Dombey und Sohn

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»Aber der Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham, ihre Stimme dämpfend, indem sie zugleich im Zimmer umher und nach Pauls Bett hinsah, »ist ihre verstorbene Mutter in der Wiege erschienen. Ich kann nicht gerade sagen, wie oder wann, und ebenso wenig weiß ich, ob das liebe Kind davon wußte oder nicht. Aber Betsey Jane ist von ihrer Mutter bewacht worden, Miß Berry. Ihr sagt vielleicht, das sei Unsinn; ich nehme es nicht übel, Miß, und hoffe, ihr werdet imstande sein, mit gutem Gewissen zu glauben, daß es wirklich Unsinn sei. Euer Gemüt wird nur um so besser dabei fahren, da Ihr Euch an einem Platz befindet, der – Ihr werdet meine Freiheit entschuldigen – wie ein Begräbnisplatz aussieht und es wohl vermöchte, mich unter den Boden zu bringen. Master Paul ist ein wenig unruhig in seinem Schlaf. Klopft ihn auf den Rücken, wenn Ihr so gut sein wollt.«

»Natürlich glaubt Ihr«, sagte Berry, indem sie tat, was ihr aufgetragen wurde, »auch seine Mutter habe sich seiner angenommen?«

»Betsey Jane«, erwiderte Mrs. Wickham in feierlichstem Ton, »wurde aufgezogen wie dieses Kind da, und veränderte sich so sehr, wie sich Paul verändert hat. Ich habe oft und oft gesehen, wie sie dasaß – in Gedanken, in Gedanken, in Gedanken, ganz wie er. Oft und oft bemerkte ich, wie sie gerade so alt, alt, alt aussah wie er. Vielmal hörte ich sie geradeso reden, wie er redet, und ich bin der Meinung, daß dieses Kind und Betsey Jane ganz in der nämlichen Lage sind, Miß Berry.«

»Ist Eures Onkels Kind noch am Leben?« fragte Berry.

»Ja, Miß, sie lebt«, entgegnete Mrs. Wickham mit triumphierender Miene; denn es war augenscheinlich, daß Miß Berry das Gegenteil erwartete; »und ist an einen Silberarbeiter verheiratet. O ja. Miß, sie lebt«, sagte Mrs. Wickham, einen bedeutsamen Nachdruck auf das »sie« legend.

Es ging also klar daraus hervor, daß jemand tot war, und Mrs. Pipchins Nichte erkundigte sich nach der betreffenden Person.

»Ich möchte Euch nicht unruhig machen«, entgegnete Mrs. Wickham, in ihrem Nachtessen fortfahrend. »Fragt mich nicht danach.«

Das war jedenfalls das sicherste Mittel, eine zweite Frage herbeizuführen. Miß Berry wiederholte sie daher, und nach einigem widerstrebenden Zögern legte Mrs. Wickham das Messer nieder, um nach Pauls Nett hinzublicken.

»Sie faßte Zuneigungen zu Leuten«, antwortete sie, »darunter gar wunderliche Zuneigungen. Und andere gewannen sie lieb, wie man dieses wohl erwarten konnte, aber nur in höherem Grad als gewöhnlich. Sie sind alle gestorben.«

Das war so gar unverhofft und schrecklich für Mrs. Pipchins Nichte, daß sie sich aufrecht auf den harten Rand der Bettstatt niedersetzte, nur kurz aufatmete und die Sprecherin mit Blicken des unzweideutigsten Entsetzens ansah.

Mrs. Wickham schüttelte verstohlen ihren Zeigefinger gegen das Bett, wo Florence lag, senkte ihn dann abwärts und winkte mehrere Male bedeutungsvoll nach dem Boden. Unmittelbar darunter befand sich nämlich das Zimmer, in dem Mrs. Pipchin ihre Röstschnitten zu verzehren pflegte.

»Denkt an meine Worte, Miß Berry«, sagte Mrs. Wickham, »und dankt Gott, daß Master Paul nicht allzu große Stücke auf Euch hält. Ich wenigstens kann Euch versichern, bin froh, daß er mir nicht zuviel zugetan ist, obschon man in diesem Gefängnis von einem Haus – entschuldigt mich, daß ich das so frei sage – sich nicht sonderlich seines Lebens freuen sollte.«

Vielleicht hatte Miß Berry in ihrer Aufregung Paul zu hart geklopft, oder es kam vielleicht daher, daß in dieser einförmigen Beschwichtigung eine Pause stattgefunden hatte – genug, Paul drehte sich in demselben Augenblick im Bett um, erwachte und nahm eine sitzende Stellung ein. Seine Haare waren feucht von den Wirkungen eines kindischen Traumes. Er fragte nach Florence.

Bei dem ersten Ton seiner Stimme war sie aus ihrem Bettchen, beugte sich über sein Kissen nieder und sang ihn wieder in Schlaf. Mrs. Wickham schüttelte den Kopf, ließ einige Tränen fallen, machte Berry auf die kleine Gruppe aufmerksam und schlug ihre Augen zur Decke empor.

»Gute Nacht, Miß!« sagte Wickham leise. »Gute Nacht! Eure Tante ist eine alte Frau, Miß Berry, und Ihr habt einem solchen Ausgang oft schon entgegensehen müssen.«

Dieses tröstliche Lebewohl begleitete Mrs. Wickham mit einem Blick herzlich gefühlter Beklommenheit, und sobald sie mit den beiden Kindern allein war, erging sie sich, während der Wind draußen schauerlich blies, in dem wohlfeilsten und leicht erreichbaren Hochgenuß der Schwermut, bis sie vom Schlummer überwältigt wurde.

Obgleich Mrs. Pipchins Nichte, als sie die Treppe hinunterging, nicht gerade erwartete, den exemplarischen Hausdrachen auf dem Herdfries ausgestreckt zu finden, fühlte sie sich doch erleichtert, als sie bemerkte, daß die Dame ungewöhnlich zänkisch und herb war – mit einem Wort, in Aussicht stellte, als gedenke sie zur Freude aller, die sie kannten, noch recht lange zu leben. Auch zeigten sich im Lauf der nächsten Woche durchaus keine Merkmale von Hinfälligkeit, denn die ihrer Natur zusagenden Nährmittel verschwanden fortwährend in der regelmäßigen Reihenfolge, obgleich Paul sie so aufmerksam wie nur je studierte und mit unwandelbarer Beharrlichkeit seinen gewöhnlichen Sitz nahe den schwarzen Falten und dem Kaminvorsprung einnahm.

Da aber Paul nach Ablauf dieser Zeit nicht kräftiger geworden war, als er bei seiner Ankunft gewesen, obschon er im Gesicht viel gesünder aussah, so wurde für ihn ein Wägelchen besorgt, in dem er gemächlich mit seinem ABC und andern Elementarübungen liegen konnte, wenn man ihn nach der Küste hinunterführte. Konsequent in seinen wunderlichen Liebhabereien, verwarf der Knabe einen rotwangigen Jungen, der sich zum Wagenpferd erboten hatte, und wählte dafür dessen Großvater, einen schmächtigen, alten, sauertöpfischen Mann in einem schmierigen Anzug, der durch lange Salzwasserlauge zähe geworden war und einen Geruch wie moderiges Seegras zur Ebbezeit verbreitete.

Dieser denkwürdige Führer zog ihn jeden Tag nach dem Gestade des Ozeans hinunter, und Florence ging stets an seiner Seite her, während die schwermütige Wickham den Nachtrab bildete. Dort saß oder lag er nun stundenlang in seinem Wägelchen und fühlte sich nie übler gelaunt, als wenn ihm Kinder Gesellschaft leisten wollten – natürlich Florence stets ausgenommen.

»Sei so gut und geh weg«, konnte er zu einem Kinde sagen, das mit ihm Kameradschaft machen wollte. »Ich danke, aber ich brauche dich nicht.«

Fragte ihn wohl eine kleine Stimme in der Nähe, wie es ihm gehe, so pflegte er zu erwidern:

»Ich befinde mich recht gut, danke schön, aber es ist wohl am besten, wenn du zu deinem Spiel gehst. Tu mir den Gefallen.«

Dann drehte er den Kopf, um dem sich entfernenden Kinde nachzusehen, und sagte zu Florence:

»Nicht wahr, wir brauchen keine andern? Küsse mich, Floy.«

Zu solchen Zeiten konnte er auch die Wickham nicht leiden, und er freute sich, wenn sie wegging, was sie auch gewöhnlich tat, um Muscheln aufzulesen oder Bekanntschaften anzuknüpfen. Ein abgelegener Ort, weit weg von den gewöhnlichen Spaziergängen, war sein Lieblingsplatz, und Florence pflegte dann mit ihrer Arbeit an seiner Seite zu sitzen, ihm vorzulesen oder mit ihm zu plaudern. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und das Wasser schlug bis an die Räder seines beweglichen Bettes; mehr verlangte er nicht.

»Floy«, sagte er eines Tages, »wo ist Indien, der Aufenthalt der Verwandten jenes Knaben?«

»O, das ist weit, weit weg«, sagte Florence, die Augen von ihrer Arbeit erhebend.

»Wochen?« fragte Paul.

»Ja, mein Lieber. Man muß viele Wochen Tag und Nacht reisen.«

»Wenn du in Indien wärest, Floy«, sagte Paul, nachdem er eine Minute geschwiegen, »so würde ich – was war es, was die Mama tat? Ich habe es vergessen.«

»Mich lieben!« entgegnete Florence.

»Nein, nein. Liebe ich dich nicht jetzt schon, Floy? Was tat sie doch – ja sie starb. Wenn du in Indien wärest, Floy, so würde ich sterben.«

Sie legte hastig ihre Arbeit beiseite, senkte ihr Köpfchen auf sein Kissen nieder und überhäufte ihn mit Liebkosungen. Auch ihr würde es so ergehen, sagte sie, wenn er dort wäre. Es werde ihm übrigens bald besser ergehen.

»O, ich bin jetzt schon viel besser«, antwortete er. »Ich meine nicht dieses, sondern wollte nur sagen, ich würde sterben vor Betrübnis und Einsamkeit, Floy!«

Ein andermal schlummerte er an derselben Stelle ein und schlief geraume Zeit ruhig fort. Plötzlich erwachend, lauschte er, fuhr auf und setzte sich horchend hin.

Florence fragte ihn, was er zu hören glaube.

»Ich möchte wissen, was es sagt«, antwortete er, ihr fest ins Gesicht blickend. »Das Meer, Floy, was spricht es denn in einem fort?«

Sie entgegnete ihm, daß er nur das Getöse der rollenden Wellen höre.

»Ja, ja«, versetzte er. »Aber ich weiß, daß sie immer etwas sagen. Stets das nämliche. Was ist dort drüben für ein Ort?« Er richtete sich auf und schaute mit großer Spannung nach dem Horizont.

Sie sagte ihm, daß dort drüben ein anderes Land liege; aber er erwiderte, dieses meine er nicht, sondern weiter weg – weiter weg. Später konnte er sehr oft in Mitte ihres Gesprächs plötzlich abbrechen, um zu lauschen, was doch die Wellen immer sagten: dann erhob er sich von seinem Lager, um nach jener unsichtbaren Gegend hinzusehen – weit weg.

Neuntes Kapitel. In welchem den hölzernen Midshipman Angelegenheiten treffen.

Der Hang der Romantik und Liebe zum Wunderbaren hatte sich in ziemlich starker Menge in der Natur des jungen Walter angesammelt. Dieser Hang war unter der Obhut des alten Solomon Gills durch die Wasser einer ernsten praktischen Erfahrung nicht sonderlich geschwächt worden und veranlaßte, daß er für Florences Abenteuer mit der guten Mrs. Brown ein ungewöhnliches, begeistertes Interesse hegte. Er bewahrte es treulich in seinem Gedächtnis, namentlich all das, woran er selbst mitgewirkt hatte, und trug es so mit sich herum, bis es das verderbte, eigensinnige Kind seiner Phantasie wurde, das ganz nach eigener Laune handelte.

 

Die Erinnerung an diese Vorfälle und seine eigene Beteiligung dabei wurde vielleicht noch bezaubernder durch die wöchentlichen Träume des alten Sol und des Kapitän Cuttle, wenn sie an Sonntagen beisammen saßen. Kaum verging einer von diesen Anlässen, ohne daß der eine oder der andere dieser würdigen Kumpane geheimnisvolle Anspielungen auf Richard Whittington machte. Der Kapitän war sogar so weit gegangen, eine Ballade von beträchtlichem Altertum zu kaufen, die lange unter andern poetischen Seemannsergießungen an einer Mauer der Trödlerstraße geflattert hatte. Die dichterische Leistung behandelte die Werbung und die Hochzeit eines hoffnungsvollen jungen Köhlers mit einer gewissen »lieblichen Peg«, einer mit allen Vorzügen ausgestatteten Tochter des Meisters und Miteigentümers eines Newcastler Kohlenschiffes. In dieser aufregenden Geschichte entdeckte Kapitän Cuttle eine tiefe geheime Beziehung zu dem Fall zwischen Walter und Florence. Sie begeisterte ihn dermaßen, daß er bei sehr festlichen Anlässen, z. B. an Geburts- und andern nicht sonntäglichen Feiertagen in dem kleinen Hinterstübchen das ganze Lied herunterplärrte und bei dem Wort »Pe–e–eg«, mit dem jeder Vers zu Ehren der Helden des Stücke« schloß, einen ganz erstaunlichen Triller anbrachte.

Aber ein offener, freimütiger Junge ist nicht gerade in der Lage, die Natur der eigenen Gefühle zu analysieren, wie tief sie auch in ihm verwurzelt sein mögen: und Walter wäre es schwer geworden, über diesen Punkt zu einer Entscheidung zu kommen. Er hatte eine große Zuneigung zu der Stelle, wo er Florence begegnet war, und der Straße, durch die er sie, obschon sie an sich durchaus nicht bezaubernd genannt werden konnte, nach Hause geführt hatte. Die Schuhe, die ihr unterwegs so oft abgeglitten waren, bewahrte er in seinem eigenen Stübchen auf, und wenn er abends in dem kleinen Hinterzimmer saß, entwarf er sich von der guten Mrs. Brown eine ganze Galerie von eingebildeten Porträts. Möglich, daß er auch nach jenen denkwürdigen Anlässen ein bißchen sorgfältiger in seinem Anzug wurde. Auch ist jedenfalls soviel gewiß, daß er während seiner freien Zeit gerne nach jenem Stadtteil spazierte, wo Mr. Dombeys Haus lag, in der unbestimmten Hoffnung, er könnte vielleicht der kleinen Florence auf der Straße begegnen. Aber bei alledem war sein Sinn so knabenhaft unschuldig, wie er es nur sein konnte. Florence war sehr hübsch, und es ist angenehm, ein hübsches Gesicht zu bewundern. Florence war zart und wehrlos. Was für ein stolzer Gedanke, daß er imstande gewesen, ihr seinen Schutz und seinen Beistand zu verleihen. Florence war das dankbarste kleine Geschöpf in der Welt: und es erfüllte ihn mit Entzücken, zu sehen, wie ihr dieses schöne Gefühl aus dem Antlitz leuchtete. Florence war vernachlässigt und wurde mit Kälte behandelt. Seine Brust quoll über von jugendlicher Teilnahme für das verachtete Kind in seiner öden stattlichen Heimat.

So kam es, daß Walter vielleicht ein halb dutzendmal im Lauf des Jahres auf der Straße vor Florence den Hut ziehen konnte, und sie pflegte dann haltzumachen, um ihm ihre Hand zu reichen. Mrs. Wickham war daran so gewöhnt, daß sie nicht darauf achtete, weil sie von der Geschichte ihrer Bekanntschaft unterrichtet war. Miß Nipper dagegen hatte auf derartige Anlässe ein schärferes Augenmerk. Ihr empfindsames Herz war im geheimen durch Walters gutes Aussehen gewonnen, und sie neigte sich zu dem Glauben, daß ihre Gefühle erwidert würden.

Die Entfernung von Florence diente nicht dazu, daß Walter die Bekanntschaft mit ihr vergaß oder sie aus dem Gesicht verlor. Im Gegenteil, er hütete die Erinnerung daran mehr denn je in seinem Innern. Was den abenteuerlichen Anfang und alle jene kleinen Umstände betraf, die ihr einen bestimmten Charakter und Hochgenuß verliehen, so nahm er die mehr als ein angenehmes Märchen, das seine Phantasie erquickte und nicht aus ihr verloren gehen durfte, weniger als den Teil einer Tatsache, an der er beteiligt war. In seiner Einbildungskraft diente sie wohl dazu, Florence zu heben, nicht aber ihn selbst. Bisweilen dachte er (und er beschleunigte dann seine Schritte), was es nicht Großes gewesen wäre, wenn er sich am Tag nach jener ersten Begrüßung auf ein Schiff begeben hätte, um auf der See Wunder zu tun und nach langer Abwesenheit als ein Admiral strahlend in allen Farben des Delphins oder wenigstens als ein Postkapitän mit Epauletten von blendendem Glanze wieder zurückzukommen. Dann hätte er Florence, die zu einer schönen Jungfrau herangewachsen war, heiraten und sie – Mr. Dombey, seinem Schlips und seiner Uhrkette zum Trotz – triumphierend irgendwohin nach der Riviera entführen können. Aber dieser Phantasieflug war nicht imstande, die Messingplatte von Dombey und Sohns Geschäftslokalen in ein Täfelchen goldener Hoffnung umzuwandeln oder einen helleren Glanz durch dessen erblindete Hochlichtfenster hereinzusenden, und wenn die beiden Alten im Hinterstübchen von Richard Whittington und Chefstöchtern sprachen, so fühlte Walter wohl, daß er über die wahre Stellung von Dombey und Sohn weit besser unterrichtet war als sie.

So kam es denn, daß er fortfuhr, seine täglichen Pflichten mit heiterem, fröhlichem, unermüdetem Geist zu erfüllen. Zwar durchschaute er wohl den hitzigen Charakter von Onkel Sol und Kapitän Cuttle; aber dennoch unterhielt er tausend unbestimmte und träumerische Vorstellungen von eigener Schöpfung, gegen die die ihrigen nur alltägliche Wahrscheinlichkeiten waren. Dies also war seine Lage in der Pipchin-Periode, in der er zwar etwas – aber nicht um viel – älter aussah, als vordem. Er war noch derselbe leichtfüßige, leichtherzige Junge, wie zur Zeit, als er an der Spitze von Onkel Sol und der eingebildeten Enterer in das Wohnstübchen stürmte und dem Onkel bei dem Heraufbringen des Madeira leuchtete.

»Onkel Sol«, sagte Walter, »ich glaube, Ihr seid nicht ganz wohl. Ihr habt kein Frühstück genommen. Wenn es so bei Euch fortgeht, werde ich einen Arzt holen.«

»Er kann mir doch nicht geben, was ich brauche, mein Junge«, versetzte Onkel Sol. »Jedenfalls müßte er eine gute Praxis haben, wenn er es könnte, und wenn dies der Fall ist, tut er es nicht.«

»Was meint Ihr damit, Onkel? Kunden?«

»Jawohl«, entgegnete Solomon mit einem Seufzer. »Kunden würden gut angelegt sein.«

»Zum Kuckuck, Onkel!« sagte Walter, indem er seine Frühstücktasse klappernd niedersetzte und mit der Hand auf den Tisch schlug, »wenn ich auf der Straße draußen den ganzen Tag lang alle Minuten Scharen von Leuten am Laden hin und her gehen sehe, so fühle ich mich halb versucht, hinauszueilen, den nächsten besten am Kragen zu packen, hereinzubringen und ihn zu zwingen, daß er für fünfzig Pfund in bar – Instrumente kaufe. Was guckt Ihr zur Türe herein?« fuhr Walter gegen einen alten Herrn mit gepudertem Kopf fort, der ihn natürlich nicht hören konnte, wie er so dastand und interessiert ein Schiffsteleskop musterte. »Davon haben wir nichts, und ich könnt' das selber besorgen. Kommt herein und kauft es!«

Mittlerweile hatte der alte Herr seine Neugierde befriedigt und ging ruhig weiter.


»Da geht er!« sagte Walter. »So machen es alle. Aber, Onkel – he, Onkel Sol« – denn der alte Mann war in Gedanken verloren und hatte auf die erste Anrede nicht geantwortet. »Ihr müßt nicht kleinmütig werden. Seid nicht niedergeschlagen, Onkel. Wenn einmal Aufträge kommen, so werden sie in solcher Menge eintreffen, daß Ihr nicht imstande sein werdet, sie zu besorgen.«

»Übers Sorgen bin ich hinaus, wann sie auch kommen mögen, mein Junge«, entgegnete Solomon Gills. »Man wird nicht wieder in diesen Laden kommen, bis ich nicht mehr drinnen bin.«

»Onkel, aber! – Das dürft Ihr nicht sagen!« drängte Walter. »Nein, das dürft Ihr nicht!«

Der alte Sol bemühte sich, eine heiterere Miene anzunehmen, und lächelte, so gut es gehen wollte, über den Tisch hinüber dem Knaben zu.

»In der Sache liegt durchaus nichts, als der gewöhnliche Gang – ist es nicht so, Onkel?« entgegnete Walter, indem er seine Ellbogen auf das Teebrett stützte und sich vorbeugte, um mit dem Alten vertraulicher reden zu können. »Seid offen gegen mich, Onkel, und sprecht Euch unverhohlen aus.«

»Nein, nein, nein«, entgegnete der alte Sol. »Ungewöhnliches? Gewiß nicht. Was sollte auch Ungewöhnliches darin liegen?«

Walter antwortete mit einem ungläubigen Kopfschütteln.

»Das ist es eben, was ich wissen möchte«, sagte er. »Und Ihr fragt mich? Ich will Euch was sagen, Onkel, wenn ich Euch so sehen muß, tut es mir eigentlich leid, daß ich bei Euch bin.«

Der alte Sol machte unwillkürlich große Augen.

»Ja. Obgleich niemand je glücklicher war als ich, wenn ich mich bei Euch befand, so tut es mir doch leid, bei Euch zu leben, wenn ich sehen muß, daß Ihr etwas auf dem Herzen habt.«

»Ich weiß, ich bin in solchen Zeiten ein bißchen langweilig«, bemerkte Solomon, indem er demütig seine Hände rieb.

»Ich meine es so, Onkel Sol«, fuhr Walter fort, und bog sich noch weiter vor, um ihn auf die Schulter zu klopfen, »ich fühle dann, daß Ihr, statt hier zu sitzen und mir Tee einzugießen, ein nettes Frauchen an der Seite haben solltet – Ihr wißt, eine behagliche, treffliche, nette alte Dame, die gerade zu Euch paßte, Euch zu behandeln wüßte und Euch wohlgemut erhielte. Ich bin zwar stets gegen Euch – wie ich es auch verpflichtet war – ein liebevoller Neffe gewesen. Aber ein Neffe bleibt eben nur ein Neffe, und ich kann Euch eine solche Gesellschaft nicht ersetzen, wenn Ihr niedergeschlagen und traurig seid, obschon ich gewiß weiß, daß ich meinen letzten Heller hergeben wollte, wenn ich Euch damit aufheitern könnte. Deshalb sage ich wieder, wenn ich Euch mit so schwerem Herzen sehen muß, es tut mir sehr leid, daß Ihr nichts Besseres um Euch habt, als einen unruhigen, rauhen, jungen Burschen, der Euch zwar gerne trösten möchte, Onkel, aber nicht weiß, wie er es angreifen soll – der nicht die Art dazu hat«, fügte Walter bei, indem er noch weiter herüberlangte, um seinem Onkel die Hand zu drücken.

»Wally, mein lieber Junge«, sagte Solomon, »und wenn die nette kleine alte Dame schon vor fünfundvierzig Jahren in diesem Stübchen ihren Platz gehabt hätte, so wäre ich doch nicht imstande gewesen, sie mehr zu lieben, als dich.«

»Ich weiß das, Onkel Sol«, entgegnete Walter. »Gott segne Euch dafür, ich weiß es. Aber Ihr brauchtet nicht die ganze Last unbequemer Geheimnisse allein zu tragen, wenn Ihr eine Frau hättet: denn sie würde wissen, wie sie Euch Erleichterung verschaffen muß, und das ist durch mich nicht der Fall.«

»O, wohl, wohl«, erwiderte der Instrumentenmacher.

»Nun denn, heraus damit, Onkel Sol!« versetzte Walter schmeichelnd. »Sprecht, was habt Ihr auf dem Herzen?«

Solomon Gills beharrte darauf, daß es nichts sei, und blieb dabei so entschlossen, daß der Neffe keine andere Wahl hatte, als zu tun, daß er ihm glaube.

»Ich kann weiter nichts sagen, Onkel Sol, als daß, wenn etwas da ist« – –

»Aber es ist nichts da«, entgegnete Sol.

»Nun gut«, erwiderte Walter. »Dann habe ich nichts mehr zu sagen, und das ist ein Glück: denn ich muß jetzt ans Geschäft gehen. Wenn ich einen Ausgang zu machen habe, will ich gelegentlich Euch sprechen, um zu sehen, was Ihr treibt, Onkel. Und vergeßt nicht, Onkel, ich werde Euch nie wieder glauben und Euch nie mehr etwas von Mr. Carker dem Jüngeren erzählen, wenn ich finde, daß Ihr mich getäuscht habt.«

Solomon Gills forderte ihn lächelnd heraus, er solle ihn einmal über etwas der Art zu ertappen suchen, und Walter, der in seinen Gedanken alle Arten unmögliche Mittel erwog, wie er Geld erwerben und den hölzernen Midshipman in eine unabhängige Stellung versetzen könne, begab sich mit weit schwermütigerem Gesicht, als man sonst an ihm gewöhnt war, nach dem Geschäftslokal von Dombey und Sohn.

Dort lebte zu jener Zeit um die Ecke – in der äußeren Bischofstorstraße – ein gewisser Brogley, beeidigter Makler und Taxator, der einen Laden hielt, in dem alle Arten alter Möbel in schauerlichstem Gewirr und im seltsamsten Beieinander zur Schau standen. Dutzende von Stühlen hingen an Wäscheständern und hielten sich nur mit Not an den Schultern der Seitenbretter fest, die ihrerseits auf den Kehrseiten von Tischen standen, wobei letztere mit ihren gymnastisch aufwärts gestellten Beinen die Platten anderer Tische unterstützten. Porzellanservice, Weingläser und Flaschen waren in der Regel auf dem Boden einer vierpfostigen Bettstatt ausgebreitet, und der gemütlichen Gesellschaft schloß sich ein halb Dutzend Schürhaken nebst einer Flurlampe an. Eine Garnitur Fenstervorhänge ohne die dazu gehörigen Fenster hüllten anmutig eine Barrikade von Kommoden ein, die mit allerlei Gefäßen beladen waren, während ein heimatloser Herdfries, von seinem natürlichen Gefährten, dem Kamin, getrennt, in seiner Bedrängnis dem verschmitzten Ostwind Trotz bot und in melancholischem Akkord mit den schrillen Klagen eines Pianos zitterte, das alle Tage eine Saite springen ließ und in seinem klimpernden, verrückten Gehirn eine matte Resonanz zu dem Straßenlärm gab. An regungslosen Uhren, die nie einen Zeiger bewegten und ebenso unfähig schienen, erfolgreich aufgezogen zu werden, wie die pekuniären Angelegenheiten ihrer früheren Eigentümer, befand sich stets eine große Auswahl in Mr. Brogleys Laden. Mancherlei Spiegel, die zufälligerweise das gemischte Vergnügen verschiedenartiger Lichtbrechung boten, zeigten dem Auge eine unendliche Perspektive von Bankerott und Verderben.

 

Mr. Brogley selbst war ein triefäugiger, rotgesichtiger, kraushaariger Mann, sonst von stämmiger Figur und fröhlicher Gemütsart – denn die Leute wie Marius, die auf den Trümmern der Karthagos anderer Leute sitzen, haben gut lachen. Er war schon einigemal in Solomons Laden gewesen, um sich über einige Artikel zu erkundigen, die in das Geschäft des Instrumentenmachers einschlugen, und Walter kannte ihn hinreichend, um ihn, wenn sie sich in den Straßen begegneten, zu grüßen. Da dies jedoch die ganze Ausdehnung der Bekanntschaft zwischen dem Trödler und Solomon Gills war, so fühlte sich Walter nicht wenig überrascht, als er seinem Versprechen gemäß im Laufe des Vormittags zurückkam und Mr. Brogley, der seine Hände in den Taschen stecken und seinen Hut hinter der Tür aufgehangen hatte, in dem hinteren Stübchen sitzend fand.

»Nun, Onkel Sol«, sagte Walter. Der alte Mann saß mit einer Jammermiene an der andern Seite des Tisches und hatte – welch ein Wunder – die Brille vor den Augen, statt auf der Stirn. »Was ist mit Euch los?«

Solomon schüttelte den Kopf und winkte mit der einen Hand gegen den Trödler hin, als wollte er ihn vorstellen.

»Ist etwas vorgefallen?« fragte Walter mit verhaltenem Atem.

»O nein. Nichts«, sagte Mr. Brogley. »Laßt Euch die Sache nicht beunruhigen.«

Walter blickte in stummem Erstaunen von dem Trödler auf seinen Onkel.

»Die Sache ist die«, fuhr Mr. Brogley fort, »es handelt sich um eine kleine Zahlung für eine Bürgschaftsschuld – dreihundert und etliche siebzig Pfund – und ich bin im Besitz.«

»Im Besitz?« rief Walter, sich im Laden umsehend.

»Ja!« sagte Mr. Brogley in vertraulicher Zustimmung und nickte dazu mit dem Kopf, als wolle er beiden bemerklich machen, wie sie sich dabei füglicherweise vollkommen beruhigen könnten. »Es ist eine Beschlagnahme – weiter nichts. Laßt es Euch nicht zu Herzen gehen. Ich komme selbst, weil ich die Sache ruhig und freundschaftlich abmachen möchte. Ihr kennt mich. Es geschieht ganz unter uns.«

»Onkel Sol!« stotterte Walter.

»Wally, mein Junge«, entgegnete sein Onkel. »Es ist das erstemal. Solch ein Unglück ist mir noch nie begegnet. Ich bin ein alter Mann und muß jetzt so anfangen!«

Er schob die Brille wieder zurück; denn sie konnte jetzt doch seine Aufregung nicht länger verbergen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte laut, während ihm Tränen auf die kaffeefarbige Weste niederfielen.

»Onkel Sol – ich bitte, o tut es nicht!« rief Walter, den ein wahrer Schauer durchzuckte, als er den alten Mann weinen sah. »Um Gottes willen, tut es nicht. Mr. Brogley, kann ich in der Sache behilflich sein?«

»Ich würde Euch empfehlen, Euch nach einem Freund oder ähnlichem umzusehen, mit dem Ihr die Angelegenheit besprechen könnt«, sagte Mr. Brogley.

»Natürlich!« rief Walter, der nach jedem Strohhalm haschte. »Ja, ganz recht! Danke schön. Kapitän Cuttle ist der Mann, Onkel. Wartet, bis ich zu Kapitän Cuttle geeilt bin. Habt acht auf meinen Onkel – wollt Ihr so gut sein, Mr. Brogley? – und tröstet ihn, so gut Ihr könnt, bis ich wiederkomme. Ihr dürft nicht gleich verzweifeln, Onkel Sol. Na, seid lieb und heitert Euch auf!«

Er sprach dies mit großem Eifer und stürzte, ohne auf die gebrochenen Gegenvorstellungen des alten Mannes zu achten, zum Laden hinaus. Dann eilte er nach dem Bureau, um sich unter dem Vorwand einer plötzlichen Erkrankung seines Onkels zu entschuldigen, und brach in voller Hast nach Kapitän Cuttles Wohnung auf.

Während er so durch die Straßen lief, kam ihm alles ganz anders vor. Zwar war das gewöhnliche Gewirr und der Lärm von Karren, Wagen, Omnibussen und Fußgängern vorhanden: aber das Unglück, das den hölzernen Midshipman befallen hatte, ließ ihm alles in einem neuen, befremdlichen Lichte erscheinen. Häuser und Läden waren nicht mehr so wie sonst, und überall stand in großen Buchstaben Mr. Brogleys Bürgschaftsschuldschein zu lesen. Der Trödler schien sogar die Kirchen für sich gewonnen zu haben, denn ihre Türme stiegen mit einer ganz ungewohnten Haltung zum Himmel empor. Selbst das Firmament war verändert und sann augenscheinlich gleichfalls auf eine Beschlagnahme.

Kapitän Cuttle wohnte am Rande eines kleinen Kanals in der Nähe der Indiadocks und einer Drehbrücke, die sich hin und wieder auftat, um irgendein wanderndes Schiffsungeheuer, gleich einem gestrandeten Leviathan, die Straße passieren zu lassen. Der allmähliche Übergang von Land zu Wasser in der Umgebung von Kapitän Cuttles Wohnung war interessant. Er begann mit der Errichtung von Flaggenstöcken als Wahrzeichen der Wirtshäuser. Dann kamen die Läden der Matrosenkleiderhändler mit ihren Guernseyhemden, den Südwesterhüten und den mächtigen Hosen, den stärksten und weitesten aller Beinbekleidungen, die vor den Türen aufgehangen waren. Dann kamen Anker- und Kabelkettenschmiede, bei denen die Hämmer den ganzen Tag lang auf dem heißen Eisen klimperten – dann Häuserreihen, vor denen kleine, mit Fahnen versehene Masten zwischen den Scharlachbohnen sich in die Höhe richteten – dann Gräben – dann Bandweiden – dann wieder Gräben – dann unerklärbare Passagen mir schmutzigem Wasser, das kaum zwischen den darauf schwimmenden Schiffen sichtbar ward – dann der Geruch von Hobelspänen in der Luft und ringsum kein anderes Gewerbe als das der Zimmerleute, die Masten, Räder, Scheiben und Boote verfertigten. Weiterhin wurde der Grund sumpfig und unsicher. Dann roch man nichts weiter als Rum und Zucker. Und endlich hatte man Kapitän Cuttles Wohnung vor sich – ein Häuslein in Brig-Place, dessen erster Stock zugleich der Dachstock war.

Der alte Mann saß mit einer Jammermiene an der anderen Seite des Tisches... Der Kapitän war einer von jenen eisenherzigen Männern, die auch die lebhafteste Einbildungskraft nie selbst von dem unbedeutendsten Teil ihres Anzugs trennen kann. Als daher Walter an die Tür klopfte und der Kapitän augenblicklich zu einem der kleinen Vorderfenster heraussah – den Glanzhut bereits auf dem Kopf und den segelartigen Hemdkragen sowohl, als den weiten blauen Anzug ganz in gewöhnlicher Art –, fühlte sich Walter vollkommen überzeugt, daß der Kapitän stets so sein müsse; als sei dieser Mann selbst ein Vogel, zu dem die Kleidung das Gefieder bildete.

»Wal'r, mein Junge!« sagte Kapitän Cuttle. »Nur standhaft und noch einmal geklopft. Tüchtig, es ist Waschtag.«

Walter ließ in seiner Ungeduld den Klopfer mit Macht niederfallen.

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