Die seltsame Geschichte des Alejandro Ruiz

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Die seltsame Geschichte des Alejandro Ruiz
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Inhaltsverzeichnis

Wer bin ich?

Die Stadt aus Gold

Sargento Pippino

Das letzte Gefecht

Was das Herz begehrt

„Gestatten, wir sind die Allmeyers“

Leviathan

Und sie sangen den Leib, den elektrischen

Quo vadis?

Recursus

Sic semper tyrannis

Schlangengrube

Bin ich tot?

So viele Fragen …

Kyrie eleison …

Epilog

Die seltsame Geschichte des Alejandro Ruiz

von Stan Wagner

Diese Geschichte ist bereits unter dem Titel „Der Tag der Toten“ erschienen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche unbefugte Nutzung durch Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, sowohl in elektronischer, als auch drucktechnischer Form, im Ganzen, oder auszugsweise, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Maßnahmen nach sich ziehen.

2. Auflage in deutscher Sprache Oktober 2017

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2017 bei Zdenek Wagner, Pseudonym Stan Wagner, Welfenallee 3, 13465 Berlin, sidoniusfree@gmx.de

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Zdenek Wagner

Lizenzen für Bildbestandteile wurden vom Verfasser ordnungsgemäß erworben und sind somit frei von Ansprüchen Dritter.

Korrektorat: Stefanie Proske

Satz: Corinna Rindlisbacher, www.ebokks.de

Als du auf die Welt kamst, weintest du und um dich herum freuten sich alle.

Lebe so, dass du die Welt lachend verlässt, während um dich herum alle weinen.

Sprichwort

Wer bin ich?

Sein plötzliches Erwachen war weder dem lauten Treiben, noch dem Gesang, oder den Gebeten geschuldet – und doch musste sich unversehens etwas gerührt haben, in seiner überschaubaren kleinen Welt, die bis dahin weder einen Anfang, noch ein Gefälle kannte. Etwas, das ihn dazu brachte Fragen zu stellen: Wo bin ich? Wie bin ich hergekommen? Wie lange liege ich bereits hier, nackt, inmitten dieser unheimlichen Schattenwesen, die mich aus leeren, dunklen Augenhöhlen anstarren, und lausche ihren stummen Schreien? Wer mögen sie wohl gewesen sein, in ihrer Menschenzeit, bevor ihnen der Tod mit seinen kalten Zähnen das warme Fleisch von den Knochen nagte?

Wer bin ich?

Was bin ich?

Auf das Wer hatte er keine Antwort, wohingegen dem Was einfach zu begegnen war. Ein einziger Blick auf das kümmerliche Etwas in seinem Schoß genügte.

Ich bin … nein … ich war ein Mann …

Um den Rest von ihm war es nicht besser bestellt. Seine spindeldürren Arme und Beine schienen nur noch aus mit Haut umhüllten Knochen zu bestehen. Brust und Bauch waren dermaßen eingefallen, dass er jede einzelne Rippe und jeden Wirbel unter der schmutzig gelben Haut erkennen konnte. Unterhalb des spitzen Kinns prangte ein monströser Adamsapfel, wohingegen er den Rest des Halses mühelos mit Daumen und Zeigefinger umfassen konnte. Jede noch so kleine Kopfbewegung erzeugte ein eigentümliches Rasselgeräusch, als säße statt eines Schädels eine Rumba-Kugel auf seinen hageren Schultern. Mühsam löste er die ledrige Zunge vom Gaumen und begann die wenigen noch verbliebenen Zähne zu zählen. Nach einem halben Dutzend war Schluss. Ein unbeschreibliches Grauen drohte ihn zu überwältigen. Er schluckte – und schrie vor Schmerz auf. Mund und Rachen waren eine einzige Waberlohe. Die Fragezeichen in seinem Kopf jagten einander wie tollwütige Hunde.

War er in der Hölle? Und wenn ja, wie war er gestorben und was war davor? Warum konnte er sich an nichts erinnern?

„Wo bin ich?“, krächzte er, um sich sogleich an die Kehle zu greifen, die erneut Feuer fing.

Wasser!

Das Wort verbiss sich wie ein hungriges Raubtier in sein Bewusstsein und machte ihn rasend. Er machte Anstalten sich aufzurichten, doch seine Beine versagten und er fiel wie eine herrenlose Marionette in sich zusammen. Der zweite Versuch endete mit einem fürchterlichen Schlag gegen die Schädeldecke.

Bis auf Weiteres werde ich es beim Kriechen belassen, beschloss er und ließ sich auf alle viere nieder. Nur, wohin sollte er sich wenden? Das schwache Zwielicht um ihn herum ließ kein lohnenswertes Ziel erkennen. Doch was war das? Musik und Wortfetzen drangen an sein Ohr. So schnell es der Untergrund zuließ, kroch er in die Richtung, aus der die Geräusche kamen. Je weiter er sich vorwärtsbewegte, umso breiter und höher wurde der Raum, bis er sich schließlich erheben und aufrecht stehen konnte. Nach einigen Metern erblickte er auf dem Boden ein fahles Licht, das durch ein vergittertes, knapp unterhalb der Decke angebrachtes Fenster fiel. Eine Weile sah er gebannt zu, wie es sich quälend langsam über den mit Knochen und Rattendreck übersäten Grund schleppte.

„Ich kenne dich … du bist … dich nennt man den Mond“, flüsterte er.

Für einen Augenblick hatte er sogar seinen Durst vergessen, der sich nun umso vehementer bemerkbar machte. Er trat vor das schmale Fenster, zog sich am Gitter hoch und blickte hinaus. Auf einem Sims darunter stand eine Schale mit Wasser, in der ein winziger Mond schwamm. Sein rechter Arm schoss durch die Gitterstäbe, doch um das Objekt seiner Begierde greifen zu können, fehlten ihm wenige Zentimeter. Verzweifelt packte er mit beiden Händen das kalte Metall, stemmte seine Füße gegen die Mauer und zog was die ausgemergelten Glieder hergaben. Ihm wurde schwarz vor Augen und er war drauf und dran loszulassen, als das mürbe gewordene Mauerwerk nachgab und er mit dem Rücken voran durch eine hölzerne Tür flog.

Nach einem ungelenken Purzelbaum und einem erneuten Schlag gegen den Kopf, fand er sich auf einem steinernen Absatz im Freien wieder, von dem aus eine Treppe nach oben führte. Mühsam rappelte er sich auf und torkelte die baufälligen Stufen hinauf. Ihm war schwindlig und seine Lunge pfiff wie ein löchriger Blasebalg, doch er hatte es geschafft. Er war zurück, in der Welt der Lebenden, wenn auch auf einem Friedhof, inmitten zahlloser Gräber, wie er nach einem Rundumblick feststellen musste. Auf einem Grabstein zu seiner Rechten widersetzte sich eine einsame Kerze beharrlich dem Diktat der späten Stunde. Ihr unstetes Licht leckte an einer großen, mit gelben und orangefarbenen Blumen gefüllten Vase. Mit einem brandigen Röcheln stürzte er sich drauf und leerte sie in einem Zug.

Dass er dabei einen Teil der Botanik mit verschluckte und das kostbare Nass seinen Leib auf verschlungenen Pfaden gleich wieder verließ, war ihm gänzlich entgangen.

Während sein Atem zusehends ruhiger wurde, rang sein hoffnungslos überforderter Verstand nach wie vor mit der kolossalen Unbegreiflichkeit seiner Lage. Dass er sich auf einem Friedhof befand, wusste er bereits, und dass es sich bei dem Schreckensort, dem zu entkommen ihm soeben gelungen war, allem Anschein nach um ein Massengrab handelte, in dem man die Gebeine der Ärmsten der Armen aufzubewahren pflegte, ebenfalls.

„Aber ich bin nicht tot! Ich lebe!“, protestierte er lauthals. „Wie in Gottes Namen bin ich nur hergekommen?“

Er blickte in das funkelnde Meer jenseits der Baumkronen, als könne er dort oben Antworten auf all seine Fragen finden. Doch die Nacht schwieg beharrlich. Eine ohnmächtige Wut stieg in ihm auf, angesichts dieser selbstgefälligen Ignoranz. Die einzigen, die ihn einer Antwort für würdig befanden, waren die unzähligen, wild durcheinander zirpenden Zikaden, deren Sprache er jedoch nicht verstand. Während er gegen seinen Zorn ankämpfte, verschwand der Mond hinter einer großen Wolke und so blieb ihm inmitten der undurchdringlichen Finsternis nichts anderes übrig, als auf der Stelle zu verharren und abzuwarten. Nicht lange, und seine miserable körperliche Verfassung und die kräftezehrende Flucht aus dem Beinhaus forderten ihren Tribut. Seine Fußsohlen brannten trotz des kühlen Untergrundes wie Feuer und in seinem Kopf drehte sich alles. Ein letztes Aufbäumen – dann glitt er bewusstlos zu Boden.

Die Stadt aus Gold

Als ihn schließlich ein Hahnenschrei wieder zurück brachte, waren die Sterne bereits erloschen und die Himmelsschale hatte die Farbe von Perlmutt angenommen. Eine Fledermaus kreuzte auf ihrer Flucht vor der Morgenröte seinen Ereignishorizont und verschwand hakenschlagend hinter einer Mauer.

Es dauerte eine Weile, bis er die konfusen Gedanken und die schmerzenden Glieder soweit sortiert hatte, dass er sich erheben und sein erstes konkretes Ziel angehen konnte: das Unbekannte hinter der Einfriedung erkunden. Unweit von ihm hatten Sonne, Regen und Zeit ein Loch in das Mauerwerk gefressen. Was gab es da noch zu überlegen? Er atmete tief durch und steckte den Kopf in die Öffnung. Der Anblick raubte ihm die Sinne. Direkt vor seinen Augen zwängte sich gerade eine ganze Stadt aus ihrem nächtlichen Kokon. Fensterläden flogen auf und Vorhänge wurden beiseitegeschoben, hinter denen sich lauthals gähnende Menschen den Schlaf aus den Augen rieben.

 

Auf dem Marktplatz, vor der kleinen schmucken Kirche, wurden Stände aufgebaut und die ersten Lieder des neuen Tages angestimmt. Kreischende Windmühlen aus sonnenverbrannten Kinderarmen und Beinen mischten die kühlen Schalenreste der Nacht unter die noch angenehm warme, nach Kakao und Vanille duftende Morgenluft. Nach einer gefühlten Ewigkeit in Finsternis und stummer Verzweiflung, verlor sich die Schöpfung nun in Verschwendungssucht und schüttete ihr Füllhorn über ihm aus. Unweit seines Versteckes war ein halbes Dutzend Männer damit beschäftigt, die Straße zu säubern. Mit Besen und Schaufeln schoben sie schier unglaubliche Mengen von Blumen zu riesigen Haufen zusammen, die von anderen Männern mit Mistgabeln auf Eselskarren geworfen und weggeschafft wurden. Die Strahlen der aufgehenden Sonne ließen die taubenetzten, gelben und orangefarbenen Blüten wie pures Gold erscheinen. Wie wohlhabend eine Stadt doch sein musste, dachte er, in der es sich die Bürger erlauben konnten, die Straßen mit Blumen aus Gold zu dekorieren.

Die Einwohner von Esperanza, so lautete der Name der Stadt, hatten ihre Wohnungen und Friedhöfe in der Tat prachtvoll geschmückt und die zahllosen Altäre, Ofrendas genannt, bogen sich unter den Köstlichkeiten der mexikanischen Küche. Sie fluteten die Stadt mit einem Meer aus Lichtern, hängten Catrinas Bilder auf, und rollten für die Verstorbenen Teppiche aus gelben und orangefarbenen Blumen aus. Wie seit Menschengedenken hatten sie Totenköpfe und Skelette aus Zucker geformt, die Luft mit dem schweren Duft des Kopal-Harzes geschwängert und das Brot der Toten gebacken. In der Nacht des Hundes feierten sie ein Wiedersehen mit den Kindern, den Angelitos, die stets als Erste das Totenreich verlassen durften. Am Tage darauf entstiegen die Erwachsenen ihren Gräbern und ließen sich von den Totenblumen, den Cempasuchils, zu ihren Lieben geleiten. Für einen Wimpernschlag der Ewigkeit reichten sich die vermeintlichen Widersacher Leben und Tod die Hände. Am Abend des dritten Tages erhob sich der fahle Reiter von der reich gedeckten Tafel der Lebenden und forderte seine kostbare Schuld ein. Die Stunde der Rückkehr war gekommen. Und so nahmen die Menschen mit falschem Lächeln und echten Tränen Abschied von den geliebten Angelitos, um sich danach von den erwachsenen Verstorbenen zu verabschieden, nicht selten mit falschen Tränen und einem echten, jedoch sorgsam verborgenem Lächeln. Fortan gehörte der Friedhof wieder den Toten und die Straßen den Lebenden. Der Dia de los Muertos, der Tag der Toten, war zu Ende. Doch das alles konnte er nicht wissen – woher auch? Er wusste ja nicht einmal wer er selbst war …

Da stand er nun und saugte gierig all die warmen und goldenen Wunder in sich auf, wie ein verdorrtes Feld den langersehnten Regen. Die Hüter des Goldes, wie er die Blumenmänner getauft hatte, legten ihre Werkzeuge beiseite und nahmen auf dem nackten Boden Platz, ihre schmerzenden Rücken an die warme Mauer gelehnt. Er konnte ihren Schweiß riechen und ihre Gelenke knacken hören, so nah war er ihnen. Sie packten ihr Essen aus und begannen einen Teppich aus Worten und Sätzen zu knüpfen. Es war die Art von Gesprächen, die Männer nur dann führen, wenn sie unter sich sind. Sie sprachen über die Frauen, die sie hatten, aber nicht haben wollten, und sie fabulierten von Frauen, die sie gerne besessen hätten, aber niemals bekommen würden. Sie sprachen über missratene Kinder, auf die sie stolz waren, und sie sprachen von wohlgeratenen Kindern, die sie dennoch niemals mit „Vater“ ansprechen durften, zumindest nicht in der Gegenwart ihrer Ehefrauen. Er hätte ihnen noch die nächsten tausend Jahre zuhören können, doch die Frühstückspause war zu Ende und die Männer mussten zurück an ihre Arbeit. Zur frühen Mittagszeit, als die Sonne den Himmel in Brand setzte und jede noch so einfache Tätigkeit zur Qual werden ließ, packten die Blumenmänner zusammen und gingen zurück in ihre Häuser, wo sie sich hinter dicken Steinmauern verkriechen und von pfefferminzkühlen Eskimofrauen träumen konnten. Voller Wehmut blickte er ihnen nach. Eine unbeschreibliche Gier nach Leben bemächtigte sich seiner, nach menschlicher Gesellschaft, nach Lachen und nach Geschichten, so belanglos sie auch sein mochten.

„Wartet auf mich!“, schrie er so laut es seine wunde Kehle zuließ.

Verzweifelt versuchte er sich durch die Öffnung zu zwängen. Ohne Erfolg. Doch halt! Fehlte da drüben nicht ein Ziegel? Ohne zu zögern, steckte er seinen Fuß in die Aussparung, schwang sich auf den Mauerkamm und ließ sich von dort auf die Straße fallen – einer nicht mehr ganz taufrischen Senora direkt vor die Füße!

„Santa Muerte, der Leibhaftige!“

Der Schwerkraft enthoben schoss er die Mauer wieder hinauf und sprang zurück auf den menschenleeren Friedhof. Das hysterische Kreischen seines „Opfers“ zwischen den Schulterblättern, raste er keuchend an den einzigen Ort, der ihm vertraut war: zurück in das sinistre Beinhaus. Dort angekommen, quetschte er sich zwischen die kalten Leiber, zog einen über sich und erstarrte.

Unterdessen hatte sich draußen vor der Mauer eine Schar Neugierige versammelt, um das vermeintliche Opfer eines verabscheuungswürdigen Verbrechens in Augenschein zu nehmen. Die in Tränen aufgelöste Jungfer Natividad Gabriela Garcia Morales, so der vollständige Nom de voyage der honorigen Dame, hatte bereits alle verfügbaren Heiligen verschlissen und schwor nun beim Grabe ihres geliebten Vaters, vom Leibhaftigen höchstpersönlich angesprungen und entehrt worden zu sein.

Wachtmeister Calvera, gerade eingetroffen und noch etwas außer Atem, zog ein kleines Notizbuch aus der Jackentasche und stürzte sich kopfüber in die Ermittlungsarbeit.

„Sie geben also zu Protokoll, am helllichten Tage von einem nackten Mann angefallen und ihrer Jungfräulichkeit beraubt worden zu sein?“, repetierte er dienstbeflissen die Aussage des miedergestützten Corpus delicti, derweil im Hintergrund verhaltenes Gelächter aufbrandete.

„Es … es war kein Mann, nein … der Leibhaftige war’s … in der Gestalt eines nackten Mannes … ich … ich meine …“, stammelte sie, bis ihre Stimme gänzlich versagte.

„Jaaaaa, ich höre“, sagte Wachtmeister Calvera, während er ihr sein rechtes Ohr zuwandte.

„Ich … ich …“, wimmerte sie. Ihr Kinn bebte und sie war leichenblass.

Jeder konnte auf Anhieb erkennen, dass ihre Angst nicht gespielt war. Ein älterer, elegant gekleideter Mann brachte einen Stuhl. Sie warf ihm einen dankbaren Blick zu und nahm Platz, die Schlaufen ihrer Handtasche über die zusammengepressten Knie gespannt.

Der wackere Gesetzesmann richtete derweil das Wort an die Umstehenden.

„Hat sonst noch jemand etwas Verdächtiges gesehen?“

„Also, ich glaube, da war so etwas wie ein … ein Schatten, der über die Mauer huschte“, meldete sich der alte Gomez, den alle nur als „El borracho“, den Säufer, kannten.

„Schatten? So so …“, unterbrach ihn der Wachtmeister mit unverhohlenem Spott in der Stimme. Im Schutze der Menge fing jemand an zu lachen, andere schlossen sich ihm an.

Der ausgerechnet an diesem Tage vollkommen nüchterne Gomez verstummte.

Sargento Pippino

Wachtmeister Ignacio Ramon Rodriguez Calvera, der einzige Sohn eines hochangesehenen Fleischermeisters und einer zur Melancholie neigenden Schönheit, war von Geburt an ein schwächliches Geschöpf, das erst mit zwei Jahren laufen und mit vier sprechen lernte. Im zarten Alter von neun Jahren entdeckte der sensible Knabe seine Leidenschaft fürs Ballett, die ihm sein gestrenger Vater, ein ehemaliger Gefolgsmann des legendären Volkshelden Emiliano Zapata, mit der Peitsche schnell wieder austrieb. Kein männlicher Calvera würde jemals in einem rosa Tutu über die Bühne hopsen und die Familie bis auf die Knochen blamieren. Das eigentliche Schlüsselerlebnis seines juvenilen Daseins, sollte jedoch der Auftritt des Startenors Enrico Caruso werden, der, November 1925, mit seiner Sangeskunst die mit 25.000 Menschen gefüllte Stierkampfarena von Mexiko-Stadt zum Kochen brachte. Eine Cousine zweiten Grades hatte den siebzehnjährigen Ignacio mitgenommen und ihm damit eine gänzlich neue Welt erschlossen. Zurück in Esperanza kaufte er von seinen Ersparnissen ein gebrauchtes Grammophon und alle verfügbaren Schallplatten seines erklärten Idols. Fortan sah man ihn nur noch tänzelnd und Arien schmetternd durch Esperanza lustwandeln. Ab und an lauerte ihm sein Vater auf und prügelte ihn durch, aber das war ihm egal. Die glamouröse Welt der Oper würde künftig auch die seinige sein, so viel stand fest. Doch auch hierbei sollte der unnachgiebige Vater das letzte Wort behalten, wenn auch auf eine etwas andere Art, als man es vermuten möchte – er verstarb.

Nun war es an Ignacio, für den Unterhalt seiner Mutter und der beiden jüngeren, noch unverheirateten Schwestern zu sorgen. Das Fleischerhandwerk stand außer Frage und eine Ausbildung zum Opernsänger hätte viel Zeit und noch mehr Pesos verschlungen. Wie so oft im Leben, blieb es am Ende der Vorsehung vorbehalten, die Weichen zu stellen. Die Polizeibehörde von Esperanza suchte dringend Nachwuchs – und das Schicksal nahm seinen Lauf.

Mochte der Beruf eines Polizeibeamten auch eine Million Meilen von seiner wahren Bestimmung entfernt gewesen sein, so beschloss Ignacio selbigen dennoch mit Stolz und Hingabe auszuüben, wie es sich für einen echten Calvera geziemte.

In einer Kleinstadt wie Esperanza gab es für einen Mann von Ehrgeiz kaum glorreiche Taten zu vollbringen. Die Ära der großen Banditen – pardon: Revolutionäre –, vor denen es die glutäugigen Senoritas zu beschützen galt, war längst vorbei. Sein Alltag erschöpfte sich meist darin, Betrunkene von der Straße aufzulesen und außer Kontrolle geratene Ehezwistigkeiten zu schlichten. Der vorliegende Fall war daher ein Geschenk des Himmels, der seinem bislang recht ereignislosen Dasein endlich die lang ersehnte Wendung geben würde. Trunken vor Glück, gab er sich nach außen hin jedoch besonnen und emotional unbeteiligt, wie es sich für einen gestandenen Profi gehörte. Das anerkennende Brummen der Männer und die bewundernden Blicke der Frauen gaben ihm Recht.

Bei dem Opfer der dreisten Attacke handelte es sich um seine ehemalige Klassenlehrerin, die allseits gefürchtete Senora Morales, von allen nur „La bruja“, die Hexe, genannt, die niemals eine Gelegenheit ausließ, ihre Schutzbefohlenen zu demütigen. Vierzig Jahre lang hatte sie an Esperanzas ehrwürdiger Schule ihr Unwesen getrieben, und das ohne auch nur einen einzigen Tag gefehlt zu haben. Viele der Anwesenden hatten während der Schulzeit Bekanntschaft mit ihrem Rohrstock machen dürfen und freuten sich nun diebisch auf die bevorstehende Commedia dell’arte. Von Mitleid weit und breit keine Spur.

Auch Wachtmeister Calvera sah nicht die verstörte alte Frau vor sich, die in der Tat etwas Schreckliches erlebt zu haben schien, sondern die verhasste Matrone, die einst einen armen Jungen, ohne mit der Wimper zu zucken, dem Spott seiner Mitschüler preisgab.

Das Ganze war zwar eine Ewigkeit her, doch ihr bloßer Anblick ließ es für ihn zur Gegenwart werden. Acht Jahre alt und starr vor Angst, war er an einem schicksalhaften Nachmittag vor beinahe 35 Jahren nicht imstande gewesen, die überlebensgroße Senora um Erlaubnis zu bitten austreten zu dürfen, und machte unter sich. Es war mitnichten eine Premiere, doch diesmal sollte ihn sein gewohntes Glück im Stich lassen. Ein Mitschüler petzte ihr sein Malheur und sie nutzte sogleich die Gunst der Stunde, um ihn vor der versammelten Klasse bloßzustellen. Sie zog ihm die nassen Hosen runter, drehte ihn hin und her, damit sich auch wirklich alle an seinem Unglück sattsehen konnten, und prügelte ihn anschließend windelweich.

Während die Schmerzen des Leibes rasch verflogen waren, bluteten die Wunden der Seele noch lange nach. Sein Leben geriet zu einem nichtenden wollenden Spießrutenlauf. Nicht einmal sein bester Freund wollte fortan die Schulbank mit ihm teilen und von den Mädchen erhielt er den Spitznamen Pippino, den er bis zum Ende der Schulzeit behalten sollte. In den Pausen schloss er sich auf der Toilette ein und schwor mit geballten Fäusten Rache.

 

Und nun saß sie vor ihm, die Ursache für seine verpfuschte Jugend, ihm auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Ihre Tränen hatten die Mascara aufgelöst und über das ganze Gesicht verteilt. Ihr Körper zuckte und bebte in einem seltsam anmutenden Rhythmus, als drohe sie jeden Moment auseinanderzufallen, wie ein zu früh gestürzter Pudding. Nervös nestelte sie an ihrem reichverzierten Taschentuch und blickte sich hilfesuchend um. Die Menschen blinzelten in den strahlendblauen Himmel, oder schauten betreten auf den blasenschlagenden Asphalt unter ihren Füßen. Niemand würde ihr beistehen. Vor lauter Übermut hätte Ignacio Calvera am liebsten laut losgesungen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Es gab eine Zeit für den Gesang und eine für die Rache – und er würde sich nun in Rache üben, weil es die Zeit dafür war. Trotz ihres beinahe unveränderten Äußeren, zeichnete sich unter ihrer immer noch erstaunlich straffen Gesichtshaut unverkennbar der erbarmungslose Pinselstrich des Alters ab, wenngleich sich selbiges eher durch eine nicht mehr zu verhehlende Resignation, als durch den zu erwartenden Verschleiß manifestierte. Sie war alt, einsam und schwach. Niemand würde da sein, um sie zu trösten, nachdem er mit ihr fertig war. Als sie noch jung und begehrenswert war, voller Kraft und Bosheit, ließ sie keine Arme an sich heran und nun wollten die Arme sie nicht mehr. Wachtmeister Calvera feuchtete seinen Stift an und schlug eine neue Seite auf. Die Schlacht konnte beginnen …

Es sollte nicht lange vorhalten, das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit, das die finstere, Tod und Verwesung atmende Gruft verhieß. Es stimmte wohl, dass er hier sicher war, doch es war die trügerische Sicherheit einer nichtenden wollenden Nacht. Das schmutzige Zwielicht setzte seine Augen in Brand und die tote Luft spottete seiner Lunge. In seinem Kopf begann sich alles zu drehen und er musste sich übergeben. Der Raum um ihn herum geriet in Bewegung, schien sich abwechselnd zu strecken und zusammenzuziehen, als befände er sich im Bauch einer riesigen Schlange, in deren weitaufgerissenen Schlund er versehentlich geraten war und die sich nun anschickte, das unverhoffte Geschenk in aller Ruhe zu verdauen.

„Egal was mich draußen erwartet, aber hier bleibe ich nicht!“

Fest entschlossen, den grauenhaften Ort so schnell wie möglich wieder zu verlassen, kroch er hinaus, wo ihm sogleich eine Melange aus Gelächter und Wehklagen entgegenschlug. Reflexartig ließ er sich zu Boden fallen und krabbelte hinter ein Grab. Doch seine Furcht war unbegründet. Die Menschen hatten drei Tage und drei Nächte lang mit ihren Verstorbenen gesungen, gebetet, gegessen und gelacht. Vom Tod und von Friedhöfen hatten sie fürs Erste genug. Die Stimmen kamen aus der Welt hinter der Mauer.

Mit der moosweichen Geschmeidigkeit einer altgedienten Friedhofskatze überquerte er den schmalen Streifen offenen Geländes und nahm seinen alten Platz wieder ein. Obgleich das markerschütternde Gezeter seinen Ohren arg zusetzte, hätten ihn keine zehn Pferde von seinem Logenplatz fortbewegen können. Dafür war die Neugier zu groß und die Einsamkeit zu lang gewesen. Etwas Seltsames war zudem geschehen, für das er keine Erklärung hatte: Alles, was er hörte, konnte er für Sekundenbruchteile auch „sehen“.

Hass, Wut, Gier und Schadenfreude blitzten rot auf, Dummheit, Lüge und Rachsucht gelb, Mitgefühl und Hilfsbereitschaft grün und Freude und Liebe schließlich in einem zarten Blau (wenngleich er den letzten beiden Farben erst später begegnen sollte). Er drehte sich auf den Rücken und schloss die Augen. Während eine sanfte Brise über seine glühendheiße Stirn strich, tobte hinter seinen zitternden Lidern ein Unwetter aus roten und gelben Blitzen …

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