Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs

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Dreizehntes Kapitel. Enthält einen bedeutungsvollen Vorfall, der sowohl in Herrn Pickwicks Leben, als in dessen Geschichte Epoche macht.

Herrn Pickwicks Zimmer in der Goßwellstraße, obschon von beschränktem Räume, gewährte doch eine sehr nette, bequeme und für einen Mann von seinem Genie und Beobachtungsgeist ganz besonders geeignete Wohnung. Sein Arbeitszimmer befand sich im ersten Stock, sein Schlafzimmer im zweiten, und beide lagen nach vorn hinaus, so daß Herr Pickwick, sowohl von seinem Schreibtisch im Wohnzimmer, als von seinem Ankleidespiegel im Schlafgemach aus gute Gelegenheit hatte, die menschliche Natur in allen ihren unzähligen Phasen an einem Platze zu beobachten, der ihm fortwährend ein buntes Volksleben vor die Augen führte. Seine Hauswirtin, Frau Bardell, die trostlose Hinterbliebene eines Zolleinnehmers, war eine resolute Frau von lebhaftem Temperament und angenehmem Äußern. Dabei war sie mit einem natürlichen Kochgenie begabt, das sie durch Studium und langjährige Praxis bis zu einer außerordentlichen Höhe ausgebildet hatte. In ihrem Hause gab es weder Kinder, noch Dienstboten, noch Federvieh. Seine einzigen Insassen waren, außer Herrn Pickwick, ein großer Mann und ein kleiner Knabe, der erstere ein Untermieter, der zweite ein Sprößling der Frau Bardell. Der große Mann war immer abends Punkt zehn Uhr zu Hause und pferchte sich zu dieser Stunde regelmäßig in die Grenzen einer zwerghaften französischen Bettstelle im hintern Zimmer zusammen. Die kindischen Spiele und gymnastischen Übungen des jungen Herrn Bardell aber waren ausschließlich auf die Plätze vor den Türen der Nachbarn und die Rinnsteine vor dem Hause beschränkt. Reinlichkeit und Stille herrschten in dem Bau, darinnen Herrn Pickwicks Wille als Gesetz galt.

Jedermann, der den geschilderten häuslichen Zustand und die bewundernswürdige Selbstbeherrschung Herrn Pickwicks gekannt hätte, würde sein Benehmen an dem Morgen vor dem zur Reise nach Eatanswill bestimmten Tage höchst mysteriös und sonderbar gefunden haben. Er ging mit raschen Schritten in seinem Zimmer auf und ab, schaute alle drei Minuten einmal unruhig zum Fenster hinaus, sah fortwährend nach der Uhr, und ließ noch viele andere, bei ihm selten vorkommende Zeichen von Ungeduld wahrnehmen. Offenbar lag ihm etwas sehr Wichtiges im Sinne, doch was dieses Etwas sein möchte, vermochte selbst Frau Bardell nicht zn ergründen.

»Frau Bardell«, hob Herr Pickwick endlich an, als diese liebenswürdige Frau endlich mit ihrem ausdauernden Staubabwischen fast zu Ende gekommen war.

»Sir«, sagte Frau Bardell.

»Ihr kleiner Knabe bleibt sehr lange aus.«

»Ei, es ist aber auch ein ziemlich weiter Weg nach dem Borough, Sir«, entgegnete Frau Bardell.

»Da haben Sie freilich recht«, versetzte Herr Pickwick, versank abermals in Stillschweigen, und Frau Bardell fuhr mit dem Staubabwischen fort.

»Frau Bardell«, begann Herr Pickwick nach einigen Minuten von neuem.

»Sir«, sagte Frau Bardell, wie zuvor.

»Glauben Sie wohl, daß es bedeutend mehr kostet, zwei Personen zu unterhalten, als eine einzige?« fragte Herr Pickwick.

»Mein Gott, Herr Pickwick«, rief Frau Bardell aus, bis an den Rand ihrer Haube errötend, weil sie in den Augen ihres Mietsherrn ein heiratslustiges Blinzeln zu bemerken glaubte; »mein Gott, Herr Pickwick, was ist das für eine Frage?«

»Glauben Sie es wirklich?« fragte Herr Pickwick weiter.

»Tja, Herr Pickwick«, erwiderte Frau Bardell, mit ihrem Staubbesen seine auf dem Tische ruhenden Ellenbogen fast berührend, »das kommt ganz darauf an, ob es eine haushälterische und verständige Person ist, Sir.«

»Da haben Sie recht«, versetzte Herr Pickwick; »doch ich denke, daß die Person, die ich im Auge habe (bei diesen Worten fixierte er Frau Bardell sehr scharf) jene Eigenschaften, und noch überdies eine beträchtliche Weltkenntnis und viel Klugheit besitzt, Frau Bardell, was mir wesentliche Vorteile bringen dürfte.«

»Ach du mein Himmel, Herr Pickwick!« rief Frau Bardell aus, und errötete abermals bis an den Rand ihrer Haube.

»Ich bin wirklich davon überzeugt«, sagte Herr Pickwick, lebhafter werdend, wie es gewöhnlich bei ihm der Fall war, wenn er von einem ihn interessierenden Gegenstande sprach; »ich bin wirklich davon überzeugt, und um Ihnen die Wahrheit zu sagen, Frau Bardell, ich habe bereits meinen festen Entschluß gefaßt.«

»Ach, du meine Güte, Sir!« rief Frau Bardell.

»Sie werden es allerdings auffallend finden«, fuhr der liebenswürdige Herr Pickwick fort, indem er dabei seine Hausgenossin mit freundlichem Lächeln anblickte, »daß ich Sie über diese Angelegenheit gar nicht zu Rate gezogen, und nicht eher etwas davon erwähnt habe, als in dieser Stunde, wo ich Ihren kleinen Knaben ausgeschickt – hihi, was sagen Sie?«

Frau Bardell konnte nur durch einen Blick antworten. Sie hatte Herrn Pickwick längst im stillen verehrt, und jetzt sah sie sich mit einem Male auf den Gipfel eines Glücks gehoben, das sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorgestellt hatte. Herr Pickwick stand im Begriff, ihr einen Antrag zu machen – ein überlegter Plan! –, ja, nur deshalb hatte er ihren Knaben fortgeschickt – wie herrlich war das ausgedacht, und wie klug ausgeführt!

»Nun«, fragte Herr Pickwick, »was meinen Sie?«

»Ach, Herr Pickwick«, erwiderte Frau Bardell, vor innerer Bewegung zitternd, »Sie sind gar zu gütig, Sir.«

»Meinen Sie nicht, daß ich Ihnen ein gutes Teil Mühe dadurch ersparen würde?« fragte Herr Pickwick weiter.

»O, aus der Mühe mache ich mir gar nichts, Sir«, erwiderte Frau Bardell: »und ich will mich gern, um nur Sie zufrieden zu sehen, einer noch größeren als je unterziehen. Ach, es ist unaussprechlich viel Güte von Ihnen, Herr Pickwick, daß Sie auf meine verlassene Lage soviel Rücksicht nehmen!«

»Ich versichere Sie«, versetzte Herr Pickwick, »daran habe ich noch nicht einmal gedacht. Doch Sie werden, wenn ich in der Stadt bin, immer jemand haben, der bei Ihnen bleibt.«

»O Gott, ich werde eine sehr glückliche Frau sein«, sagte Frau Bardell.

»Und Ihr kleiner Knabe« – sagte Herr Pickwick.

»Der Himmel segne ihn!« unterbrach ihn Frau Bardell mit einem mütterlichen Seufzer.

»Auch er wird einen Gefährten haben, und zwar einen recht aufgeweckten, der ihn, ich will darauf wetten, in einer Woche mehr Schelmenstreiche lehren wird, als er sonst wohl in einem Jahre lernen würde.«

Herr Pickwick begleitete diese Worte mit einem gutmütigen Lächeln.

»O Sie lieber –«

Herr Pickwick stutzte.

»O Sie lieber, guter, herrlicher Mann!« rief Brau Bardell aus, sprang von ihrem Stuhle auf und schlang ohne weitere Umstände unter einem Katarakt von Tränen und einem Chor von Seufzern ihre Arme um Herrn Pickwicks Nacken.

»Gerechter Gott!« schrie Herr Pickwick, ganz außer sich: »Frau Bardell, gute Frau – du meine Güte! – welche Situation! – ich bitte, bedenken Sie doch – Frau Bardell – ich beschwöre Sie um alle» in der Welt – wenn jemand käme –«

»D, mag kommen, wer will!« rief Frau Bardell, in ihrer Liebesekstase ihn noch fester umschlingend: »ich lasse nicht von Ihnen – o Sie lieber, Sie teurer Mann!«

»Barmherziger Gott!« ächzte Herr Pickwick, indem er aus allen Kräften rang, sich von ihr loszumachen: »ich höre jemand auf der Treppe kommen. O, ich bitte Sie um Himmels willen, liebe Frau, seien Sie doch nur vernünftig!«

Aber alle Bitten und Vorstellungen blieben fruchtlos, denn Frau Bardell war in Pickwicks Armen in Ohnmacht gefallen, und ehe er Zeit gewinnen konnte, sie auf einen Stuhl niederzusetzen, trat Master Bardell in das Zimmer, gefolgt von Herrn Tupman, Herrn Winkle und Herrn Snodgraß.

Herr Pickwick war wie vom Donner gerührt. Seine liebliche Bürde in den Armen haltend, stand er bestürzt und regungslos da, und starrte seine Freunde an, ohne sie zu begrüßen, ja ohne auch nur den geringsten Versuch zu machen, ihnen eine Erklärung darüber zu geben. Seine Freunde machten große Augen, und Master Bardell glotzte alle zusammen an.

Da« Erstaunen der Pickwickier und die Verwirrung Herrn Pickwicks waren so überwältigend, daß wahrscheinlich sämtliche


Personen bis zum Wiedererwachen der Lebensgeister unserer guten Frau Bardell in ihren Stellungen verharrt sein würden, wenn sich nicht die kindliche Zärtlichkeit des Sprößlings der Ohnmächtigen auf eine höchst rührende Weise Luft gemacht hätte. Er war anfangs, in einem Korduroyanzug mit großen Metallknöpfen, erstaunt und ungewiß an der Tür stehengeblieben; aber schließlich kam er auf den Gedanken, daß Herr Pickwick seiner Mutter ein Leid angetan haben möchte; er erhob daher ein jämmerliches Geschrei, stürzte auf den unsterblichen Mann los und begann dessen Rücken und Beine mit Stößen und Knüffen so empfindlich zu bearbeiten, als es die Kraft seines kleinen Armes und das Ungestüm seiner Aufregung zuließ.

»Wehren Sie doch dem kleinen Schlingel!« rief der geängstigte Herr Pickwick; »er ist ja ganz des Teufels!«

»Was gibt es denn hier?« fragten die drei Pickwickier wie aus einem Munde.

»Ich weiß es nicht«, versetzte Herr Pickwick verdrießlich. »Schaffen Sie mir nur den Knaben vom Halse – (Herr Winkle zog den schreienden und um sich schlagenden interessanten Knaben in den entferntesten Winkel des Zimmers) – und helfen Sie mir die Frau die Treppe hinunterführen.«

»Ah, ich fühle mich wieder besser«, begann Frau Bardell mit schwacher Stimme.

»Erlauben Sie mir, Sie hinunter zu begleiten«, sagte der stets galante Herr Tupman.

 

»Ich nehme es mit Dank an, Sir – ich nehme es mit Dank an«, rief Frau Bardell in hysterischer Aufregung.

Und so wurde sie denn von Herrn Tupman die Treppe hinuntergeführt, während ihr das zärtliche Söhnlein folgte.

»Ich kann nicht begreifen«, sagte Herr Pickwick, als sein Freund zurückkehrte, »was dieser Frau eigentlich zugestoßen ist. Ich hatte ihr bloß meine Absicht angekündigt, einen männlichen Dienstboten anzunehmen, als sie in eine wahre Verzückung geriet und endlich in Ohnmacht fiel. Ein höchst merkwürdiger Fall!«

»Höchst merkwürdig!« riefen die drei Freunde aus.

»Sie versetzte mich in der Tat in eine ganz sonderbare Lage«, fuhr Herr Pickwick fort.

»Ganz sonderbar!« wiederholten seine Gefährten, ein wenig hustend und sich gegenseitig merkwürdige Blicke zuwerfend, die Herrn Pickwick nicht entgingen. Sie hatten ihn offenbar im Verdacht.

»Es wartet ein Mann auf dem Gange«, bemerkte Herr Tupman.

»Ohne Zweifel der Diener, an den ich dachte«, sagte Herr Pickwick. »Ich schickte diesen Morgen nach ihm. Haben Sie doch die Güte, ihn hereinzurufen, lieber Snodgraß.«

Herr Snodgraß tat, wie ihm geheißen, und gleich darauf stellte sich Herr Samuel Weller vor.

»Ich denke, Ihr erinnert Euch meiner«, redete ihn Herr Pickwick an.

»Sollt's meinen«, erwiderte Sam mit pfiffigem Blinzeln. »Ein wunderlicher Auftritt – aber er hat Ihnen doch allen ein Schnippchen geschlagen; fort war er, ehe einer in seine Tabaksdose greifen kann – was?«

»Lassen wir das jetzt«, fiel Herr Pickwick eilig ein; »ich wollte von etwas anderm mit Euch reden. Setzt Euch.«

»Danke Sir«, sagte Sam, und setzte sich, ohne sich weiter nötigen zu lassen, nachdem er seinen alten weißen Hut auf einen außen vor der Tür stehenden Tisch gelegt hatte. »Er sieht nicht zum besten aus«, bemerkte er, »sitzt aber erstaunlich gut und war ein sehr hübscher Deckel, ehe sich die Krempe lostrennte: er ist aber so leichter, das ist ein Vorteil – und dann läßt jedes Loch Luft herein, das ist der zweite – ein gesunder Abkühlungsapparat.«

Nach dieser Erörterung lächelte Herr Weller die versammelten Pickwickier freundlich an.

»Schon gut«, sagte Herr Pickwick; »doch jetzt zur Sache, weswegen ich Euch habe rufen lassen.«

»Sehr wohl, Sir«, unterbrach ihn Sam: »nur heraus damit, wie der Vater zu dem Kinde sagte, als es einen Pfennig verschluckt hatte.«

»Vor allen Dingen möchte ich wissen«, fuhr Herr Pickwick fort, »ob Ihr aus irgendeinem Grunde mit Eurer gegenwärtigen Lage unzufrieden seid.«

»Bevor ich auf diese Frage antworte«, versetzte Sam, »möchte ich gern wissen, ob Sie mir etwa zu einer bessern verhelfen wollen?«

Ein Strahl gütigen Wohlwollens glänzte auf Herrn Pickwicks Angesicht, als er sagte:

»Ich habe unter Umständen vor, Euch selbst in Dienst zu nehmen.«

»Ach was?« sagte Sam.

Herr Pickwick nickte bejahend.

»Lohn?« sagte Sam.

»Zwölf Pfund jährlich«, erwiderte Herr Pickwick.

»Kleidung?«

»Zwei Anzüge.«

»Arbeit?«

»Ihr wartet mir auf und begleitet mich und diese Herren hier auf Reisen.«

»Also runter mit dem Bedientenbuch«, sagte Sam mit Nachdruck: »ich bin an einen einzelnen Herrn vermietet und mit den Bedingungen einverstanden.«

»Ihr nehmt also die Stelle an?« fragte Herr Pickwick.

»Gewiß«, erwiderte Sam: »wenn mir die Livree nur halb so gut paßt wie die Stelle, so wird's schon gehen.«

»Ohne Zweifel werdet Ihr ein Zeugnis beibringen können?« fragte Herr Pickwick.

»Wenden Sie sich deshalb an die Wirtin vom Weißen Hirsch«, versetzte Sam.

»Könntet Ihr noch heute abend den Dienst antreten?«

»Augenblicks stecke ich mich in Ihre Livree, wenn sie zur Hand ist«, entgegnete Sam äußerst vergnügt.

»Sprecht heute abend um acht Uhr vor«, sagte Herr Pickwick, »und wenn meine Erkundigungen nach Wunsch ausfallen, werde ich für eine Livree sogleich Sorge tragen.«

Mit Ausnahme eines einzigen liebenswürdigen Fehltritts, an dem ein Hausmädchen gleichen Anteil hatte, war der Bericht über Herrn Wellers Betragen so rein von jedem Makel, daß Herr Pickwick sich völlig beruhigt fühlte und noch am selben Abend den Vertrag mit dem neuen Diener schloß. Mit der Raschheit und Energie, die nicht nur die öffentlichen, sondern auch die Privathandlungen dieses außerordentlichen Mannes kennzeichneten, führte er den Diener in eins der Konfektionsgeschäfte, wo alte und neue Herrenanzüge vorrätig sind und man der lästigen und unbequemen Formalität des Maßnehmens überhoben ist. Noch vor Einbruch der Nacht war Sam Weller mit einem grauen Rocke mit P.-C.-Knöpfen, einem schwarzen Hut mit einer Kokarde, einer fleischfarbenen, gestreiften Weste, lichten Beinkleidern und Gamaschen und mehreren andern Erfordernissen, deren Aufzählung den Leser belästigen könnte, ausstaffiert.

»Ich bin doch neugierig«, sagte unser plötzlich also verwandeltes Individuum, als es am nächsten Morgen den Außensitz der Eatanswiller Postkutsche eingenommen hatte, »ob ich einen Diener, einen Stallknecht, einen Hegereiter oder einen Portier vorstellen soll. Ich sehe wie eine Art Ragout von alledem ans. Doch, was macht das! Komme ich ja auf diese Weise zu einer Luftveränderung, kriege viel zu sehen und habe wenig zu tun, was mir alles ganz prächtig zusagt. Ich bleibe daher dabei: die Pickwickier sollen leben.«

Vierzehntes Kapitel. Nachrichten über Eatanswill – über den Stand der dortigen Parteien – und über die Wahl eines Parlaments-Mitglieds für diesen alten, loyalen und patriotischen Flecken.

Wir wollen offen gestehen, daß wir bis zu der Zeit, wo wir uns zuerst in die Masse der Papiere des Pickwick-Klubs versenkten, noch nie etwas von Eatanswill gehört hatten; auch wollen wir mit gleicher Freimütigkeit bekennen, daß wir bis auf den heutigen Tag vergeblich den Beweisen für die wirkliche Existenz einer Ortschaft dieses Namens nachgeforscht haben. In jede von Herrn Pickwicks Aufzeichnungen und Angaben das größte Vertrauen setzend, und uns nicht erkühnend, unsere eigenen Gedanken den gedachten Notizen des großen Mannes entgegenzustellen, haben wir jede Autorität zu Rate gezogen, die wir für den fraglichen Gegenstand überhaupt auftreiben konnten. Wir haben jeden Namen in den Listen A und B durchgegangen, ohne dem von Eatanswill zu begegnen: wir haben mit der größten Sorgfalt jeden Winkel auf den Spezialkarten unserer Grafschaften geprüft, und unsere Untersuchung hatte dasselbe Resultat.

Wir glauben daher annehmen zu dürfen, daß Herr Pickwick, aus einer ängstlichen Besorgnis, um nirgends Anstoß zu geben, und aus jenem Zartgefühl, das ihm nach dem Zeugnis aller, die ihn kennen, in so hohem Grade eigen ist, absichtlich einen fingierten für den wirklichen Namen der Stadt eingesetzt hat, in der er seine Beobachtungen anstellte. Wir werden in dieser Vermutung durch einen an sich geringfügigen und unbedeutenden, aber aus unserm Gesichtspunkt Beachtung verdienenden Umstand bestärkt. In Herrn Pickwicks Tagebuch steht nämlich die Tatsache aufgezeichnet, daß er sich mit seinen Gefährten auf der Post habe einschreiben lassen, um mit dem Norwicher23 Wagen abzufahren. Diese Notiz ist jedoch später wieder ausgestrichen, als wenn er die Absicht gehabt hätte, sogar die Richtung zu verheimlichen, in der jener Waldflecken gelegen ist. Wir wollen daher keine weiteren Vermutungen über diesen Punkt wagen, sondern lieber mit unserer Erzählung fortfahren, uns mit dem reichen Material begnügend, das uns die Charaktere derselben an die Hand geben.

Die Leute in Eatanswill hatten, wie die Bewohner so mancher andern Städte, eine gar hohe Meinung von ihrer Bedeutsamkeit, und jedermann daselbst, ein großes Gewicht auf sein Beispiel legend, hielt sich für verpflichtet, mit Leib und Seele einer der beiden großen, das Städtchen spaltenden Parteien – den Blauen und den Gelben – beizutreten. Die Blauen ließen keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie den Gelben entgegentreten konnten, sowie dagegen die Gelben jede Gelegenheit ergriffen, mit den Blauen Händel anzufangen. Die Folge davon war, daß es jedesmal zu Skandalszenen kam, wenn die Gelben und Blauen auf dem Rathaus, dem Markte oder bei Versammlungen auf öffentlichen Plätzen zusammentrafen. Bei diesem Mangel an Harmonie wurde jede Angelegenheit in Eatanswill zur Parteifrage. Wenn die Gelben den Vorschlag machten; den Marktplatz mit neuen Laternen zu versehen, so zettelten die Blauen öffentliche Versammlungen an und brachen den Stab über den wahnsinnigen Plan. Wenn die Blauen einen neuen Brunnen in der Hauptstraße anlegen wollten, so schrien die Gelben, einer für alle und alle für einen über Verrücktheit. Es gab blaue Läden und gelbe Läden, blaue Wirtshäuser und gelbe Wirtshäuser: – es gab sogar einen blauen Flügel und einen gelben Flügel in den Kirchen.

Natürlich war es ein wesentliches und notwendiges Erfordernis, daß jede dieser gewaltigen Parteien ihr besonderes Organ hatte: darum tauchten in der Stadt zwei neue Blätter auf – die Eatanswill-Zeitung und der Eatanswill-Unabhängige; die erstere vertrat die Grundsätze der Blauen, die letztere trug entschieden Gelb als Grundfarbe. Beides waren ausgezeichnete Blätter. Welche vorzügliche leitende Artikel, welche mutigen Angriffe! – »Unsere unwürdige Nebenbuhlerin, die Zeitung« – »das gemeine und niederträchtige Journal, der Unabhängige« – »das erbärmliche Lügenblatt, der Unabhängige« – »die schändliche Verläumderin, die Zeitung« – diese und andere kühne Ausfälle waren in jeder Nummer zu Dutzenden anzutreffen und riefen bei der einen Hälfte der Bevölkerung die ungemessenste Freude, bei der andern die höchste Erbitterung hervor.

Herr Pickwick hatte vermöge seines gewohnten Scharfsinns und Sehergeistes einen besonders günstigen Moment zu seiner Reise in den Flecken gewählt. Nie war eine solche Spannung vorgekommen. Der ehrenwerte Samuel Slumkey von Slumkey Hall war der blaue Kandidat, und Horatio Fizkin, Esq. von Fizkin Lodge bei Eatanswill, wurde von seinen Freunden dazu ausersehen, das Interesse der Gelben zu vertreten. Die Zeitung stellte den Wählern von Eatanswill vor, daß nicht nur die Augen Englands, sondern der ganzen zivilisierten Welt auf sie gerichtet seien; und der Unabhängige verlangte in gebieterischem Tone zu wissen, ob die Bürger von Eatanswill wirklich die großen Männer wären, für die sie von jeher gehalten worden seien, oder elende, sklavische Werkzeuge, die weder den Namen Engländer noch die Segnungen der Freiheit verdienten. Noch nie zuvor war die Stadt in eine solche Aufregung versetzt worden.

Es war abends spät, als Herr Pickwick und seine Freunde in Begleitung ihres dienstbaren Geistes Sam von dem Dache der Eatanswiller Postkutsche herabstiegen. Große blaue Seidenfahnen flatterten an den Wänden des Gasthauses zum Stadtwappen, und an jedem Fenster waren ungeheure Papierbogen angeklebt, worauf mit gigantischen Buchstaben geschrieben stand, daß hier das Komitee des ehrenwerten Samuel Slumkey täglich seine Sitzungen halte. Ein Menge Gaffer war auf der Straße versammelt und betrachtete einen Mann auf dem Balkon, der sich zugunsten des Herrn Slumkey heiser schrie und bereits ein kirschrotes Gesicht hatte; doch die Kraft und Stärke seiner Beweisgründe wurde von dem beständigen Gerassel einer großen Trommel, die das Komitee des Herrn Fizkins an der Straßenecke aufgestellt hatte, einigermaßen geschwächt. An seiner Seite stand ein geschäftiges Männchen, das von Zeit zu Zeit den Hut abnahm und die Menge zu dem Beifallstumult aufforderte, der dann auch mit der größten Begeisterung erscholl. Als der kirschrote Herr sich röter als jemals geschrien hatte, schien er seinen Zweck ebensogut erreicht zu haben, als hätte ihn jedermann verstanden.

Die Pickwickier waren kaum abgestiegen, als sie von einer Gesellschaft der »Redlichen und Unabhängigen« umringt wurden, die sie alsbald mit dreimaligem donnernden Freudengeschrei empfingen, in das sofort die ganze Menge, denn für die Menge ist es nicht immer nötig zu wissen, wem ihr Freudengeschrei gilt, mit furchtbarem Triumphgebrüll einstimmte, das sogar den Kirschroten auf dem Balkon zum Schweigen brachte.

»Hurra!« schrie die Menge zum Schluß.

»Noch ein Hurra«, kreischte der Kleine auf dem Balkon, und wieder brüllte die Menge, als wären ihre Lungen von Gußeisen mit Stahlfedern.

»Slumkey für immer!« schrien die Redlichen und Unabhängigen.

»Slumkey für immer!« wiederholte Herr Pickwick, seinen Hut abnehmend.

»Nicht Fizkin«, schrie der Haufe.

»In keinem Falle«, rief Herr Pickwick.

 

»Hurra!«

Und es erfolgte ein abermaliges Gebrüll, wie von einer ganzen Menagerie, wenn der Elefant die Glocke zur kalten Küche gezogen hat.

»Wer ist Slumkey?« flüsterte Tupman.

»Weiß nicht«, versetzte Herr Pickwick ebenso leise. »Pst! stellen Sie keine Fragen. Es ist immer das beste, bei solchen Gelegenheiten zu tun, was der große Haufe tut.«

»Aber gesetzt, es sind zwei Haufen«, warf Herr Snodgraß dazwischen.

»Dann hält man sich an den größten«, entgegnete Herr Pickwick.

Ganze Bände hätten nicht mehr sagen können.

Sie traten ins Haus. Die Menge bildete Spalier und brüllte. Der erste Gegenstand, nach dem sie sich erkundigten, war ein Nachtlager.

»Können wir hier Betten haben?« fragte Herr Pickwick den Kellner.

»Weiß nicht, mein Herr«, versetzte der junge Mann; »fürchte, es ist alles besetzt, Herr – will nachfragen, Herr.«

Er entfernte sich, kehrte aber augenblicklich wieder zurück und fragte, ob die Herren »Blaue« wären.

Da weder Herr Pickwick, noch seine Gefährten ein besonderes Interesse an dem einen oder dem andern Kandidaten nahmen, so war die Frage etwas schwer zu beantworten. Bei dieser Alternative erinnerte sich Herr Pickwick seines neuen Freundes, Herrn Perker.

»Kennen Sie einen Herrn, Namens Perker?« fragte Herr Pickwick.

»Ohne Zweifel, mein Herr; Agent des ehrenwerten Herrn Samuel Slumkey.«

»Ein Blauer, denke ich?«

»O ja, mein Herr.«

»Dann sind wir auch Blaue«, sagte Herr Pickwick; aber da er bemerkte, daß der junge Mann bei dieser Erklärung der Anhängerschaft etwas unschlüssig aussah, so gab er ihm seine Karte und ersuchte ihn, wenn Herr Perker gerade im Hause sein sollte, alsbald diesem vorgestellt zu werden.

Der Kellner entfernte sich und kehrte im Augenblick wieder mit der Einladung zurück, Herr Pickwick möchte folgen. Er führte ihn in ein großes Zimmer im ersten Stock, wo Herr Perker an einem langen Tische saß, der mit Büchern und Papieren bedeckt war.

»Ah – ah, mein lieber Herr«, sagte der kleine Mann, ihm entgegentretend: »sehr glücklich, Sie zu sehen, mein lieber Herr, sehr glücklich. Bitte, nehmen Sie Platz. So haben Sie also Ihren Plan ausgeführt? Sie sind hierher gekommen, um einer Wahl beizuwohnen – nicht wahr?«

Herr Pickwick bejahte.

»Ein großer Kampf, mein lieber Herr«, sagte der Kleine.

»Ich bin entzückt, dies zu hören«, versetzte Herr Pickwick, seine Hände reibend; »mir ist nichts lieber, als fester Patriotismus, auf welcher Seite er auch sein mag – und so ist es also ein heißer Kampf?«

»O ja«, antwortete der Kleine, »sehr heiß, in der Tat. Wir haben alle Gasthäuser für unsere Partei in Beschlag genommen und unsern Gegnern nichts als die Bierschenken gelassen – ein vorzüglicher Staatsstreich, mein lieber Herr, nicht wahr?«

Und der Kleine lächelte selbstgefällig und nahm eine tüchtige Prise.

»Und wie wird wohl das Ergebnis des Kampfes sein?« fragte Herr Pickwick.

»Noch zweifelhaft, mein lieber Herr; ziemlich zweifelhaft bis jetzt«, antwortete der Kleine. »Fizkins Leute haben dreiundreißig Wähler im Weißen Hirsch in den Wagenschuppen gesperrt.«

»In den Wagenschuppen!« fragte Herr Pickwick, über diesen Staatsstreich gewaltig erstaunt.

»Sie haben sie dort eingesperrt, bis sie dieselben nötig haben«, fuhr der Kleine fort. »Der Zweck ist, wie Sie sehen, daß wir ihnen nicht beikommen sollen; und selbst wenn wir es könnten, würde es nichts helfen, denn ste haben sie absichtlich betrunken gemacht. Ein gescheiter Bursche, Fizkins Agent – sehr gescheit in der Tat.«

Herr Pickwick starrte dem Sprecher ins Gesicht und sagte nichts.

»Und doch haben wir Hoffnung«, setzte Herr Perker seine Mitteilungen fort, indem er seine Stimme bis zum Geflüster dämpfte. »Wir hatten eine kleine Teegesellschaft hier, gestern abend – fünfundvierzig Frauen, lieber Herr – und gaben jeder einen grünen Sonnenschirm zum Andenken, als sie nach Hause gingen.«

»Einen Sonnenschirm?« fragte Herr Pickwick.

»Tatsache, mein lieber Herr, Tatsache. Fünfundvierzig grüne Sonnenschirme zu sieben Schillingen und sechs Penre das Stück. Alle Frauen lieben den Putz – außerordentlich, die Wirkung dieser Sonnenschirme. Sicherten uns ihre Männer alle, und die Hälfte ihrer Brüder – Strümpfe, Flanell und all das Zeug ist Larifari. Meine Idee, mein Teuerster, ganz meine Idee. Hagel, Regen oder Sonnenschein, Sie können keine zwanzig Schritte auf der Straße gehen, ohne wenigstens einem halben Dutzend grüner Sonnenschirme zu begegnen.«

Hier brach der Mann in eine Art krampfhaften Gelächters aus, das durch den Eintritt eines Dritten unterbrochen wurde.

Es war eine kleine, schmale Figur mit rotem Haar, das hin und wieder lichte Stellen zeigte, und mit einem Gesicht, in dem sich feierliche Wichtigkeit neben unergründlicher Gelehrsamkeit ausdrückte. Er trug einen langen, braunen Oberrock, eine schwarze Tuchweste und modefarbene Beinkleider. Ein Monokel hing an seiner Brust, und auf seinem Kopfe saß ein niederer Hut mit breiter Krempe. Der neue Ankömmling wurde Herrn Pickwick als Herr Pott, Herausgeber der Eatanswill-Zeitung vorgestellt. Nach einigen wenigen einleitenden Bemerkungen wandte sich Herr Pott an Herrn Pickwick und fragte in feierlichem Tone:

»Dieser Kampf erregt großes Interesse in der Hauptstadt, mein Herr?«

»Ich glaube, ja«, antwortete Herr Pickwick.

»Ich habe Grund, zu vermuten«, sagte Herr Pott, und sah Herrn Pickwick auf seine Zustimmung hin an – »ich habe Grund, zu vermuten, daß mein Artikel im letzten Sonnabendblatt einiges dazu beigetragen hat.«

»Ohne Zweifel«, bestätigte der Kleine.

»Die Presse ist doch ein mächtiger Hebel«, meinte Pott.

Herr Pickwick gab seine vollste Zustimmung zu dieser Bemerkung.

»Aber ick schmeichle mir, mein Herr«, sagte Pott, »daß ich die ungeheure Gewalt, die mir anvertraut ist, nie mißbraucht habe. Ich schmeichle mir, mein Herr, daß ich das edle Werkzeug, das in meine Hände gelegt ist, nie gegen den heiligen Schoß des Privatlebens oder den zarten Hauch des persönlichen Rufes gekehrt habe – ich schmeichle mir, mein Herr, daß ich meine Kräfte, so schwach sie auch sein mögen – und sie sind schwach, wie ich wohl weiß – dem Streben geweiht habe – einen Vertreter der Prinzipien des – welche – sind –«

Hier schien den Herausgeber der Eatanswill-Zeitung ein Räuspern anzuwandeln, und Herr Pickwick kam ihm zu Hilfe und sagte:

»Gewiß.«

»Und was, mein Herr«, sagte Pott – »wie, mein Herr – erlauben Sie mir die Frage an Sie, als einen unparteiischen Mann – wie ist die öffentliche Meinung in London über meinen Kampf mit dem Unabhängigen?«

»Sehr aufgeregt ist alles, da ist kein Zweifel«, erwiderte Herr Perker mit einem Blick voll Schlauheit, der wahrscheinlich bloß zufällig war.

»Der Kampf«, versetzte Pott, »soll solange dauern, wie ich Kraft und Leben habe und das bißchen Talent, mit dem ich begabt bin, mir innewohnt. Von diesem Kampfe, und mag er die Gemüter noch so sehr aufregen und die Geister in Bewegung setzen, daß sie die gewöhnlichen Geschäfte des alltäglichen Lebens darüber versäumen – von diesem Kampfe sage ich, will ich nicht ablassen, bis ich meinen Fuß auf den Unabhängigen von Eatanswill gesetzt habe. Die Bevölkerung von London und die Bevölkerung unseres Vaterlandes soll wissen, daß sie auf mich rechnen kann – daß ich sie nicht verlassen werde, daß ich entschlossen bin, ihre Sache zu verfechten bis ans Ende.«

»Ihre Denkungsart ist edel, mein Herr«, sagte Herr Pickwick, und schüttelte dem edelmütigen Pott die Hand.

»Sie sind, wie ich bemerke, mein Herr, ein Mann von Einsicht und Kopf«, bemerkte Herr Pott, beinahe atemlos durch die Heftigkeit, womit er seinen Patriotismus auskramte. »Ich bin sehr erfreut, die Bekanntschaft eines Mannes, wie Sie, zu machen,«

»Und ich«, erwiderte Herr Pickwick, »fühle mich hochgeehrt durch die gute Meinung, die Sie von mir hegen. Erlauben Sie mir, mein Hcrr, Ihnen meine Reisegefährten vorzustellen, die die übrigen Mitglieder des Klubs bilden, den ich – mit Stolz sage ich es – gegründet habe.«

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