine Tochter an.

Fleur errötete selten, aber nun nahm sie Ting-a-ling auf den Arm und erhob sich von dem spanischen Tisch. Michael folgte ihr. »Der Kaffee wird im andern Zimmer serviert«, sagte er. Der alte Forsyte und der alte Mont erhoben sich und wischten ihre Schnurrbärte ab.

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