Dombey und Sohn

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»Nein, ich mag nicht«, versetzte Paul, sich wieder in seinem Armstuhl festpflanzend, als sei er der Herr im Hause.

Mit einem Segenswunsche über die liebe Unschuld entfernte sich Mrs. Wickham, und bald darauf erschien statt ihrer Florence. Das Kind stand augenblicklich mit großer Bereitwilligkeit auf und machte dabei, als es seinem Vater gute Nacht sagte, ein so viel heitereres, jüngeres und kindlicheres Gesicht, daß Mr. Dombey ganz erstaunt darüber war, obschon er über den Wechsel sehr beruhigt war. Nachdem die beiden das Gemach verlassen hatten, war es ihm, als höre er eine sanfte Stimme singen; er wußte von Paul, daß ihm seine Schwester vorzusingen pflegte, weshalb er neugierig die Tür öffnete, um zu hören und ihnen nachzusehen. Sie hatte den Kleinen auf ihren Armen und trug ihn mühevoll die große, weite, leere Treppe hinauf; Pauls Kopf lag auf ihrer Schulter, und seine Arme waren nachlässig um ihren Hals geschlungen. So ging es mit großer Anstrengung vorwärts; das Mädchen sang die ganze Zeit über, und bisweilen mischte Paul eine schwache Begleitung darein. Mr. Dombey sah ihnen nach, bis sie – freilich nicht, ohne unterwegs anzuhalten – die oberste Treppenstufe erreicht hatten und dort seinen Blicken entschwanden; aber auch dann schaute er noch immer aufwärts, bis die matten Strahlen des Mondes, die in melancholischer Weise durch das trübe Oberlichtfenster schienen, ihn nach seinem eigenen Zimmer zurücksandten. Beim Diner des nächsten Tages mußten sich Mrs. Chick und Miß Tor zum Zweck einer Beratung einfinden, und sobald das Tafeltuch entfernt war, eröffnete Mr. Dombey ihnen den Gegenstand, indem er ohne Rückhalt fragte, was denn eigentlich mit Paul sei und was Doktor Pilkins über ihn sage.

»Das Kind ist kaum so kräftig, als ich es wünschen möchte«, fügte Mr. Dombey hinzu.

»Mein lieber Paul«, versetzte Mrs. Chick, »mit deinem gewohnten glücklichen Scharfblick hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Unser Liebling ist nicht so kräftig, als wir wünschen, und der Grund dafür liegt darin, daß der Geist zu übermächtig in ihm wird. Seine Seele ist viel zu groß für seinen Körper. Wenn man nur bedenkt, wie das liebe Kind spricht!« sagte Mrs. Chick ihren Kopf schüttelnd. »Niemand würde es glauben. Erst gestern seine Ausdrücke, Lukretia, über Leichenbegängnisse! –«

»Ich fürchte«, bemerkte Mr. Dombey, sie ärgerlich unterbrechend, »daß einige von den Personen droben das Kind mit unpassenden Gegenständen unterhalten. Erst gestern abend sprach er zu mir von seinen – von seinen Knochen«, sagte Mr. Dombey, einen gereizten Nachdruck auf das Wort legend. »Was in aller Welt hat man da mit den – mit den – Knochen meines Sohnes zu schaffen? Hoffentlich ist er doch kein lebendes Skelett!«

»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Mrs. Chick mit einem nicht zu beschreibenden Ausdruck.

»Will's aber auch meinen«, versetzte ihr Bruder. »Dann wieder Leichenbegängnisse! Wer spricht mit dem Kinde von Leichenbegängnissen? Wir sind doch keine Leichenbestatter, Stumme oder Totengräber, sollt' ich meinen.«

»Gewiß nicht«, entgegnete Mrs. Chick mit demselben tiefen Ausdruck, wie früher.

»Wer setzt ihm aber solche Dinge in den Kopf?« fragte Mr. Dombey. »In der Tat, ich war gestern abend in hohem Grade erschüttert. Wer setzt ihm solche Dinge in den Kopf, Louisa?«

»Mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick nach einer kurzen Pause, »diese Frage ist unnütz. Wenn ich gegen dich aufrichtig sein soll, so glaube ich nicht, daß Wickham eine sehr aufgeräumte, heitere Person ist – eine, wie soll ich sagen –«

»Eine Tochter des Momus«, ergänzte Miß Tor mit sanfter Stimme.

»Ganz richtig«, sagte Mrs. Chick; »aber sie benimmt sich ungemein achtsam, macht sich nützlich, wo sie kann, und ist durchaus nicht anmaßend. Ich habe in der Tat nie eine dienstwilligere Frauensperson gesehen. Wenn das liebe Kind –« fuhr Mrs. Chick im Tone einer Person fort, die, statt alles zum erstenmal zu sagen, das zusammenfaßt, über was man vorläufig völlig ins reine gekommen ist – »durch den letzten Anfall ein wenig geschwächt wurde und nicht ganz so gesund ist, als wir es wohl wünschen könnten – wenn in seinem System sich eine vorübergehende Entkräftung bemerkbar macht und es hin und wieder den Anschein hat, als könne er augenblicklich nicht gebieten über den Gebrauch seiner –«

Nach Mr. Dombeys kürzlichem Protest gegen die Knochen scheute sich Mrs. Chick, von Beinen zu sprechen, und wartete daher auf eine Einflüsterung von Miß Tor, die, ihrem Amte getreu, aufs Geratewohl das Wort »Glieder« hinwarf.

»Glieder!« wiederholte Mr. Dombey.

»Ich glaube, der Herr Doktor sprach diesen Morgen von Beinen, Louisa, ist es nicht so?« fragte Miß Tor.

»Ei freilich tat er das, meine Liebe«, entgegnete Mrs. Chick mit mildem Vorwurf. »Wie könnt Ihr mich nur fragen, da Ihr es ja selbst gehört habt? Ich sage, wenn unser lieber Paul vorübergehend den Gebrauch seiner Beine verlieren sollte, so ist das nur eine Zufälligkeit, die bei vielen Kindern in seinem Älter oft vorkommt und sich weder durch Sorgfalt, noch durch Vorsicht verhindern läßt. Je eher du das einsiehst und zugestehst, Paul, desto besser ist es.«

»Zuverlässig weißt du, Louisa«, bemerkte Mr. Dombey, »daß ich deine natürliche Liebe und Achtung für das künftige Haupt meines Hauses nicht in Frage ziehe. Ich glaube, Mr. Pilkins ist heute morgen bei Paul gewesen?«

»Ja«, entgegnete die Schwester. »Miß Tor und ich, wir beide waren anwesend. Miß Tor und ich, wir fehlen nie bei solchen Gelegenheiten. Es ist für uns einfach Ehrensache. Mr. Pilkins kommt schon einige Zeit täglich ins Haus, und ich halte ihn für einen sehr gescheiten Mann. Er sagt, die Sache sei nicht der Rede wert, und ich kann dir diese Versicherung gehen, wenn du einen Trost darin findest; aber er empfahl heute Seeluft. Ich bin überzeugt, Paul, daß das ein sehr weiser Rat ist.«

»Seeluft?« wiederholte Mr. Dombey, seine Schwester ansehend.

»Es liegt durchaus nichts Beunruhigendes darin«, sagte Mrs. Chick. »Sie ist meinem George und meinem Friedrich, als sie ungefähr in gleichem Alter waren, ebenfalls verordnet worden, und auch ich selbst mußte mich ihrer oftmals bedienen. Ich bin ganz mit dir einverstanden, Paul, daß vielleicht droben unvorsichtigerweise Gegenstände vor ihm zur Sprache kommen, mit denen man seinen jungen Geist besser verschonen sollte; aber ich weiß in der Tat nicht, wie dem bei einem Kind von so rascher Auffassungsgabe abzuhelfen ist. Bei einem gewöhnlichen Kinde hätte es gar nichts auf sich. Ich muß daher sagen, daß ich die Ansicht der Miß Tor teile; eine kurze Abwesenheit von diesem Hause, die Luft von Brighton und die leibliche sowohl als die geistige Erziehung einer so verständigen Frau wie z.B. Mrs. Pipchin ist –«

»Wer ist Mrs. Pipchin, Louisa?« fragte Mr. Dombey, ganz entsetzt über die familiäre Erwähnung eines Namens, von dem er nie zuvor etwas gehört hatte.

»Mrs. Pipchin, mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick, »ist eine ältliche Dame – Miß Tor kennt ihre ganze Geschichte – die seit einiger Zeit mit bestem Erfolg die ganze Tätigkeit ihres Geistes dem Studium und der Erziehung der Jugend gewidmet hat; auch stammt sie aus guter Familie. Ihrem Gatten brach das Herz durch – wie habt Ihr gesagt, daß ihrem Gatten das Herz brach, meine Liebe? Ich habe die näheren Umstände vergessen.«

»Durch das Pumpen von Wasser aus den peruanischen Minen«, entgegnete Miß Tor.

»Er war natürlich nicht selbst Pompier«, sagte Mrs. Chick nach ihrem Bruder hinsehend; und es schien in der Tat nötig, eine solche Aufklärung zu geben, denn Miß Tor hatte von ihm gesprochen, als sei er an der Handhabung der Pumpe gestorben, »sondern hatte sein Geld bei der Spekulation angelegt, und diese schlug fehl. Ich glaube, daß Mrs. Pipchin die Kinder ganz erstaunlich zu behandeln versteht. In den Privatzirkeln, die ich besuchte, habe ich sie stets – und, o du meine Güte, wie hoch – preisen hören!«

Mrs. Chicks Auge wanderte am Bücherschrank hinauf bis zur Büste des Mr. Pitt, die ungefähr zehn Fuß vom Boden entfernt war.

»Vielleicht sollte ich, mein teurer Sir«, bemerkte Miß Tor mit einem edlen Erröten, »da eben so bestimmt davon die Rede ist, beifügen, daß die Lobeserhebungen, in welchen sich Eure teure Schwester eben über Mrs. Pipchin ergangen hat, wohl berechtigt sind. Viele Ladies und Gentlemen, die nun zu interessanten Mitgliedern der Gesellschaft herangewachsen sind, haben ihrer Pflege viel zu verdanken. Das bescheidene Individuum, das Euch anzureden sich erdreistet, stand selbst einmal unter ihrer Obhut. Ich glaube sogar, daß der jugendliche Adel ihrer Anstalt nicht fremd ist.«

»Habe ich das so zu verstehen, daß diese achtbare Matrone ein Institut unterhält, Miß Tor?« fragte Mr. Dombey herablassend.

»Ich weiß in der Tat nicht«, erwiderte Miß Tor, »ob ich es mit Recht so nennen kann. Jedenfalls ist es keine Vorbereitungsschule. Drücke ich mich vielleicht treffend aus«, fügte sie mit eigentümlicher Süßigkeit hinzu, »wenn ich es als eine Kinderbewahrungsanstalt von der auserlesensten Beschaffenheit bezeichne?«

»In ungemein beschränktem und ausschließendem Maßstabe«, ergänzte Mrs. Chick mit einem Blick auf ihren Bruder.

»O! die Ausschließlichkeit selbst!« sagte Miß Tor.

Hierin lag etwas. Der Umstand, daß Mrs. Pipchins Gatten ob den peruanischen Minen das Herz brach, war gut – er hatte einen reichen Klang. Außerdem befand sich Mr. Dombey in einem Zustande, der sich fast zur Bestürzung steigerte, wenn er daran dachte, Paul solle auch nur noch eine Stunde im Hause bleiben, nachdem seine Entfernung durch den Arzt empfohlen worden war. Es handelte sich hier um eine neue Verzögerung und ein Hindernis auf dem Wege, den das Kind im besten Falle langsam genug zurücklegen mußte, ehe das Ziel erreicht war. Die Empfehlung der Mrs. Pipchin hatte bei ihm großes Gewicht, denn er wußte, daß die beiden Damen auf jede Einmengung bei ihrem Pflegling eifersüchtig waren, und es fiel ihm dabei keinen Augenblick ein, mit in Betracht zu ziehen, daß sie vielleicht auch auf andere Schultern eine Verantwortlichkeit abzuladen wünschten, in betreff deren er, wie sich eben erst gezeigt hatte, seine festgewurzelten Ansichten hatte. »Das Herz gebrochen wegen den peruanischen Minen«, dachte Mr. Dombey. »Nun, eine sehr achtbare Art, aus der Welt zu kommen.«

 

»Wir wollen morgen Nachfrage halten«, sagte Mr. Dombey nach einigem Erwägen: »und angenommen, wir entscheiden uns dafür, Paul zu dieser Dame nach Brighton zu schicken, wer soll mit ihm gehen?«

»Ich glaube, wir dürfen vorderhand nicht daran denken, das Kind irgendwohin zu schicken, ohne Florence, mein lieber Paul«, versetzte seine Schwester stockend. »Er ist ganz vernarrt in sie. Du weißt, er ist noch so jung und hat seine Grillen.«

Mr. Dombey wandte den Kopf ab, ging langsam nach dem Bücherschranke, schloß ihn auf und langte ein Buch zum Lesen heraus.

»Wen sonst noch, Louisa?« fragte er, ohne aufzusehen in dem Buche blätternd.

»Natürlich die Wickham. Ich denke, Wickham genügt vollkommen«, entgegnete seine Schwester. »Wenn Paul in solchen Händen ist, wie bei Mrs. Pipchin, so kannst du kaum jemand mitschicken, der für sie nur ein weiteres Hindernis wäre. Natürlich machst du wenigstens einmal in der Woche einen Besuch dort.«

»Natürlich«, sagte Mr. Dombey und saß noch eine Stunde nachher immer vor derselben Seite seines Buches, ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben.

Die gefeierte Mrs. Pipchin war eine wunderbar häßlich aussehende, mißlaunige alte Dame von gebeugter Haltung, mit einem Gesicht, so fleckig wie schlechter Marmor, einer Hakennase und einem harten grauen Auge, das aussah, als könnte es auf einem Amboß gehämmert werden, ohne dadurch Schaden zu nehmen. Wenigstens vierzig Jahre waren vergangen, seit die peruanischen Minen Mr. Pipchin den Tod gebracht hatten; aber seine Hinterlassene trug noch immer schwarzen Bombasin von so glanzlosem, tiefem, toten, düsteren Schatten, daß nach Eintritt der Dunkelheit sogar eine Gaslampe sie nicht aufzuhellen vermochte und ihre Gegenwart jede auch noch so große Anzahl von Kerzenlichtern zum Erblinden brachte. Sie galt im allgemeinen als eine Person, die sehr gut mit Kindern umzugehen wußte, und das Geheimnis ihrer Behandlung bestand darin, daß sie jedem gab, was ihm unlieb war, und nichts, was es gerne hatte; dadurch wurden denn ihre Charaktere sehr gezähmt. Sie war eine so bittere alte Dame, daß man sich wohl versucht fühlen konnte, zu glauben, in der Anwendung der peruanischen Maschinerie habe ein Irrtum stattgefunden, und es sei, statt des Wassers aus den Minen, alles Wasser der Heiterkeit und alle Milch der Menschenliebe völlig aus ihr herausgepumpt worden.

Das Kastell dieser Werwölfin und Kinderbändigerin stand an einer abschüssigen Stelle in einer Nebenstraße von Brighton. Der Boden war daselbst mehr als gewöhnlich kalkig, kieselig und unfruchtbar, und die Häuser zeigten ein gar schmächtiges, gebrechliches Aussehen. Die kleinen Gärten vorn besaßen die unerklärliche Eigentümlichkeit, nichts anderes als Ringelblumen hervorzubringen, was man sonst auch säen mochte, und die Schnecken klebten stets an den Haustüren und anderen öffentlichen Plätzen, wo sie wohl nicht als Zierde dienen konnten, mit der Beharrlichkeit von Schröpfköpfen. Winters konnte die Luft nicht aus dem Kastell heraus- und sommers nicht hineingebracht werden. Auch gab es darin einen so unaufhörlichen Widerhall des Windes, daß es überall stets wie eine große Muschel tönte, die die Insassen gleichsam Tag und Nacht an die Ohren halten mußten, ob sie nun wollten oder nicht. Natürlich konnte von einem frischen Geruch nicht die Rede sein, und vor dem Fenster des Vorderzimmers, das nie geöffnet wurde, unterhielt Mrs, Pipchin eine Sammlung von Topfpflanzen, die der ganzen Anstalt ihren eigenen erdigen Duft mitteilten.

Wie sorgsam gewählt auch in ihrer Art die Exemplare sein mochten, die Pflanzen standen jedenfalls in einem eigentümlichen Einklang mit dem ganzen Hause der Mrs. Pipchin. Da waren ein halb Dutzend Kaktusse, die sich wie haarige Schlangen um runde Stöcke wanden; ein anderes Gewächs derselben Art streckte breite Krallen hinaus, wie ein grüner Hummer, mehrere Kriechpflanzen hatten stechende klebrige Blätter, und ein einziger unfreundlicher Blumentopf, der von der Zimmerdecke herunterhing, schien durch Sieden übergelaufen zu sein und kitzelte jetzt die unter ihm befindlichen Personen mit seinen langen grünen Enden, die an eine Spinne erinnerten – eine Tiergattung, von der es in Mrs. Pipchins Wohnung wimmelte, obschon sie vielleicht zur geeigneten Jahreszeit von den Ohrwürmern noch überboten wurden.

Gleichwohl steigerten sich Mrs. Pipchins Anforderungen an alle, die es erschwingen konnten, sehr hoch, und da die Dame selten die gleichmäßige Schärfe ihres Wesens zugunsten irgendeines Pfleglings milderte, so galt sie als eine Frau von merkwürdiger Festigkeit, die in ihrer Behandlung des kindlichen Charakters ganz wissenschaftlich zu Werke gehe. Auf die Grundlage dieses Rufs und des gebrochenen Herzens ihres Gemahls hin gelang es ihr, nach dem Ableben des Mr. Pipchin Jahr für Jahr sich leidlich durchzuschlagen. Drei Tage, nachdem Mrs. Chick ihrer zum erstenmal Erwähnung getan hatte, erlebte die treffliche alte Dame die Freude, einer respektablen Erhöhung ihrer laufenden Einnahmen aus Mr. Dombeys Tasche entgegensehen zu können und Florence sowohl als deren kleinen Bruder Paul zu den Insassen des Kastells zählen zu dürfen.

Mrs. Chick und Miß Tor waren abends zuvor mit den Kleinen angelangt und hatten die Nacht in einem Gasthaus zugebracht. Nach Ablieferung ihrer Fracht fuhren sie wieder der Heimat zu, und Mrs. Pipchin musterte, ihren Rücken dem Feuer zugekehrt, die neuen Ankömmlinge wie ein alter Feldwebel. Eine ältliche Nichte der Dame, eine gutmütige, dienstbeflissene Sklavin, die aber eine sehr hagere, eisenfeste Außenseite besaß und viel von Schwären an der Nase zu leiden hatte, nahm eben dem Master Bitherstone den reinen Halskragen ab, den er bei der Parade getragen hatte. Miß Pankey, zurzeit die einzige weitere kleine Kostgängerin, war kurz zuvor nach dem Gefängnis des Kastells, einem leeren Hintergemach, das zu Korrektionszwecken dienen mußte, geschickt worden, weil sie in Anwesenheit der Gäste dreimal geschnüffelt hatte.

»Nun, Sir«, sagte Mrs. Pipchin zu Paul, »glaubt Ihr wohl, daß es Euch bei mir gefallen wird?«

»Ich denke nicht, daß es mir hier je gefallen kann«, versetzte Paul »Ich will wieder fort. Das hier ist nicht mein Haus.«

»Nein. Es gehört mir«, entgegnete Mrs. Pipchin.

»Es ist sehr garstig«, sagte Paul.

»Gleichwohl gibt es noch einen schlimmern Platz darin«, erwiderte Mrs. Pipchin, »wo wir unsere bösen Buben einsperren.«

»Ist der auch schon drinnen gewesen?« fragte Paul, auf Master Bitherstone deutend.

Mrs. Pipchin nickte bejahend, und Paul hatte für den Rest des Tags genug damit zu schaffen, indem er Master Bitherstone von Kopf bis zu Fuß musterte und die Bewegungen seines Gesichts mit dem vollen Interesse beobachtete, das ein Knabe mit geheimnisvollen und schrecklichen Erfahrungen einzuflößen imstande ist.

Ein Uhr war die Stunde des Mittagessens, das hauptsächlich aus Mehlspeisen und Gemüse bestand, und um diese Zeit wurde Miß Pankey (ein sanftes, blauäugiges kleines Mädchen) aus ihrem Gefängnis hervorgeholt. Die Werwölfin verrichtete dieses Amt in eigner Person und belehrte ihre kleine Pflegbefohlene, daß niemand, der vor den Gästen schnüffle, je in den Himmel komme. Nachdem ihr diese große Wahrheit gehörig ans Herz gelegt war, wurde sie mit Reis bewirtet und mußte dann die im Kastell herkömmliche Gebetformel vortragen, in der speziell die Klausel des Dankes gegen Mrs. Pipchin für das gute Essen eingeschlossen war. Mrs. Pipchins Nichte, Berinthia, erhielt kaltes Schweinefleisch, und Mrs. Pipchin, deren Konstitution warme Nahrung verlangte, setzte sich zu den Hammelrippchen, die zwischen zwei Platten ganz heiß hereingebracht wurden und sehr gut rochen.

Da sie wegen des Regens nach dem Mahl nicht an die Küste hinuntergehen konnten und Mrs. Pipchins Konstitution nach den Hammelrippchen der Ruhe bedurfte, so begaben sie sich mit Berry (sonst Berinthia) nach dem Gefängnis, einem leeren Zimmer, das nach einer gegipsten Wand und einem Wasserfaß hinaussah, keinen Ofen hatte und mit seinem zerrissenen Kamin einen sehr gespenstischen Eindruck machte. Wenn übrigens Geselligkeit Leben hineinbrachte, war hier am Ende der beste Platz; denn Berry spielte da mit den Kindern und schien an deren Ausgelassenheit eine ebenso große Freude zu haben, wie ihre Pfleglinge. Dies dauerte fort, bis Mrs. Pipchin, wie der wieder auflebende »schwarze Mann«, zornig an die Wand klopfte; dann ließen sie ab, und Berry erzählte ihnen im Flüsterton Märchen bis zur Abenddämmerung.

Statt des Tees war für die Kinder reichlich Milch und Wasser mit Butterbrot vorhanden. Nur für Mrs. Pipchin und Berry wurde ein kleiner schwarzer Teetopf nebst einer unbeschränkten Menge Röstschnitten mit Butter für Mrs. Pipchin aufgetragen, die ebenso heiß wie die Hammelrippchen ankamen. Obschon nun die Werwölfin infolge dieses Gerichts von außen sehr schmierig wurde, schien es sie doch von innen durchaus nicht geschmeidiger zu machen; denn sie blieb so wild wie immer, und das harte graue Auge wollte nichts von Weichheit wissen.

Nach dem Tee brachte Berry ein kleines Arbeits-Etui, auf dessen Deckel der königliche Pavillon zu sehen war, hervor und fing an, emsig zu arbeiten, während Mrs. Pipchin ihre Brille aufsetzte, ein großes, in grüne Leinwand gebundenes Buch herausnahm und zu nicken begann. Sooft aber Mrs. Pipchin sich darüber ertappte, daß sie gegen das Fenster vorbeugte und daran aufwachte, gab sie Master Bitherstone einen Nasenstüber, weil er gleichfalls genickt hatte.

Endlich war es für die Kinder Schlafenszeit, und nachdem sie ihr Gebet hergesagt hatten, wurden sie zu Bett gebracht. Da die kleine Miß Pankey sich fürchtete, allein im Dunkeln zu schlafen, so übernahm Mrs. Pipchin stets das Amt, sie in Person gleich einem Schaf die Treppe hinaufzutreiben; und es war gar erbaulich, mitanzuhören, wenn Miß Pankey noch lange hernach in der allerschlechtesten Kammer weinte und Mrs. Pipchin hin und wieder hineinging, um sie zu zausen. Um halb zehn Uhr brachte der Geruch von heißen Kalbsbrieslein (der Mrs. Pipchin gestattete ihre Konstitution nicht, ohne Kalbsbrieslein schlafen zu gehen) eine Abwechslung in die vorherrschenden Düfte des Hauses, die Mrs. Wickham als »Häusergeruch« bezeichnete, und bald nachher lag das ganze Kastell im Schlummer.

Am andern Morgen war das Frühstück wie der Tee am Abend vorher, nur mit der Ausnahme, daß Mrs. Pipchin statt der Röstschnitten eine Semmel verspeiste und nachher nur noch gereizter zu sein schien. Master Bitherstone las den übrigen laut einen Stammbaum aus der Genesis (von Mrs. Pipchin absichtlich ausgewählt) vor und kam über die Namen mit der Ruhe und Klarheit einer Person weg, die in einer Tretmühle arbeitete. Nachdem das geschehen war, wurde Miß Pankey fortgetragen, um gewaschen zu werden, und an Master Bitherstone nahm man etwas anderes mit Salzwasser vor, aus dem er stets sehr blau und niedergeschlagen zurückkehrte. Paul und Florence gingen inzwischen mit Wickham, die unaufhörlich in Tränen zerfloß, nach dem Gestade, und um die Mittagsstunde hielt Mrs. Pipchin abermals bei einer Vorlesung die Oberaufsicht. Es gehörte mit zu Mrs. Pipchins System, den kindlichen Geist sich nicht wie eine junge Blume entwickeln und ausbreiten zu lassen, sondern ihn mit Gewalt gleich einer Auster zu öffnen; denn die Moral solcher Vorlesungen trug gewöhnlich einen ungestümen und einschüchternden Charakter: der Held – ein böser Knabe – wurde in Mitte der Katastrophe selten durch etwas Geringeres als durch einen Löwen oder Bären abgetan.

So war das Leben bei Mrs. Pipchin. Am Sonnabend kam Mr. Dombey herunter – eine Gelegenheit, bei der Florence und Paul zu ihm nach seinem Hotel kommen durften und Tee erhielten. Auch den ganzen Sonntag blieben sie bei dem Vater und fuhren gewöhnlich vor dem Mittagessen mit ihm aus. Bei solchen Anlässen schien Mr. Dombey, gleich Falstaffs Feinden, sich sozusagen zu »multiplizieren« und aus einem einzelnen steifleinwandenen Menschen ein ganzes Dutzend zu werden. Sonntagabend war der trübseligste Abend in der Woche; denn zu solchen Zeiten schien Mrs. Pipchin es darauf abgesehen zu haben, besonders widerwärtig zu sein. Miß Pankey wurde in der Regel von einer Tante zu Rottendean in tiefer Betrübnis zurückgebracht, und Master Bitherstone, dessen Verwandte insgesamt in Indien waren, und der während der Gebete in aufrechter Haltung, den Kopf gegen die Zimmerwand gelehnt und ohne eine Hand oder einen Fuß zu rühren, dasitzen mußte, fühlte sich dabei in seinem jugendlichen Gemüt so niedergeschlagen, daß er eines Sonntags abends Florence fragte, ob sie ihm für den Rückweg nach Bengalen kein Mittel angeben könne.

 

Aber Mrs. Pipchin stand in dem Rufe, daß sie die Kinder systematisch zu behandeln wisse, und ohne Zweifel war das auch der Fall. Die wilden kamen zuverlässig zahm genug nach Haus, nachdem sie sich einige Monate unter ihrem wirtlichen Dache aufgehalten hatten. Auch sagte man sich allgemein, es machte Mrs. Pipchin große Ehre, daß sie, nachdem ihrem Mann durch die peruanischen Minen das Herz gebrochen war, sich dieser Lebensaufgabe gewidmet, ihre Gefühle zum Opfer gebracht und fortwährend gegen die Mühen ihrer Stellung so entschlossen standgehalten hatte.

Neben dieser exemplarischen alten Dame pflegte nun Paul in der Regel lange Zeit in seinem kleinen Armstuhl zu sitzen und ins Feuer zu schauen. Er schien nie zu wissen, was Müdigkeit war, so oft er einen festen Blick auf Mrs. Pipchin richtete. Zwar liebte er sie nicht und fürchtete sich auch nicht vor ihr. Aber in seinen wunderlichen alten Launen schien sie eine ganz eigentümliche Anziehung für ihn zu besitzen. Die Hände wärmend, schaute er nach ihr hin und schaute fort, daß sogar die Werwölfin bisweilen ganz verwirrt wurde. Als sie einmal allein waren, fragte sie ihn, an was er denke.

»An Euch«, versetzte Paul ohne den mindesten Rückhalt.

»Und was denkt Ihr von mir?« fragte Mrs. Pipchin.

»Ich mache mir Gedanken, wie alt Ihr wohl sein mögt«, sagte Paul.

»Von solchen Dingen müßt Ihr nicht sprechen, junger Gentleman«, versetzte die Dame. »Das schickt sich nicht.«

»Warum nicht?« sagte Paul.

»Weil es unhöflich ist«, versetzte Mrs. Pipchin schnippisch.

»Unhöflich?« fragte Paul.

»Ja.«

»Wickham sagt«, entgegnete Paul unschuldig, »es sei auch nicht höflich, alle Hammelrippchen und Röstschnitten allein zu essen.«

»Wickham«, erwiderte Mrs. Pipchin aufbrausend, »ist eine boshafte, unverschämte, dreiste Person.«

»Was soll das?« fragte Paul.

»Geht Euch nichts an, Sir«, entgegnete Mrs. Pipchin. »Denkt an die Geschichte von dem kleinen Knaben, der von einem tollgewordenen Ochsen totgestoßen wurde, weil er Fragen stellte.«

»Wenn der Ochse toll war«, sagte Paul, »wie konnte er wissen, daß der Knabe Fragen stellte? Niemand kann hingehen und einem tollen Ochsen Geheimnisse hinterbringen. Ich glaube nicht an diese Geschichte.«

»Ihr glaubt nicht daran, Sir?« wiederholte Mrs. Pipchin erstaunt.

»Nein«, sagte Paul.

»Auch nicht, wenn es zufälligerweise ein zahmer Ochse gewesen wäre, Ihr kleiner Ungläubiger?« erwiderte Mrs. Pipchin.

Da Paul den Gegenstand noch nicht in diesem Licht betrachtet und seine Folgerungen bloß auf die angeführte Mondsüchtigkeit der Ochsen gebaut hatte, so mußte er sich für den Augenblick zufrieden geben. Aber er brütete über dem Thema mit einer so augenscheinlichen Absicht, Mrs. Pipchin gleich wieder zu fassen, daß sogar diese zähe Dame es für ratsam hielt, sich zurückzuziehen, bis der Gegenstand vergessen wäre.


Von dieser Zeit an schien Paul für Pipchin ebensoviel Anziehungskraft zu haben wie Pipchin für Paul. Statt ihn auf der andern Seite des Feuers sitzen zu lassen, rückte sie seinen Stuhl auf ihre Seite hinüber, und da blieb denn Paul in einer Ecke zwischen dem Kamin und Mrs. Pipchin, alles Licht seines kleinen Antlitzes in die schwarzen Kleiderfalten vertiefend, jede Linie und Runzel ihres Gesichts studierend und das harte graue Auge in einer Weise durchbohrend, daß es Mrs. Pipchin bisweilen schloß, als ob sie schlummere. Mrs. Pipchin hatte eine alte schwarze Katze, die in der Regel mitten vor dem Kamin lag, wo sie aus reinem Privatvergnügen schnurrte und nach dem Feuer hinblinzelte, bis die zusammengezogenen Pupillen ihrer Augen wie zwei Ausrufungszeichen aussahen. Wie sie so zusammen bei dem Feuer dasaßen, hätte man die gute alte Dame – wir verwahren uns gegen alle respektwidrige Deutung – für eine Hexe und Paul nebst der Katze für ihre zwei vertrauten Geister ansehen können. Auch hätte es völlig zu der Szene gepaßt, wenn die ganze Gesellschaft in einer windigen Nacht einen Ausflug durch den Schornstein gemacht hätte, um nie wieder zurückzukommen.

So weit kam es nun allerdings nicht, sondern nach Einbruch der Dunkelheit sah man die Katze, Paul und Mrs. Pipchin stets an ihren gewöhnlichen Plätzen, und Paul, der die Kameradschaft des Master Bitherstone gerne mied, machte Abend für Abend seine Studien an Mrs. Pipchin, an der Katze und an dem Feuer, als wären sie ein Zauberbuch in drei Bänden.

Mrs. Wickham hatte für Pauls Besonderheiten ihre eigene Deutung und leitete aus alledem die unheimlichsten Betrachtungen ab. In solchen Deutungen wurde sie durch eine wirre Aussicht auf Schornsteine von dem Zimmer aus, wo sie sich gewöhnlich aufhalten mußte, durch das Getöse des Windes und durch die Langeweile ihres gegenwärtigen Lebens (Gespenstigkeit lautet der starke Ausdruck der Mrs. Wickham) bestärkt. Es gehöre mit zu Mrs. Pipchins Politik, zu verhindern, daß ihr eigenes »junges Weibsbild« – dies war ihre stehende Bezeichnung eines jeden weiblichen Dienstboten – in Verkehr mit Mrs. Wickham kam. Darum verwandte sie viel Zeit darauf, sich hinter Türen zu verbergen und auf das arme Mädchen zuzuspringen, sooft sich dieses Mrs. Wickhams Zimmer näherte. Indessen stand es doch Berry frei, in diesem Quartier, soweit es sich mit der Besorgung der vielfältigen Obliegenheiten vertrug, an denen sie unablässig von Morgen bis in die Nacht arbeiten mußte, sich wenigstens zu unterhalten, und so erleichterte dann Mrs. Wickham gegen sie ihr Herz.

»Was er für ein hübscher Junge ist, wenn er schläft!« sagte Berry, vor Pauls Bett stehenbleibend, nachdem sie Mrs. Wickham ihr Nachtessen hinaufgetragen hatte.

»Ach«, seufzte Mrs. Wickham, »er hat es wohl nötig.«

»Nun, er ist auch nicht häßlich, wenn er wacht«, bemerkte Berry.

»Nein, Ma'am. O nein. Ebenso wenig wie meines Onkels Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham.

Berry machte eine Miene, als möchte sie gar gerne den Gedankenzusammenhang zwischen Paul Dombey und der Betsey Jane des Onkels von Mrs. Wickham erforschen.

»Meines Onkels Frau«, fuhr Mrs. Wickham fort, »starb genau wie seine Mama. Das Kind meines Onkels fing gerade so an, wie Master Paul, und den Leuten lief oft darob das Blut kalt durch die Adern.«

»Wieso?« fragte Berry.

»Ich hätte nicht eine ganze Nacht allein bei Betsey Jane aufbleiben mögen!« sagte Mrs. Wickham, »nein, und wenn man meinem Mann am andern Morgen ein eigenes Geschäft angetragen hätte. Es wäre mir rein unmöglich gewesen. Miß Berry.«

Miß Berry fragte natürlich nach dem Grund. Aber Mrs. Wickham verfolgte nach dem Brauch mancher Damen von ihrer Stellung die Sache in ihrer eigenen Weise, ohne sich verwirren zu lassen.

»Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham, »war ein so süßes Kind, wie man nur eines zu sehen wünschen kann. Ich möchte mir kein lieberes wünschen. Betsey Jane überwand alles, was einem Kind an Krankheiten nur zustoßen kann. Die Masern waren bei ihr so leicht«, fügte Mrs. Wickham hinzu, »wie bei Euch das Hautjucken, Miß Berry.«

Miß Berry runzelte unwillkürlich die Nase.

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