Denkwürdigkeiten des Pickwick-Klubs

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»Und was wurde aus dem – wie nannten Sie ihn?« fragte ein alter Herr.

»Blazo?«

»Nein, der andere.«

»Guanko Samba?«

»Ja, mein Herr.«

»Armer Guanko – erholte sich nicht mehr – zielte nach mir – hat ausgezielt – tot, Sir.«

Hier begrub der Fremde sein Gesicht in einen braunen Krug: ob er seine Rührung verbergen oder den Inhalt bis zum letzten Tropfen aufsaugen wollte, kann ich nicht bestimmt entscheiden. Wir wissen nur, daß er plötzlich absetzte, lang und tief Atem schöpfte und sich neugierig umsah. Da traten zwei von den ersten Mitgliedern des Dingleydellklubs mit den Worten zu Herrn Pickwick:

»Wir werden im blauen Löwen ein Essen einnehmen, Sir. Wir hoffen, Sie und Ihre Freunde werden uns die Ehre schenken.«

»Natürlich«, sagte Herr Wardle. »Zu unsern Freunden zählen wir auch Herrn – – –« hier sah er den Fremden an.

»Jingle«, sagte der gewandte Mann, den Wink augenblicklich auffassend. »Jingle – Alfred Jingle, Ritter von Ohneschloß auf Nirgendheim.«

»Ich bin überzeugt, daß es mir dort sehr gefallen wird«, sagte Herr Pickwick.

»Mir auch«, sagte Herr Alfred Jingle, faßte Herrn Pickwick an dem einen und Herrn Wardle an dem andern Arm, und flüsterte Pickwick mit dem Tone der Zuversicht ins Ohr:

»Verdammt gutes Essen – kalt, aber kapital – schielte diesen Morgen ins Zimmer – Geflügel, Pasteten und alles Mögliche – lustige Kerle das – auch gut benommen – sehr gut.«

Da man weiter keine Vorbereitungen mehr zu treffen hatte, schlenderte die Gesellschaft in Gruppen zu zwei und drei langsam in die Stadt. Nach einer Viertelstunde saßen alle im großen Saale des blauen Löwen von Muggleton – Herr Dumkins führte den Vorsitz, und Herr Luffey hatte die Würde des Vizepräsidenten.

Nun ging ein allgemeines Geplauder an: Messer, Gabeln und Teller wurden mit großem Geräusch in Bewegung gesetzt. Drei dickköpfige Aufwärter liefen unaufhörlich aus und ein, und die deftigen Speisen verschwanden mit Blitzesschnelle von der Tafel. Zur Steigerung der allgemeinen Aufregung aber trug der scherzhafte Herr Jingle wenigstens sechsmal soviel bei als irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft.

Nachdem jeder gegessen, was er konnte, wurde abgedeckt, damit Flaschen, Gläser und Dessert Raum gewännen. Die Kellner trugen ab, oder, um es deutlicher zu sagen, trugen die Reste der Speisen und Getränke, deren sie noch habhaft werden konnten, aus dem Saal, um sie zu eigenem Gebrauch und Nutzen zu verwenden.

Mitten in dem allgemeinen Getöse der Tafelfreuden und der einsetzenden Unterhaltung fiel ein kleiner Mann auf mit einem wichtigtuenden Gesicht, das zu sagen schien: störe mich nicht in meinen Betrachtungen, oder ich will euch allen widersprechen. Er rührte sich nicht und warf nur zuweilen, wenn das Gespräch stockte, Blicke um sich, als wollte er irgend etwas höchst Gewichtiges vorbringen. Dann und wann räusperte er sich auch mit unbeschreiblicher Würde. Endlich rief er während einer kleinen Pause mit sehr lauter, feierlicher Stimme:

»Herr Luffey!«

Jedermann schwieg, als der Angeredete antwortete:

»Sir!«

»Ich wünsche einige Worte an Sie zu richten, Sir, wenn Sie die Herren bitten wollen, ihre Gläser zu füllen.«

Herr Jingle ließ im Tone der Gönnerschaft ein »Hört! Hört!« vernehmen, das von den übrigen Mitgliedern der Gesellschaft wiederholt wurde. Nachdem die Gläser gefüllt waren, nahm der Vizepräsident eine Miene der gespanntesten Aufmerksamkeit an und sagte:

»Herr Staple.

»Sir,« begann der kleine Mann aufstehend, »ich wünsche das, was ich zu sagen habe, an Sie zu richten, statt an unsern würdigen Präsidenten, weil unser würdiger Präsident gewissermaßen – ich darf sagen, in hohem Grade – der Gegenstand dessen ist, was ich zu sagen oder vielmehr zu – zu –«

»Vorzutragen habe«, ergänzte Herr Jingle.

»– Ja, vorzutragen«, sagte der Kleine: »ich danke meinem ehrenwerten Freunde, wenn er mir erlauben will, ihn so zu nennen – (vier »Hört«, von denen gewiß eines aus dem Munde des Herrn Jingle kam) um der Gefälligkeit willen, womit er mir auf den rechten Ausdruck geholfen. Mein Herr, ich bin ein Deller – ein Dingleydeller (Beifall). Ich kann keinen Anspruch auf die Ehre machen, ein Glied der Bevölkerung von Muggleton zu sein, und ich gestehe es offen, Sir, ich begehre auch diesen Vorzug nicht. Das Warum sollen Sie gleich hören, Sir. (Hört.) Ich gönne Muggleton alle und jede Ehre und Auszeichnung, die es mit so großem Recht beanspruchen kann. Seine Verdienste sind zu zahlreich und zu allgemein bekannt, als daß ich sie hier aufzählen sollte. Doch wenn ich daran denke, daß Muggleton einen Dumkins und einen Podder hervorgebracht, so laßt uns auch nicht vergessen, daß Dingley Dell einen Luffey und einen Struggles aufzuweisen hat. (Lärmender Beifall.) Glaubt ja nicht, ich wolle die Verdienste der erstgenannten Herren herabsetzen. Nein, Sir; ich beneide Sie um Ihre seligen Gefühle bei dieser Gelegenheit (Beifall). Jeder von diesen Herren ist wahrscheinlich mit der Antwort jenes Mannes bekannt, die er von seiner Tonne aus dem Kaiser Alexander gab: – ›Wenn ich nicht Diogenes wäre,‹ sagte er, ›so möchte ich Alexander sein.‹ Ich stelle mir vor, diese Herren denken auch: ›wenn ich nicht Dumkins wäre, so möchte ich Luffen sein; wenn ich nicht Podder wäre, so möchte ich Struggles sein.‹ (Stürmischer Beifall.) Doch, meine Herren von Muggleton, ist es bloß im Kricket, daß sich Ihre Mitbürger so sehr auszeichnen? Haben Sie von Dumkins und seiner Entschlossenheit gehört? Haben Sie nie gelernt, mit dem Namen Podder den Begriff der strengsten Rechtlichkeit zu verbinden? (Großer Beifall.) Sind Sie je bei der Verteidigung Ihrer Rechte, Ihrer Freiheiten, Ihrer Privilegien, wenn auch nur für einen Augenblick, in Mutlosigkeit und Verzweiflung versetzt worden? Und wenn sie niedergedrückt waren, hat nicht der Name Dumkins das erloschene Feuer in Ihrer Brust wieder angefacht? Und ist es nicht durch ein Wort von diesem Manne wieder aufgelodert, als wäre es nie erloschen? (Großer Beifall.) Meine Herren, ich bitte Sie, den vereinten Namen Dumkins und Podder ein donnerndes Lebehoch zu bringen.«

Der Kleine schwieg, und die Gesellschaft schrie, schlug auf den Tisch und fand für den ganzen Abend des Lärmens kein Ende. Es wurden wieder heitere Toaste ausgebracht. Herr Luffey und Herr Struggles, Herr Pickwick und Herr Jingle wurden nacheinander in prächtigen Reden bis in den Himmel gehoben, und jeder bedankte sich pflichtschuldigst für die ihm erwiesene Ehre.

Wir sind begeistert von der großen Sache, der wir uns gewidmet haben. Wir haben das stolze Bewußtsein von einer Leistung, die uns die Unsterblichkeit sichern müßte. Aber ach, sie schwindet wieder! Denn fürwahr: wir könnten uns über uns selbst erheben, vermöchten wir unsern wißbegierigen Lesern auch nur eine bescheidene Skizze von den Reden zu geben, die bei dieser Festivität noch alle gehalten wurden. So bot Herr Snodgraß wie gewöhnlich eine Fülle von Aphorismen, die uns ohne Zweifel die unterrichtendsten und schätzbarsten Belehrungen gegeben haben würden, hätte nicht der Feuerström der Rede oder der fiebererregende Einfluß des Weines die Hand unseres Berichterstatters so unsicher gemacht, daß seine Schrift ebenso unleserlich wie seine Darstellung verworren wurde. Unserm unermüdeten Forschungseifer verdanken wir es, daß wir einige flüchtige Andeutungen hinzuwerfen imstande waren, die den Zügen der Sprecher nicht ganz unähnlich sind, und wir glauben auch den Anfang eines Liedes herausbringen zu können (wenn es anders auch wirklich von Herrn Jingle gesungen wurde), in dem die Worte »Bowl«, »Glanz«, »Rubin«, »Goldschimmer« und »Wein« nach kurzen Zwischenräumen wiederholt vorkommen. Wir glauben auch am Schlusse der Notizen etwas von »Zänkerei und Schlägerei« und dann die Worte »kalt« und »draußen« zu finden: doch da jede Vermutung, die wir darauf bauen könnten, notwendig bloß auf Mutmaßungen hinauslaufen würde, so wollen wir gar keinen Folgerungen nachdenken, auf die wir etwa stoßen könnten.

Wir wollen deshalb zu Herrn Tupman zurückkehren und am Schlusse nur noch bemerken, daß man wenige Minuten vor zwölf Uhr den Kern der Dingtey Deller und Mungletoner Honoratiorenschaft noch mit großem Gefühl und Nachdruck das schöne und geistvolle Nationallied singen hörte:

»Wir gehn nicht heim bis morgen,

Wir gehn nicht heim bis morgen.

Wir gehn nicht heim bis morgen,

Bis uns die Sonne leuchtet.«

Neuntes Kapitel. Deutlicher Beweis für die Behauptung, daß die Bahn treuer Liebe keine Eisenbahn ist.

Die stille Abgeschiedenheit von Dingley Dell, die Anwesenheit so vieler Zierden des schönen Geschlechts, die sorgsame Pflege und Aufmerksamkeit, die sie an den Tag legten, war der Steigerung jener sanfteren Gefühle außerordentlich günstig, die die Natur tief in Herrn Tracy Tupmans Brust gesenkt hatte. Diese Gefühle schienen jetzt bestimmt, sich auf einen liebenswürdigen Gegenstand zu konzentrieren. Die jungen Damen waren hübsch, ihr Äußeres einnehmend, ihr Betragen tadellos. Aber in den Augen von Jungfer Tante lag eine Majestät, in ihrer Miene eine Würde, in ihrem Gang ein gewisses Noli me tangere, worauf jene bei ihrer Jugend keinen Anspruch machen konnten. Darin tat die Tante es jedem Frauenzimmer zuvor, das Tupman je gesehen hatte. Daß in dem Wesen beider etwas Verwandtes, in ihrem Gemüte etwas Übereinstimmendes, in ihrer Brust eine gewisse geheimnisvolle Sympathie lag, war klar.

Ihr Name war der erste Laut, der über Herrn Tupmans Lippen trat, als er blutend im Grase lag, und ihr krampfhaftes Lachen war der erste Ton, der zu seinen Ohren drang, als er nach Hause gebracht wurde.

Aber hatte ihre Aufregung den Grund in einer liebenswürdigen weiblichen Empfindsamkeit überhaupt, die bei jeder ähnlichen Gelegenheit zum Vorschein gekommen wäre? Oder war sie durch ein tieferes, zärtlicheres Gefühl hervorgerufen worden, das nur er allein unter allen Männern erwecken konnte? Das waren Zweifel, die sein Gehirn marterten, als er hilflos auf dem Sofa lag – Zweifel, die er auf einmal und für immer zu lösen beschloß.

 

Es war Abend. Isabella und Emilie hatten mit Herrn Trundle einen Spaziergang gemacht. Die taube alte Frau war in ihrem Lehnstuhl eingeschlafen: das Schnarchen des fetten Jungen drang dumpf und eintönig aus der entfernten Küche herüber. Die sorglosen Mägde lehnten am Hoftor und genossen die Süßigkeit des Feierabends, indem sie mit gewissen unbeholfenen Tieren spielten, die zum Haushalte gehörten. Da saß denn das interessante Pärchen, von niemand beachtet und auf nichts achtend, nur von sich selbst träumend: da saßen sie wie ein Paar sorgfältig zusammengelegte Handschuhe – ineinandergeschlungen.

»Ich habe meine Blumen vergessen«, bemerkte Jungfer Tante.

»So begießen wir sie«, sprach Herr Tupman mit schmeichelndem Tone.

»Sie würden sich in der Abendluft erkälten«, sagte Jungfer Tante zärtlich.

»Nein, nein«, erwiderte Herr Tupman aufstehend. »Es macht mir gar nichts. Ich will Sie begleiten.«

Die Dame legte schweigend die Schlinge zurecht, in der der linke Arm des junaen Mannes lag, ergriff seinen rechten und führte ihn in den Garten.

Am oberen Ende desselben war eine Laube von Geisblatt, Jasmin und Schlingpflanzen – einer von jenen Ruheplätzen, die empfindsame Seelen zur Bequemlichkeit der Spinnen errichten.

Jungfer Tante ergriff eine große Gießkanne, die in einem Winkel stand und war im Begriff, die Laube zu verlassen. Herr Tupman hielt sie zurück und zog sie auf einen Sitz neben sich nieder.

»Fräulein Wardle«, sagte er.

Jungfer Tante zitterte, daß einige Steinchen, die zufälligerweise den Weg in die Gießkanne gefunden hatten, klirrten wie eine Kinderklapper.

»Fräulein Wardle,« sagte Herr Tupman, »Sie sind ein Engel.«

»Herr Tupman«, rief Rachel aus, so rot wie die Gießkanne selbst.

»Wahrlich,« sagte der beredte Pickwickier, »ich fühle es nur zu sehr.«

»Alle Frauenzimmer sind Engel, wenn man die Männer so hört«, flüsterte die Dame in scherzhaftem Tone.

»Was wären Sie sonst, oder womit könnte ich Sie ohne Vermessenheit vergleichen?« versetzte Herr Tupman. »Wo sah man je ein Frauenzimmer, das Ihnen glich? Wo könnte ich sonst eine so seltene Vereinigung von geistigen Vorzügen und körperlicher Schönheit finden? Wo könnte ich sonst – – – O!«

Hier schwieg Herr Tupman und drückte die Hand, die auf dem Handgriff der glücklichen Gießkanne ruhte.

Die Dame wandte ihren Kopf auf die Seite und flüsterte sanft:

»Die Männer sind voll Lug und Trug.«

»Ja, sie sind es, sie sind es«, versicherte Herr Tupman; »aber nicht alle. Hier lebt wenigstens einer, der keinen Wankelmut kennt – einer, der sein ganzes Dasein Ihrem Glück opfern könnte – der nur in Ihren Blicken lebt – der nur in Ihrem Lächeln atmet – der die schwere Bürde des Lebens einzig und allein um Ihretwillen trägt.«

»Könnte man einen solchen Mann finden?« fragte die Dame.

»Nur könnte finden?« erwiderte der glühende Tupman. »Er ist gefunden. Er ist hier, Fräulein Wardle.«

Und ehe die Dame seine Absicht ahnte, lag er schon zu ihren Füßen auf den Knien. ,

»Stehen Sie auf, Herr Tupman«, sagte Rachel.

»Nimmermehr«, war die entschlossene Antwort. »O Rachel! sagen Sie, daß Sie mich lieben.«

»Herr Tupman,« bemerkte Jungfer Tante mit abgewandtem Gesicht – »ich kann kaum Worte finden: doch – doch – Sie sind mir nicht ganz gleichgültig.«

Herr Tupman hörte nicht so bald dieses Geständnis, als er sich ganz dem Drange seiner Begeisterung hingab und tat, was, soviel wir wissen (denn wir haben in diesem Punkte nicht viel Erfahrung), unter solchen Umständen jedermann tut. Er sprang auf, schlang seinen Arm um den Nacken der Jungfer Tante und preßte eine Menge Küsse auf ihre Lippen, die sie nach pflichtschuldigem Zieren und Sträuben so geduldig hinnahm, daß wir nicht angeben können, wie viele ihr Herr Tupman noch aufgedrückt haben würde, wäre die Dame nicht plötzlich erschreckt worden und voller Angst in die Worte ausgebrochen –

»Herr Tupman, wir werden beobachtet! Wir sind entdeckt!«

Herr Tupman sah sich um und gewahrte die tellergroßen Augen des fetten Jungen. Der Junge hatte dabei nicht im mindesten einen Gesichtszug, den auch nur ein noch so erfahrener Physiognomiker dem Erstaunen, der Neugierde oder irgendeiner bekannten Leidenschaft, die sonst die Brust der Vlcnschen bewegt, hatte zuschreiben können. Er glotzte völlig regungslos in die Laube. Herr Tupman betrachtete den fetten Jungen, und der fette Junge betrachtete Herrn Tupman, und je länger Herr Tupman dessen völlig ausdrucksloses Gesicht ansah, desto mehr überzeugte er sich, daß er entweder nicht wußte oder nicht verstand, was vorgegangen war. In dieser Voraussetzung fragte er mit festem Tone:

»Was suchst du hier?«

»Das Essen ist auf dem Tisch«, war die rasche Antwort.

»Bist du eben erst gekommen?« fragte Herr Tupman mit einem durchdringenden Blick.

»Soeben«, erwiderte der fette Junge.

Herr Tupmam sah ihn wieder scharf an, aber der Junge verzog keine Miene.

Herr Tupman nahm den Arm der Jungfer Tante und ging dem Hause zu; der fette Junge folgte.

»Er weiß nicht, was vorgefallen ist«, flüsterte er.

»Nichts?« fragte Jungfer Tante.

Sie hörten einen Ton hinter sich, wie von einem halbunterdrückten Lachen. Herr Tupman sah sich forschend um. Nein; der fette Junge konnte es nicht gewesen sein. In seinem ganzen Gesichte war keine Spur von Freude, und überhaupt kein anderer Ausdruck als der der Eßlust zu finden.


»Er muß geschlafen haben«, flüsterte Herr Tupman.

»Ich zweifle nicht im geringsten daran«, versetzte Jungfer Tante.

Beide lachten herzlich.

Aber Herr Tupman irrte sich. Der fette Junge hatte zum ersten Male nicht geschlafen. Er hatte gewacht – völlig gewacht und alles mit angesehen.

Das Abendessen ging vorüber, ohne daß jemand eine allgemeine Unterhaltung anzuknüpfen gesucht hätte. Die alte Frau ging zu Bett; Isabelle Wardle widmete ihre Aufmerksamkeit ausschließlich Herrn Trundle; Jungfer Tante hatte für niemand Augen, als für Herrn Tupman, und Emiliens Gedanken schienen in der Ferne zu verweilen – vielleicht bei dem abwesenden Snodgraß.

Elf Uhr – zwölf Uhr – ein Uhr hatte es geschlagen, und die Herren waren noch nicht zurück. Bestürzung und Unruhe war auf jedem Gesicht zu lesen. Sollten Sie vielleicht überfallen und ausgeplündert worden sein? Sollte man Leute mit Laternen aussenden und sie auf allen Wegen suchen lassen, die sie möglicherweise eingeschlagen haben konnten? Oder sollte man – – Horch! Sie sind's. Was konnte sie solange aufhalten? Auch eine fremde Stimme! Wem konnte sie angehören? Sie eilten in die Küche, um nach den Ankömmlingen zu sehen, und überzeugten sich alsbald von dem wahren Stand der Dinge.

Herr Pickwick lehnte, die Hände in den Taschen und den Hut über das linke Auge gedrückt am Anrichttische, wackelte mit dem Kopf und griente unaufhörlich, ohne daß man irgendeinen Grund davon entdecken konnte. Der alte Herr Wardle hielt einen fremden Herrn bei der Hand, dem er mit flammendem Gesichte etwas von ewiger Freundschaft vorlallte. Herr Winkle hielt sich an der Wanduhr und rief mit matter Stimme auf jedes Mitglied der Familie, das heute Nacht vom Bettgehen sprechen würde, Feuer und Schwefel vom Himmel herab. Herr Snodgraß aber war auf einen Stuhl gesunken, mit dem Ausdruck des fürchterlichsten und hoffnungslosesten Elends, das sich die Phantasie eines Menschen vorstellen kann, in jedem Zuge seines verstörten Gesichts.

»Ist etwas vorgefallen?« fragten die drei Damen.

»Nichts ist vorgefallen«, versetzte Herr Pickwick. »Wir, hup – wir sind, hup – alles in Ordnung. – Ich sage, Wardle, es ist alles in Ordnung, nicht wahr?«

»Das will ich meinen«, sagte der lustige Hauswirt. »Meine Lieben, hier ist mein Freund, Herr Jingle – Herrn Pickwicks Freund, Herr Jingle ist gekommen – macht uns einen kleinen Besuch.«

»Ist Herrn Snodgraß etwas zugestoßen« fragte Emilie ängstlich.

»Nicht das mindeste, mein Fräulein«, erwiderte der Fremde. »Kricketschmaus – herrliche Gesellschaft – Kapitalsänger – alter Portwein – Rotwein – gut – sehr guter – Wein, mein Fräulein – Wein.«

»Es lag nicht am Weine«, lallte Herr Snodgraß mit gebrochener Stimme. »Der Lachs war schuld.« (Die Schuld liegt bei solchen Gelegenheiten nie am Wein, sondern immer an etwas anderem.)

»Wäre es nicht besser, Sie gingen zu Bett?« fragte Emilie. »Zwei von den Knechten können die Herren hinaufführen.«

»Ich gehe nicht zu Bett«, sagte Herr Winkle bestimmt.

»Kein Mensch auf der Welt soll mich führen«, erwiderte Herr Pickwick kühn, worauf er wieder ebenso gutmütig, wie zuvor, griente.

»Hurra!« rief Herr Winkle.

»Hurra!« wiederholte Herr Pickwick, seinen Hut abnehmend und auf den Boden schleudernd, worauf er seine Brille mit gleicher Wuppdizität mitten in die Küche warf. – Dann lachte er über dieses Vergnügen laut auf.

»Lassen Sie – uns, hup – noch – eine, hup – Flasche trinken«, äußerte Herr Winkle anfangs mit lauter, später mit immer schwächerer Stimme.

Sein Kopf sank auf die Brust. Er lallte noch etwas von seinem unabänderlichen Entschluß, nicht zu Bette zu gehen, und von blutiger Reue, den alten Tupman diesen Morgen nicht vollends »abgedeckt« zu haben, worauf er in einen festen Schlaf fiel. Von zwei jungen Burschen unter der persönlichen Oberaufsicht des fetten Jungen wurde er zu Bett gebracht. Bald darauf vertraute Herr Snodgraß seinen Leichnam der Sorge denselben Herrschaften an. Herr Pickwick nahm den dargebotenen Arm Herrn Tupmans und verschwand ganz in der Stille, stets mit demselben Lächeln auf den Lippen. Herr Wardle aber gab Herrn Trundle die Ehre, ihn die Treppe hinauf zu geleiten, und entfernte sich mit dem völlig vergeblichen Versuch, eine feierliche und würdevolle Miene anzunehmen, nachdem er zuvor von der ganzen Familie einen so zärtlichen Abschied genommen hatte, als ginge er jetzt unmittelbar dem Schafott entgegen.

»Was für ein fataler Auftritt!« sagte Jungfer Tante.

»Abscheulich!« stimmten die beiden jungen Damen bei.

»Schrecklich – schrecklich!« sagte Jingle mit ernster Miene. Er hatte aber auch anderthalb Flaschen mehr zu sich genommen, als irgendein anderes Mitglied der Gesellschaft. »Ein peinlicher Anblick – gewiß.«

»Ein artiger Mann!« flüsterte die Jungfer Tante Herrn Tupman zu.

»Sieht auch nicht übel aus!« flüsterte Emilie Wardle.

»O sicher«, bemerkte die Jungfer Tante.

Herr Tupman dachte an die Witwe zu Rochester, und sein Herz ward unruhig. Die halbstündige Unterhaltung, die jetzt folgte, war nicht geeignet, die Stimme seiner Besorgnis zu beschwichtigen. Der neue Ankömmling war sehr gesprächig, und die Menge seiner Anekdoten wurde nur durch die Überbietung an Höflichkeit übertroffen. Herr Tupman fühlte, daß er in dem gleichen Maße, in dem Jingles Popularität stieg, in den Schatten zurücktrat. Sein Lachen war gezwungen – seine Lustigkeit erheuchelt, und als er endlich seine schmerzenden Schläfe zwischen die Bettlaken steckte, wünschte er sich mit furchtbarer Lust, Jingles Kopf in diesem Augenblicke zwischen der Decke und der Matratze unter seinen Händen zu haben.

Der unverwüstliche Fremde stand des andern Tages zeitig auf und gab sich alle Mühen, während seine Gefährten die Folgen ihrer Schlemmerei noch im Bette verdämmerten, die Heiterkeit des Frühstücks durch seine Unterhaltung zu erhöhen. Es gelang ihm auch so vollkommen, daß sogar die taube alte Frau sich einige seiner besten Scherze durch ihr Hörrohr wiederholen ließ und gar herablassend gegen die Jungfer Tante bemerkte, er (Jingle) sei ein ausgelassener junger Mensch – eine Ansicht, der ihre Tochter und ihre Enkelinnen durchaus beistimmten.

Es war die Gewohnheit der alten Dame, sich an jedem schönen Sommermorgen in die Laube zu begeben, die dem Leser bereits durch Herrn Tupmans zärtliches Abenteuer bekannt ist. Zu diesem Ende mußte der fette Junge von einem Kleiderrechen hinter der Schlafzimmertür der alten Frau einen dicht anschließenden schwarzen Atlashut, einen warmen baumwollenen Schal und einen starken Stock mit einem großen Handgriff holen, und nachdem sie sich so behaglich eingehüllt und die eine Hand auf den Stock, die andere auf die Schulter des fetten Jungen gestützt hatte, begann sie mit Muße ihren Spaziergang nach der Laube, wo sie der fette Diener für eine halbe Stunde den Annehmlichkeiten, die mit dem Genusse frischer Luft verbunden sind, überließ. Nach Ablauf dieser Frist kam er sodann wieder, um die Mutter seines Gebieters ins Haus zurückzuführen.

 

Die alte Dame ging in diesen Dingen nicht von ihrer gewohnten Weise ab, und da diese Zeremonie schon drei Sommer hintereinander ohne ein Abweichen von der Regel geübt worden, so war sie nicht wenig überrascht, als sie bemerkte, daß der fette Junge, statt wieder fortzugehen, nur einige Schritte von der Laube wegtrat, sich sorgfältig nach allen Richtungen umsah, und dann ganz verstohlen und mit ungemein geheimnisvoller Miene wieder umkehrte.

Die alte Dame war furchtsam – wie es die meisten alten Damen sind – und so kam sie gleich auf den Gedanken, der gedunsene Junge führe einen Mordanschlag gegen sie im Schild, um sich in den Besitz des Kleingeldes, das sie bei sich trug, zu setzen. Sie würde daher um Hilfe gerufen haben, wenn ihre körperliche Gebrechlichkeit ihr nicht schon längst die Kraft des Schweigens benommen hätte. Deshalb mußte sie sich begnügen, Joes Bewegungen mit den Gefühlen unaussprechlicher Todesangst zu beobachten, die sich keineswegs milderte, als der Junge ganz dicht an sie herankam und mit einem – wie es ihr schien – drohenden Tone ins Ohr schrie:

»Madame!«

Nun fügte sich's gerade, daß in demselben Augenblick Herr Jingle in dem Garten spazierenging und sich zur Zeit in der unmittelbaren Nähe der Laube befand. Er hörte den lauten Ruf und blieb stehen, wozu er durch dreierlei Gründe veranlaßt wurde – einmal, weil er nichts anderes zu tun hatte, dann weil seine Neugier kein Bedenken kannte, und endlich, weil seine Person durch Gestrüpp verborgen war. Wie gesagt – er machte halt und horchte.

»Madame!« schrie der fette Junge.

»Ach, Joe,« sagte die zitternde alte Dame, »ich bin dir gewiß stets eine gütige Gebieterin gewesen und habe dich stets aufs freundlichste behandelt. Du hast nie viel arbeiten müssen und doch immer genug zu essen gehabt.«

Das war eine Berufung auf Joes empfindsamste Gemütsseite. Er schien gerührt und entgegnete mit Nachdruck:

»Ich verkenne das nicht.«

»Was kannst du aber weiter von mir wollen?« versetzte die alte Dame etwas ermutigt.

»Es wird Sie kalt überlaufen, wenn ich's Ihnen sage«, erwiderte Joe.

Das klang wie ein ziemlich blutdürstiger Dankeserguß, und da die alte Dame die Art, wie ein solches Phänomen herbeigeführt werden könnte, nicht ganz begriff, so kehrten alle ihre Schrecken wieder.

»Was meinen Sie wohl, was ich gestern hier in dieser Laube gesehen habe?« sagte der Junge.

»Barmherziger Himmel! Was!« rief die alte Dame, beunruhigt durch die Wichtigtuerei in dem Benehmen des wohlbeleibten Burschen.

»Der fremde Herr – der mit dem zerschossenen Arm – hat geküßt und umarmt – –«

»Wen, Joe – wen? Ich hoffe doch nicht eine der Mägde?«

»Schlimmer als das!« brüllte der Junge in das Ohr der alten Dame.

»Wie, gar eine meiner Enkelinnen?«

»Noch schlimmer!«

»Noch schlimmer, Joe?« versetzte die alte Dame, die schon ein solches Unterfangen für das Non plus ultra männlicher Verwegenheit betrachtete. »Wer ist's gewesen, Joe? Ich will es durchaus wissen.«

»Fräulein Rachel.«

»Was?« schrie die Dame in schrillem Tone. »Sprich lauter.«

»Fräulein Rachel«, schrie der fette Junge.

»Meine Tochter?«

Der fette Junge bejahte die Frage mit öfters wiederholtem Kopfnicken, wobei seine gedunsenen Backen wie Gallerte schwabbelten.

»Und sie ließ sich's gefallen?« rief die alte Dame.

Ein Grinsen stahl sich über die Züge des dicken Burschen, als er erwiderte:

»Ich sah es, wie sie ihn wieder küßte.«

Hätte Herr Jingle in diesem Augenblick den Ausdruck, den das Gesicht der alten Dame bei dieser Mitteilung annahm, wahrnehmen können, so wäre er höchstwahrscheinlich in ein Gelächter ausgebrochen, das seine Anwesenheit notwendig verraten haben würde. So aber lauschte er aufmerksam weiter und vernahm einige abgebrochene Sätze, als da waren: – »ohne meine Zustimmung!« – »noch zu meinen Lebzeiten« – »ich arme, unglückliche Frau« – »hätte sie nicht warten können, bis ich tot bin« – und dergleichen, worauf er die Stiefelsohlen des fetten Jungen, der sich jetzt entfernte und die alte Dame allein ließ, im Sand knirschen hörte.

Es war ein merkwürdiger Zufall, aber dessenungeachtet eine Tatsache, daß Herr Jingle schon in den ersten fünf Minuten seiner Ankunft zu Manor Farm den Entschluß gefaßt hatte, das Herz der Jungfer Tante ohne Verzug in Belagerungszustand zu versetzen. Er besaß Menschenkenntnis genug, um zu merken, daß sein dreistes Benehmen dem schönen Gegenstand seiner Wünsche keineswegs mißfiel. Er hegte die lebhafte Vermutung, daß sie auch in dem Besitze des wünschenswertesten aller Erfordernisse – nämlich eines unabhängigen Vermögens, sei. Die gebieterische Notwendigkeit, seinen Nebenbuhler auf eine oder die andere Weise auszustechen, tauchte rasch in seiner Seele auf, und er entschloß sich, ohne Verzug die zweckdienlichen Hebel in Bewegung zu setzen. Fielding16 sagt, der Mann sei Feuer und das Weib Stroh, die der Fürst der Finsternis miteinander in Berührung bringe, um eine helle Lohe zu veranlassen. Herr Jingle wußte, daß junge Männer bei alten Jungfern sind, was die Lunte für das Schießpulver, und so nahm er sich vor, die Wirkung einer Explosion ohne Zeitverlust zu versuchen.

Über diesen wichtigen Entwurf brütend, schlich er sich aus seinem Schlupfwinkel und näherte sich unter dem Schutze des vorerwähnten Gesträuchs dem Hause. Das Glück schien seine Absicht zu begünstigen: denn eben verließ Herr Tupman mit den übrigen Herren den Garten durch eine Seitentür, und die jüngeren Damen hatten, wie er wohl wußte, gleich nach dem Frühstück einen Spaziergang angetreten. Das Feld war also gesäubert.

Die Tür des Speisezimmers war halb offen. Er blickte hinein. Die Jungfer Tante saß mit ihrem Strickstrumpf drinnen. Er hustete – sie sah auf und lächelte. Zögern gehörte nicht zu Herrn Jingles Charakter. Er legte die Finger geheimnisvoll an seine Lippen, trat ein und machte die Tür hinter sich zu.

»Fräulein Wardle –« sagte Herr Jingle mit erkünsteltem Ernst – »entschuldigen meine Zudringlichkeit – kurze Bekanntschaft – keine Zeit zu Zeremonien – alles entdeckt!«

»Sir!« entgegnete Jungfer Tante etwas überrascht über diese unerwartete Annäherung, und zweifelhaft, ob der Mann wohl auch bei Trost sei.

»Pst!« sagte Herr Jingle mit theatralischem Flüstern – »großer Junge – Knödelgcsicht – Pflugräderaugen – Spitzbube!«

Hier schüttelte er nachdrücklich den Kopf, während Jungfer Tante in innerer Beklemmung erzitterte.

»Es scheint, Sie spielen auf Joe an, Sir?« versetzte die Dame, indem sie sich zusammennahm, um gefaßt zu erscheinen.

»Ja, Fräulein – verdammter Joe! – Verräterischer Schlingel, Joe – schwatzte bei der alten Dame – alte Dame wütend – rast – tobt – Laube – Tupman – Küssen und Umarmen – derartiges – tja, Fräulein – wie?«

»Herr Jingle«, sagte die alte Jungfer, »wenn Sie hierher kommen, um mich zu beleidigen – – «

»Nicht doch – nicht im geringsten«, versetzte der nicht zu verblüffende Jingle. – »Hörte die Geschichte – kam her. Sie vor der Gefahr zu warnen – Dienste anzubieten – Skandal zu vermeiden. Nicht zu denken an Beleidigung – will augenblicklich wieder gehen«.

Und er wandte sich um, als wollte er seine Drohung in Vollzug setzen.

»Aber was soll ich tun?« sagte die arme Jungfer in Tränen ausbrechend. »Mein Bruder wird rasen!«

»Läßt sich denken«, entgegnete Herr Jingle nach einer Pause – »wird wütend sein.«

»Ach, Herr Jingle, was kann ich sagen?« rief die Jungfer Tante in einem weiteren trostlosen Tränenstrom.

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