Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs

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»Sagen? – Er hat geträumt«, versetzte Herr Jingle kaltblütig.

Ein Strahl der Hoffnung dämmerte in der Seele der armen Jungfer auf, als sie diesen Rat hörte. Herr Jingle nahm es in acht und verfolgte seinen Vorteil.

»Pah, pah! – Nichts leichter – verwünschter Blaustrumpf – liebenswürdige Dame – fetter Junge mit der Hundspeitsche traktiert – Ihnen geglaubt – alles vorbei – alles gut«.

Ob die Wahrscheinlichkeit eines Herauswindens aus dieser unzeitigen Entdeckung den Gefühlen der guten Jungfer so vergnüglich vorkam, oder ob das Prädikat »liebenswürdige Dame«, das ihr beigelegt wurde, das Bittere ihres Kummers milderte – wir wissen es nicht. Sie errötete und warf einen dankbaren Blick auf Herrn Jingle.

Der gewandte Gentleman seufzte tief auf, heftete ein paar Minuten seine Augen auf die Jungfer, sank dann ganz theatralisch zusammen und schlug die Blicke nieder.

»Sie scheinen unglücklich zu sein, Herr Jingle«, sagte die Dame mit teilnehmender Stimme. »Darf ich Ihnen meine Dankbarkeit für Ihre gütige Vermittlung dadurch bezeugen, daß ich Sie nach dem Grunde Ihres Leidens frage, um ihn womöglich beseitigen zu können?«

»Ach!« rief Herr Jingle mit abermaliger Komödiengeberde – »beseitigen? – Mein Unglück beseitigen, wo Ihre Liebe einem Mann zugewandt ist, der einen solchen Segen gar nicht zu schätzen weiß? – einem Manne, der sich eben jetzt mit Absichten auf die Neigung der Nichte desselben Wesens trägt, das – doch nein, er ist mein Freund, und so will ich seine Mängel nicht enthüllen. Fräulein Wardle – leben Sie wohl!«

Bei dem Schlusse dieser Anrede, der zusammenhängendsten, die man je aus seinem Munde vernommen hatte, brachte Herr Jingle den mehrmals erwähnten Rest eines Schnupftuchs an die Augen und wandte sich gegen die Tür.

»Bleiben Sie, Herr Jingle!« rief die Jungfer Tante mit Nachdruck. »Sie haben eine Anspielung auf Herrn Tupman gemacht – erklären Sie sich näher.«

»Nie!« rief Jingle in dem Tone seines Gewerbes. »Nie!«

Und um zu zeigen, daß er nicht weiter gefragt zu werden wünschte, rückte er einen Stuhl dicht an die Seite der Jungfer Tante und setzte sich nieder.

»Herr Jingle,« sagte die Tante, »ich bitte, ich beschwöre Sie, wenn irgendein schreckliches Geheimnis mit Herrn Tupman in Verbindung steht, so lüften Sie den Schleier.«

»Kann ich,« versetzte Herr Jingle, die Augen auf Fräulein Wardles Antlitz heftend – »kann ich mit ansehen – ein so liebliches Wesen – geopfert auf dem Altare herzloser Habsucht?« Er schien einige Augenblicke mit verschiedenen widerstreitenden Gefühlen zu kämpfen, und fuhr dann mit leiser, gedämpfter Stimme fort: »Tupman hat nichts als Ihr Geld im Auge.«

»Der Elende!« rief die Jungfer voller Entrüstung.

Herrn Jingles Zweifel waren gelöst: sie hatte Geld.

»Und was noch mehr ist,« fuhr Herr Jingle fort, »er liebt eine andere.«

»Eine andere?« entgegnete Fräulein Wardle. »Und wer wäre diese?«

»Kleines Mädchen – schwarze Augen – Nichte Emilie.«

Eine Pause.

Auf der ganzen Welt gab es niemand, gegen den Jungfer Tante eine tödlichere und tiefer gewurzelte Eifersucht nährte, als gerade diese Nichte. Ein Glutstrom schoß ihr über Gesicht und Nacken, sie wiegte den Kopf mit der Miene unaussprechlicher Verachtung hin und her. Endlich biß sie sich in die dünnen Lippen, warf sich in die Brust und begann:

»Es kann nicht sein. Ich mag es nicht glauben.«

»Sie beobachten«, meinte Jingle.

»Das will ich«, versetzte die Tante.

»Auf ihre Blicke acht haben –«

»Soll geschehen.«

»Sein Flüstern.«

»Ja.«

»Wird am Tisch neben ihr sitzen –«

»Das mag er.«

»Ihr Artigkeiten sagen –«

»Sei's drum,«

»Ihr alle erdenkliche Aufmerksamkeit erweisen –«

»Meinetwegen.«

»Mit Ihnen brechen.«

»Mit mir brechen?«, rief die Jungfer Tante. »Er mit mir brechen? Gut! Recht so!«

Und sie zitterte in der Wut getäuschter Hoffnung.

»Wollen Sie sich überzeugen?« fragte Jingle.

»Ich will.«

»Ihm entschlossen entgegentreten?«

»Ja.«

»Nachher nicht wieder mit ihm anbinden?«

»Auf keinen Fall.«

»Die Bewerbungen eines andern annehmen?«

»Ja.«

»So tun Sie es.«

Herr Jingle fiel auf seine Knie nieder, verharrte fünf Minuten in dieser Stellung, und erhob sich wieder als der begünstigte Liebhaber der Jungfer Tante – für den Fall, daß sich Herrn Tupmans Treulosigkeit herausstellen sollte.

Die Schuldigkeit des Beweises haftete auf Herrn Alfred Jingle, und er entledigte sich ihrer noch am nämlichen Tage beim Diner. Jungfer Tante mochte kaum ihren Augen trauen. Herr Tracy Tupman saß an Emiliens Seite und liebäugelte, flüsterte und lächelte mit Herrn Snodgraß in die Wette. Kein Wort – nicht einen Blick hatte er für sie, die tags zuvor noch der Stolz seines Herzens war.

»Verwünschter Bube!« dachte der alte Herr Wardle, dem seine Mutter Joes Erzählung mitgeteilt hatte. »Verwünschter Bube! Er muß geschlafen und geträumt haben. Eitel Einbildung!«

»Der Verräter!« dachte die alte Jungfer ihrerseits. »Der gute Herr Jingle hat mich nicht hintergangen. O, wie hasse ich den Bösewicht!« –

Die folgende Unterhaltung aber wird dazu dienen, unsern Lesern die scheinbar unerklärliche Veränderung in Herrn Tracy Tupmans Benehmen zu enträtseln.

Es war Abend – Schauplatz der Garten. Auf einem Nebenwege ergingen sich zwei Gestalten – die eine ziemlich klein und beleibt, die andere hoch und hager. Sie waren Herr Tupman und Herr Jingle. Die kleinere begann das Gespräch.

»Nun, wie habe ich meine Rolle gespielt?«

»Vortrefflich – fabelhaft – hätt's selbst nicht besser machen können – Sie müssen in dieser Weise fortfahren – morgen – jeden Abend – bis auf ein weiteres Zeichen.«

»Wünscht es Rachel noch immer?«

»Natürlich – tut's freilich nicht gern – aber muß sein – Verdacht abwenden – fürchtet ihren Bruder – sagt, es lasse sich nicht ändern – nur noch einige Tage – bis die alten Leute verblendet sind – Ihrem Glücke dann die Krone aufsetzen.«

»Läßt sie mir sonst nichts sagen?«

»Versichert Liebe, – treue – unverbrüchliche Liebe. Soll ich ihr etwas ausrichten?«

»Mein lieber Freund«, versetzte der nichts ahnende Tupman, glühend die Hand des vermeintlichen Freundes ergreifend, »versichern auch Sie Fräulein Rachel gleichfalls meiner wärmsten Liebe – sagen Sie ihr, wie schwer mir diese Verstellung wird – sagen Sie ihr alles, was sich in einem solchen Falle sagen läßt: aber fügen Sie auch bei, wie sehr ich die Notwendigkeit des Benehmens fühle, das sie mir diesen Morgen durch Sie anempfehlen ließ. Sagen Sie ihr, daß ich ihre Weisheit verehre und ihre kluge Vorsicht bewundere.«

»Soll geschehen. Weiter nichts?«

»Nein; nur noch das, daß ich mich glühend nach dem Augenblick sehne, »wo ich sie die Meinige nennen und jede Maske ablegen kann.«

»Wird besorgt – wird besorgt. Noch etwas auf dem Herzen?«

»Ach, mein Freund,« sagte der arme Tupman, abermals die Hand seines Gefährten ergreifend, »empfangen Sie meinen wärmsten Dank für ihre uneigennützige Güte, und vergeben Sie mir, wenn ich Ihnen je, auch nur mit dem Gedanken, Sie könnten mir im Wege stehen, unrecht getan habe. Mein teurer Freund, kann ich Ihnen je Ihren Dienst vergelten?«

»Reden Sie nicht davon«, versetzte Herr Jingle.

Er hielt sogleich inne, als ob er sich plötzlich auf etwas besinne, und sagte: »Übrigens, können Sie nicht zehn Pfund entbehren? – Im Augenblick zu besonderen Zwecken benötigt – zahle wieder in drei Tagen.«

»Aber mit Vergnügen«, versetzte Herr Tupman in der Überfülle seines Herzens. »Drei Tage sagen Sie?«

»Nur drei Tage – alles vorüber dann – keine weiteren Schwierigkeiten.«

Herr Tupman zählte das Geld auf die Hand seines Gefährten, und dieser ließ, während sie zurückgingen, Stück für Stück in seine Tasche gleiten.

»Vorsichtig«, sagte Herr Jingle – » ja keinen Blick.«

»Keine Silbe.«

»Nicht die leiseste.«

»Alle Ihre Aufmerksamkeit auf die Nichte – eher etwas unartig gegen die Tante – der einzige Weg, die Alten hinters Licht zu führen.«

»Soll alles pünktlich geschehen«, sagte Herr Tupman laut.

»Ja, ja, tu es nur pünktlich!« dachte Herr Jingle; und sie traten ins Haus.

Die Szene des Nachmittags wurde am Abend wiederholt, und ein gleiches geschah an den drei nächstfolgenden Nachmittagen und Abenden. Am vierten war der Wirt ungemein aufgeräumt, denn er hatte sich von der Haltlosigkeit der Klage gegen Tupman überzeugt. Bei Herrn Tupman aber stand es ähnlich, da ihm Herr Jingle mitgeteilt hatte, seine Angelegenheit würde bald zur Entscheidung kommen. Herr Pickwick war ebenfalls heiter, weil er selten anders war. Nur von Snodgraß ließ sich das nicht sagen, denn er war eifersüchtig auf Herrn Tupman, während wieder die alte Dame, weil sie im Whistspiel gewonnen, und Herr Jingle nebst Fräulein Tante – diese aus sehr erheblichen Gründen, die in einem andern Kapitel unserer ereignisreichen Geschichte erzählt werden sollen – sich der fröhlichen Stimmung der Mehrzahl anschlossen.

Zehntes Kapitel. Eine Entdeckung und eine Verfolgung.

Die Speisen standen auf dem Tisch, die Stühle waren herangerückt, Flaschen, Krüge und Gläser aus dem Wandschrank hervorgeholt, und alles verkündigte die Nähe des vergnüglichsten Zeitabschnitts im Verlauf des Tages.

»Wo ist Rachel?« fragte Herr Wardle.

»Ja, und wo Herr Jingle?« fügte Herr Pickwick bei.

 

»Ach du mein Himmel«, sagte der Hausherr, »es nimmt mich wunder, daß ich ihn nicht schon früher vermißte. Ich glaube, ich habe seine Stimme wenigstens schon zwei Stunden nicht mehr gehört. Liebe Emilie, klingle doch mal.«

Die Klingel wurde gezogen und der Junge trat ins Zimmer.

»Wo ist Fräulein Rachel?«

Er wußte nichts.

»Wo ist Herr Jingle?«

Er wußte es gleichfalls nicht.

Alle blickten sich überrascht an. Es war spät – bereits elf Uhr vorbei. Herr Tupman lachte sich ins Fäustchen. Sie spazierten natürlich irgendwo herum und unterhielten sich von ihm. Ha, ha! Ein herrlicher Einfall – Kapitalspaß!

»Tut nichts – tut nichts«, sagte Herr Wardle nach einer kurzen Pause. »Ich wette, sie werden bald da sein. Mit dem Nachtessen warte ich nie auf jemand.«

»Treffliche Hausordnung, das«, bemerkte Herr Pickwick. »Bewunderungswürdig.«

»Wollen Sie gefälligst Platz nehmen, meine Herren«, sagte der Hausherr.

»Wenn Sie erlauben«, versetzte Herr Pickwick.

Und die Gesellschaft ließ sich nieder.

Ein ungeheures Stück kalten Rinderbratens stand auf dem Tisch, und Herr Pickwick wurde mit einer kräftigen Portion davon versehen. Er erhob eben die Gabel zu seinen Lippen und war im Begriffe, den Mund zu öffnen und den Brocken dem obern Ende seines Verdauungskanals anzuvertrauen, als sich plötzlich von der Küche her der summende Ton vieler Stimmen vernehmen ließ. Er hielt inne und legte die Gabel nieder. Herr Wardle hielt gleichfalls inne, und ließ unwillkürlich das Tranchiermesser in dem Fleische stecken. Er sah Herrn Pickwick an, und Herr Pickwick blickte auf Herrn Wardle.

Schwere Fußtritte ließen sich von dem Hausflur vernehmen. Die Tür ging plötzlich auf, und herein trat der Mann, der Herrn Pickwick gleich bei seiner ersten Ankunft die Stiefeln gereinigt hatte, hinter ihm der fette Junge und das ganze Hausgesinde.

»Was, zum Teufel, soll das heißen?« rief der Hausherr.

»Hat etwa der Küchenschornstein Feuer gefangen, Emma?« fragte die alte Dame.

»Ach Gott, 's wird doch das nicht sein, Großmutter!« kreischten die jungen Damen.

»Was ist los?« rief der Hausherr.

Der Mann haschte nach Luft und keuchte mit schwacher Stimme:

»Sie sind fort, Herr – auf und davon, Sir!«

Bei dieser Eröffnung sah man Herrn Tupman Messer und Gabel niederlegen und erblassen.

»Wer ist fort?« sagte Herr Wardle heftig.

»Herr Jingle und Fräulein Rachel – in einer Postkutsche – vom Blauen Löwen in Muggleton aus. Ich war dort – konnte sie aber nicht zurückhalten; und so lief ich, hast du was kannst du, um es hier mitzuteilen.«

»Und ich mußte die Kosten dazu herschießen!« rief Herr Tupman, ganz außer sich aufspringend. »Er hat zehn Pfund von mir mitgenommen! Haltet ihn auf! Er hat mich betrogen! Ich lasse mir's nicht gefallen! Ich will mein Recht haben, Pickwick! Ich will nicht ruhig zusehen, wenn ich um mein Eigentum geprellt werde!«

Mit diesen und ähnlichen unzusammenhängenden Ausrufen rannte Herr Tupman wie toll im Zimmer umher.

»Gott behüte uns!« rief Herr Pickwick, die. außerordentlichen Gebärden seines Freundes mit entsetzten Blicken betrachtend. »Er ist übergeschnappt; was fangen wir an?«

»Was wir anfangen?« entgegnete der Hausherr, der bloß Pickwicks letzte Worte gehört hatte. »Spannt das Pferd in die Deichsel. Ich will im Löwen eine Postkutsche nehmen und ihnen augenblicklich nachsetzen. Wo –« rief er, als der Mann sich entfernte, um den Befehl zu vollziehen – »wo ist der heillose Kerl, der Joe?«

»Hier bin ich – aber kein heilloser Kerl«, versetzte eine Stimme. Es war die des fetten Jungen.

»Lassen Sie mich, Pickwick!« schrie Wardle, als er auf den unglücklichen Joe losstürzen wollte. »Er hat sich von diesem Schurken, dem Jingle, bestechen lassen, damit er mir eine falsche Witterung beibringe und mir mit einer Geschichte von meiner Schwester und Ihrem Freunde Tupman einen blauen Dunst vormache.« (Hier sank Herr Tupman auf seinen Stuhl zurück.) »Lassen Sie mich – ich muß ihm zu Leibe.«

»Ach, halten Sie ihn ja fest!« kreischten die Frauenzimmer, und aus ihrem Geschrei hörte man das Heulen des fetten Jungen deutlich heraus.

»Weg da!« rief der alte Mann. »Zurück mit Ihren Händen, Herr Winkle! Lassen Sie mich los, Herr Pickwick!«

Es war erbaulich, in diesem Augenblicke des Tumults und der Verwirrung den ruhigen und philosophischen Ausdruck in Herrn Pickwicks Gesicht wahrzunehmen. Er stand da, allerdings etwas gerötet von der Kraftanstrengung, die weite Taille seine« korpulenten Wirtes mit starken Armen umschlingend, und verhütete so einen tätlichen Ausbruch von dessen leidenschaftlichem Zorn, während der fette Junge von sämtlichen Damen zur Tür hinausgeschoben und gezerrt wurde. Er hatte indes kaum losgelassen, als der Bediente mit der Meldung hereintrat, daß der Wagen bereit wäre.

»Lassen Sie ihn nicht allein fort!« riefen die Frauenzimmer. »Es gibt ein Unglück!«

»Ich will ihn begleiten«, sagte Herr Pickwick.

»Sie sind ein wackerer Freund, Pickwick«, sagte Herr Wardle, seine Hand ergreifend. »Emma, gib Herrn Pickwick einen Schal um den Hals – rasch! Seht nach eurer Großmutter, Mädchen; sie ist ohnmächtig geworden. So kommen Sie – sind Sie fertig?«

Da Herr Pickwick inzwischen Mund und Kinn hastig in einen großen Schal gehüllt, den Hut auf seinen Kopf gepflanzt und den Überrock über den Arm geworfen hatte, antwortete er mit Ja.

Sie sprangen in den Wagen. »Laß dem Pferd den Zügel, Tom«, sagte Herr Wardle: und fort ging's über die schmalen Feldwege weg, holter, polter über die Wagengeleise und an den Knicks vorbei, daß alle Augenblicke zu befürchten stand, das leichte Fuhrwerk möchte in Stücke fliegen.

»Haben sie einen starken Vorsprung?« rief Herr Wardle, als der Wagen vor dem blauen Löwen anlangte, um den sich, so spät es war, ein kleines Häufchen Neugieriger versammelt hatte.

»Nicht über drei Viertelstunden«, lautete die vielstimmige Antwort.

»Schnell eine Kutsche mit Vieren! – Heraus damit! Man kann den kleinen Wagen nachher ausspannen.«

»Nun, Jungen!« rief der Wirt: »eine Kutsche und vier Pferde! Hurtig – zeigt ein bißchen Leben!«

Die Stallknechte und Jungen eilten weg. Laternen huschten hin und her: Pferdehufe klapperten auf dem unebenen Hofpflaster, die Kutsche rumpelte aus dem Schuppen heraus, und alle« war voll Leben und Bewegung.

»Nun – wird's noch diese Nacht?« rief Wardle ungeduldig.

»Kommt eben in den Hof, Sir«, versetzte der Stallknecht.

Und der Wagen kam – die Pferde wurden eingespannt – die Postillions sprangen hinzu – die Reisenden stiegen ein.

»Wohlgemerkt – die Siebenmeilenstation muß in weniger als einer halben Stunde gemacht sein«, rief Herr Wardle.

»Fort!«

Die Jungen brauchten Peitsche und Sporn, die Kellner schrien, die Stallknechte fluchten, und dahin flog der Wagen in wütender Eile.

»Eigentümliche Lage«, dachte Herr Pickwick, als er einen Augenblick Zeit zum Überlegen gewann. »Eigentümliche Lage für den Präsidenten des Pickwick-Klubs. Dumpfe Kutsche – fremde Pferde – fünfzehn Meilen in einer Stunde – und nachts zwölf Uhr!« Die ersten drei oder vier Meilen verlautete kein Wort unter den beiden Herren, da jeder zuviel mit seinen eigenen Gedanken zu schaffen hatte, um an den andern eine Bemerkung zu richten. Aber jetzt, da die warm gewordenen Pferde einmal im Zuge waren, wurde auch Pickwick durch die Raschheit der Bewegung aufgerüttelt, und er konnte nicht länger, ganz stumm da zu sitzen.

»Ich denke, wir werden sie sicher einholen«, begann er.

»Ich hoffe es«, versetzte sein Gefährte.

»Eine schöne Nacht«, sagte Herr Pickwick nach dem klaren Monde aufblickend.

»Um so schlimmer«, entgegnete Wardle, »denn sie haben für ihren Vorsprung den Vorteil des Mondlichts, der uns fehlt, da der Mond keine Stunde mehr am Himmel stehen wird.«

»In der Dunkelheit wird's freilich nicht mit der gleichen Geschwindigkeit fortgehen können – oder?« fragte Herr Pickwick.

»Gewiß nicht«, versetzte Herr Wardle trocken.

Herrn Pickwicks Aufregung begann sich ein wenig zu legen, als er über die Unbequemlichkeiten und Gefahren einer Reise nachdachte, auf die er sich so unüberlegt eingelassen hatte. Endlich wurde er jedoch durch das laute Rufen des Postillions auf dem Leitgaule aus seinen Betrachtungen geweckt.

»Hallo! Hallo!« rief der erste Postillion.

»Hallo! Hallo!« wiederholte der zweite.

»Hallo! Hallo!« stimmte der alte Wardle lustig mit ein, indem er den Kopf und den halben Körper zum Fenster hinaussteckte.

»Hallo! Hallo!« schrie Herr Pickwick am kräftigsten von allen, obgleich er durchaus nicht wußte, warum?

Und während dieses vierfachen »Hallos« machte der Wagen halt.

»Was gibt's?« fragte Herr Pickwick.

»Wir sind an einem Schlagbaum und werden hier etwas von den Flüchtigen hören«, versetzte der alte Wardle.

Nach Verlauf von fünf Minuten, die unter Klopfen und Schreien verbracht wurden, trat ein alter Mann, nur in Hemd und Beinkleidern, aus dem Schlagbaumhäuschen und schob die Barre zurück.

»Wie lange ist's, seit eine Postkutsche hier passierte?« fragte Herr Wardle.

»Wie lange?«

»Ja, wie lange?«

»Kann's nicht genau sagen. Gar lange wird's nicht sein, aber auch nicht gar kurz – just so zwischen drin, denke ich.«

»Es kam aber doch wirklich eine Kutsche vorbei.«

»O ja; ne Kutsche ist vorbeigekommen.«

»Aber seit wie lange, mein Freund«, mischte sich Herr Pickwick ein. »Vor einer Stunde vielleicht?«

»So was mag's gewesen sein«, versetzte der Mann.

»Oder zwei Stunden? fragte der Postillion des hinteren Zugs.

»Könnten auch zwei Stunden sein«, entgegnete der alte Mann zweifelhaft.

»Fort, Jungen«, rief der Wardle ärgerlich: »haltet euch nicht mit dem alten Dummkopf auf.«

»Dummkopf?« rief der alte Mann mit einem Grinsen, indem er den Balken halb vorschob und in die Mitte des Weges trat, um der Kutsche nachzusehen, die mit der zunehmenden Entfernung rasch den Blicken verschwand. »Lange kein solcher, als der da drinnen. Verliert er da seine zehn Minuten und geht so klug fort, wie er hergekommen ist. Wenn jeder Schlagbaumwärter seinen Goldfuchs nur halb so gut verdient, wie ich, so wirst du die andere Kutsche vor Michaelis nicht einholen, alter Fettbauch.«

Und weiter grinsend schloß der Mann den Schlagbaum vollends, trat in sein Haus und schob den Riegel hinter sich zu.

Inzwischen ging die Kutsche stets mit gleicher Geschwindigkeit weiter, bis sie am Ende der Station anlangte. Der Mond ging, wie Herr Wardle richtig bemerkt hatte, zeitig unter, und große Ballen schwarzer Wolken, die schon seit einiger Zeit den Himmel umzogen, sammelten sich bald zu einer einzigen dunklen Masse. Große Regentropfen, die hin und wieder an die Wagenfenster schlugen, schienen den Reisenden das rasche Annähern einer stürmischen Nacht zu verkündigen. Der Wind, der ihnen gerade entgegenblies, fegte in furchtbaren Stößen die schmale Straße daher und heulte greulich in den die Chaussee begrenzenden Bäumen. Herr Pickwick wickelte sich fester in seinen Überrock, drückte sich behaglich in eine Ecke des Wagens und verfiel in ein gesundes Schläfchen, aus dem er erst wieder erwachte, als die Kutsche halt machte und der Ton der Stallklingel nebst dem lauten Ruf: »Rasch! Pferde vor!« erscholl.

Aber hier gab es wieder eine Zögerung. Die Postjungen lagen in einem so geheimnisvoll tiefen Schlaf, daß man bei jedem fünf Minuten brauchte, um ihn zu wecken. Der Stallknecht hatte den Stallschlüssel verlegt, und selbst als dieser gefunden war, verwechselten die Postillione die Pferdegeschirre, so daß das Geschäft der Zurichtung wieder aufs neue begonnen werden mußte. Wäre Herr Pickwick allein gewesen, diese vielen Hindernisse hätten jedem Weiterfahren auf einmal ein Ziel gesteckt! aber der alte Herr Wardle war nicht so leicht zu entmutigen. Er ging bei allem so rührig an die Hand, knuffte hin und wieder einen der Burschen, zog da eine Schnalle an und legte dort eine Kette ein, so daß der Wagen in weit kürzerer Zeit, als sich unter so vielen Schwierigkeiten erwarten ließ, zum Abfahren bereit stand.

Sie nahmen die Reise – allerdings nicht unter besonders günstigen Umständen – wieder auf. Die Station war fünfzehn Meilen lang, die Nacht finster, der Sturm heftig, und der Regen schüttete in Strömen. Es war unmöglich, unter solchen Verhältnissen rasch vorwärts zu kommen. Ein Uhr hatte es bereits geschlagen, und man brauchte fast zwei Stunden, um die andere Station zu erreichen. Hier trafen sie jedoch auf einen Umstand, der alle ihre Hoffnungen wieder aufleben machte und ihren sinkenden Mut hob.

 

»Wann ist diese Nacht eine Kutsche angekommen?« rief der alte Wardle, aus seinem eigenen Wagen springend, und auf ein Fuhrwerk deutend, das, mit Kot bedeckt, auf dem Hof stand.

»Vor nicht ganz einer Viertelstunde, Sir«, versetzte der Stallknecht, an den diese Frage gerichtet war.

»Ein Herr und eine Dame?« fragte Wardle mit fast atemloser Hast.

»Ja, Sir.«

»Der Herr groß – dünn – lange Beine?«

»Ja, Sir.«

»Dame ältlich – schmales Gesicht – etwas mager – wie?«

»Ja, Sir.«

»Beim Himmel, sie sind's, Pickwick!« rief der alte Herr.

»Sie wären schon früher angelangt, wenn ihnen nicht ein Zugstrang zerrissen wäre«, sagte der Stallknecht.

»Sie sind's«, rief Herr Wardle. »Gerechter Himmel, sie sind's! Geschwind – eine Kutsche und vier Pferde! Wir holen sie ein, noch ehe sie die nächste Station erreichen. Jedem einen Goldfuchs, Jungens – rührt euch – tapfer – so; brave Burschen.«

Unter solchen Ermunterungen rannte der alte Herr geschäftig im Hofe hin und her. Er war in einer Aufregung, die sich sogar Herrn Pickwick mitteilte, so daß dieser Gentleman gleichfalls an dem Einschirren der Pferde mithalf und auf eine ganz wundersame Weise nach den Rossen und den Rädern sah, fest überzeugt, durch seine Mitwirkung die Vorbereitungen zum schleunigsten Aufbruch wesentlich zu fördern.

»Hinein – hinein!« rief der alte Wardle, indem er in den Wagen stieg, den Tritt nachzog und den Schlag schloß. »Kommen Sie – beeilen Sie sich.«

Und noch ehe Herr Pickwick wußte wie, fühlte er sich durch einen tüchtigen Ruck von seiten des alten Herrn und durch einen Nachschub des Stallknechts durch den andern Schlag in den Wagen gehoben. Dann ging es wieder weiter.

»So – jetzt sind wir wieder in Bewegung«, rief der alte Herr frohlockend.

Das war auch in der Tat der Fall, wie Herr Pickwick aus den häufigen Zusammenstößen mit der Kutschenwand und seinem Nachbar am besten empfand.

»Greifen Sie nach dem Halter«, sagte Herr Wardle, als ihm Herrn Pickwicks Kopf gegen die Rippen fuhr.

»Ich bin in meinem Leben nie so gerüttelt worden«, entgegnete Herr Pickwick.

»Macht nichts«, versetzte sein Gefährte: »wird bald vorüber sein. Halten Sie sich nur fest.«

Herr Pickwick drückte sich so fest er konnte in seine Ecke, und der Wagen rollte schneller als je dahin.

Sie hatten in dieser Weise ungefähr drei Meilen zurückgelegt, als Herr Wardle, der auf ein paar Minuten durch den Schlag hinaus gesehen, plötzlich den von Kot bespritzten Kopf zurückzog und in atemloser Hast ausrief:

»Dort sind sie!«

Herr Pickwick steckte den Kopf gleichfalls durch das Fenster. Ja, es war eine Kutsche mit vier Pferden, die in vollem Galopp in kurzer Entfernung vor ihnen dahinsprengte.

»Vorwärts! vorwärts!« schrie der alte Herr. »Zwei Goldfüchse für jeden. Jungen – holt sie ein – drauf – drauf!«

Die Pferde der ersten Kutsche jagten in höchster Eile davon, und Herrn Wardles jagten wütend hinterdrein.

»Ich sehe seinen Kopf«, rief der cholerische alte Herr; »ich will verdammt sein, wenn ich nicht seinen Kopf sehe.«

»Ich gleichfalls«, sagte Herr Pickwick. »Er ist's!«

Herr Pickwick hatte sich nicht geirrt. Herrn Jingles Gesicht, über und über mit Straßenkot bespritzt, war deutlich an dem Fenster der Kutsche zu erkennen, und die ungestümen Bewegungen seines Armes verrieten, daß er die Postillione antrieb, ihr Äußerstes zu tun.

Die Spannung war aufs höchste gesteigert. Felder, Bäume und Hecken schienen mit der Schnelligkeit des Windes an ihnen vorbeizufliegen, so jagten die Rosse dahin. Sie waren hart an der ersten Kutsche und konnten Jingles Stimme selbst unter dem Rädergerassel die Postillione antreiben hören. Der alte Wardle schäumte vor Zorn und Wut. Er warf ihm »Schurken« und »Spitzbuben« zu Dutzenden nach und schüttelte die Faust nachdrücklich gegen den Gegenstand seiner Entrüstung. Aber Herr Jingle antwortete nur mit einem verächtlichen Lächeln und erwiderte die Drohungen des alten Herrn durch lautes Frohlocken, als seine Pferde unter Beihilfe der Peitsche und des Sporns rascher anzogen und die Verfolger weit hinter sich ließen.

Herr Pickwick hatte eben seinen Kopf zurückgezogen und Herr Wardle, von seinem Schreien erschöpft, das gleiche getan, als sie durch einen furchtbaren Stoß des Wagens gegen die Vorderseite geschleudert wurden. Ein dumpfer Ton – ein lautes Krachen – ein Rad flog ab, und die Kutsche schlug um.

Nach einigen Augenblicken der Verwirrung und Bestürzung, in denen sich nichts als das Ausschlagen der Pferde und das Klirren der Glasscheiben vernehmen ließ, fühlte sich Herr Pickwick gewaltsam aus dem zertrümmerten Wagen hervorgezogen, und als er endlich auf seinen Beinen stand und sich aus den Schößen seines Überrocks auswickelte, die den Gebrauch seiner Brille wesentlich beeinträchtigten, gewahrte er den ganzen Umfang des Unheils, das ihnen zugestoßen war.

Der alte Herr Wardle stand ihm ohne Hut und mit zerrissenen Kleidern zur Seite, und die Bruchstücke des Wagens lagen zu ihren Füßen. Die Postillions, denen es gelungen war, die Stränge abzuschneiden, standen, beschmutzt und von dem scharfen Ritt erschöpft, bei ihren Pferden. Die andere Kutsche hatte einen Vorsprung von ungefähr hundert Schritten und machte halt, als man dort das Krachen vernahm. Die Postillione blickten aus ihren Sätteln mit grinsenden Gesichtern zurück, und Herr Jingle, der das Unglück aus dem Kutschenfenster mit angesehen hatte, zeigte gleichfalls eine nicht unzufriedene Miene. Der Tag brach eben an, so daß sich die ganze Szene im Dämmerlicht des Morgens deutlich unterscheiden ließ.

»Holla!« rief der schamlose Jingle: »Jemand beschädigt? – Ältere Herren – nicht leicht – gefährliche Arbeit – wahrhaftig.«

»Sie sind ein Schurke!« brüllte Wardle.

»Ha! ha!« lachte Herr Jingle. Dann fügte er mit einem bedeutsamen Winke und einer Bewegung seines Daumens gegen das Innere seiner Kutsche bei – »ich sage – sie ist ganz wohl – besten Gruß von ihr – bittet. Sie möchten sich ihretwegen nicht bemühen – läßt Tuppy grüßen – wollen Sie nicht hinten aufsitzen? – Vorwärts, Jungen«!«

Die Postillione nahmen wieder ihre frühere Haltung ein, und die Kutsche rasselte weiter, während Herr Jingle höhnend sein Taschentuch zum Fenster hinausflattern ließ.

Nichts von dem ganzen Abenteuer – nicht einmal der Umsturz des Wagens – war imstande gewesen, Herrn Pickwicks Gemütsruhe zu trüben. Aber die Bosheit dieses Menschen, der zuerst von seinem treuen Begleiter Geld borgte und dann dessen Namen schmählicher Weise zu »Tuppy« abkürzte, war mehr, als er ertragen konnte. Er holte tief Atem, wurde rot bis an seine Brille und sagte langsam und nachdrücklich:

»Wenn ich je wieder mit diesem Menschen zusammentreffe, so will ich –«

»Ja, ja,« unterbrach ihn Herr Wardle; »das ist alles ganz recht. Aber während wir hier stehen und schwatzen, verschafft er sich eine Heiratserlaubnis und läßt sich in London trauen.«

Herr Pickwick hielt inne und stöpselte die Flasche, die er aus Wut entkorkt hatte, wieder zu.

»Wie weit ist's bis zur nächsten Station?« fragte Herr Wardle einen der Postillione.

»Sechs Meilen – gelt Tom?«

»Etwas drüber.«

»Etwas über sechs Meilen, Sir.«

»Da ist nichts anderes zu machen, als zu Fuß hinzugehen, Pickwick«, sagte Herr Wardle.

»Freilich, 's gibt keinen andern Ausweg«, versetzte dieser wahrhaft große Mann.

Sie sandten nun einen der Postjungen zu Pferd voraus, um einen neuen Wagen samt Pferden zu bestellen, und ließen den andern bei der zerbrochenen Kutsche zurück, während sie selbst sich mannhaft in Bewegung setzten, nachdem sie zuvor den Hals durch ihre Tücher geschützt und ihre Hüte niedergekrempt hatten, um sich so viel wie möglich gegen den Regen zu schützen, der jetzt nach kurzem Nachlassen wieder in Strömen zu fließen begann.

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