Die Tage von Gezi

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Die Tage von Gezi
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Martin Niessen

Jahrgang 1968, ist studierter Politologe und Islamwissenschaftler. Als Reporter des ZDF dreht der gebürtige Rheinländer Reportagen in aller Welt. Er berichtet aus Krisen- und Katastrophenregionen wie dem indonesischen Aceh nach dem Tsunami 2004 oder dem durch das Erdbeben 2010 zerstörten Haiti. Nach der Atomkatastrophe von Fukushima war Martin Niessen 14 Monate als Korrespondent des ZDF in Japan. Seine Erinnerungen sind als eBook erschienen: »Der kleine Japaner – Im Land der aufgehenden Sonne und abrauchenden Atomkraftwerke«. Martin Niessen ist verheiratet und lebt in Hamburg und Istanbul.

MARTIN NIESSEN

DIE TAGE VON GEZI

EIN ROMAN

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2014

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

1. Auflage

Copyright (2014) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei Martin Niessen

Umschlagfoto © Martin Niessen

Umschlaggestaltung unimak, Hamburg

Autorenfoto © Philipp Rathmer

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

In Erinnerung an

Ahmet Atakan

Mehmet Ayvalitaş

Abdullah Cömert

Berkin Elvan

Ali İsmail Korkmaz

Mustafa Sarı

Ethem Sarısülük

Medeni Yıldırım

Inhalt

Cover

Titel

Über den Autor

Impressum

Widmung

Vorwort

28. Mai

29.–30. Mai

31. Mai

01. Juni

02.–04. Juni

08. Juni

11.–12. Juni

15.–16. Juni

22. Juni

Glossar

Danksagung

Der Autor im Internet

Vorwort

Es war reiner Zufall, dass ich Zeuge wurde. Zeuge einer kleine Revolte, die sich an dem Abriss eines Parks entzündete, der einem Einkaufszentrum weichen sollte und sich zu einer Bewegung auswuchs, die weite Teile eines Landes erfasste, das ich seit mehr als zwanzig Jahren kannte und das mir sehr ans Herz gewachsen war. Ich wurde letztendlich Zeuge des Erwachens einer türkischen Zivilgesellschaft und einer Lehrstunde für das, was Demokratie ist und was nicht.

Wie Marc, eine der Hauptfiguren im vorliegenden Roman, war ich am 28. Mai durch Zufall im Istanbuler Gezi-Park, als es dort zu den ersten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und der Polizei kam. In den folgenden Tagen und Wochen erlebte ich, wie sich Menschen mit viel Kreativität, Entschlossenheit und Mut einer zunehmend autoritärer und brutaler handelnden Regierung widersetzten, deren Argumente Wasserwerfer, Tränengas und Polizeiknüppel waren. Es ging nicht mehr um das Abholzen von ein paar Bäumen, sondern – um dieses große Wort zu bemühen – um Freiheit. Zumindest um die Freiheit, über den eigenen Lebensstil zu entscheiden. »Ich will mir nicht vorschreiben lassen, wie viele Kinder ich zu bekommen habe, und mich nicht als Trinkerin beschimpfen lassen, weil ich abends ein Glas Rotwein trinke«, sagte mir eine Frau Mitte vierzig, die im schwarzen Businesskostüm mit Freundinnen im Gezi-Park saß und der angedrohten Räumung trotzte. »Es schmeckt nach Freiheit«, riefen Demonstranten, während ich im Tränengasnebel nur noch nach Luft schnappte.

Für eine kurze Zeit existierte mit der Kommune von Gezi in der tief gespaltenen türkischen Gesellschaft eine Utopie, in der es egal war, ob man Türke oder Kurde, Kemalist oder Kommunist, hetero oder homosexuell war, als Frau ein Kopftuch trug oder nicht. Die türkische Regierung ließ den Park mit brutaler Gewalt räumen. Aber der Geist, der dort entstand, ist aus der Flasche.

»Die Tage von Gezi« ist ein Roman, der sich vor dem realen Hintergrund der Ereignisse in Istanbul zwischen Ende Mai und Ende Juni 2013 abspielt. Die Hauptakteure in diesem Roman sind frei erfunden, ebenso ihre Handlungen, wenn auch auf persönlichen Erfahrungen oder denen von Freunden und Bekannten basierend. Premierminister Recep Tayyip Erdoğan ist natürlich nicht erfunden, ebenso wenig diverse andere Mitglieder der Regierungspartei AKP und weitere Personen der Zeitgeschichte, die hier namentlich genannt werden. Und selbstverständlich finden auch Pinguine, Kochtöpfe, die »Frau in Rot«, der »Stehende Mann« und viele andere, die zu Symbolen der Widerstandsbewegung wurden, ihren Platz in diesem Buch. Genauso wie ihre Sprechchöre, Graffitibotschaften und Aktivitäten in sozialen Netzwerken. Ich habe die Romanform gewählt, weil es für mich nach meinen persönlichen Erlebnissen in diesen fünf Wochen keine zwei Meinungen gab. Und ich diese eine, meine, Meinung nicht den journalistischen Prinzipien der Neutralität und Objektivität opfern wollte. Die Geschichte möge mir verzeihen.

Martin Niessen, im Mai 2014

»Demokratie ist für uns eine Straßenbahn, aus der wir aussteigen, wenn wir unser Ziel erreicht haben.« [Recep Tayyip Erdoğan]

»Überall ist Taksim, überall ist Widerstand!« [Motto der Protestbewegung]

Die Tage von Gezi

28. Mai
Mine

»Wegen der paar Bäume?«

Vedat schaute auf Mine herab, die auf dem Fußboden saß und das kleine Zweimannzelt, ihren Schlafsack und eine Regenjacke in ihren Rucksack packte.

»Außerdem ist der Park total hässlich, da liegen nur Müll und Penner herum!«

Er schien irgendwie sauer zu sein. Aber sie war es auch. Gerade hatte sie ihm erzählt, dass sie im Istanbuler Gezi-Park mit einigen Freunden gegen das Abholzen von Bäumen protestieren wolle. Der Park im Zentrum der Stadt sollte dem Nachbau einer Osmanischen Kaserne mit Ladengeschäften weichen. Studenten ihrer Uni hatten eine Demo gegen die Pläne der Stadtverwaltung organisiert. An der wollte sie teilnehmen. Vedats Desinteresse in dieser Sache machte sie wütend.

»Warum willst du das nicht verstehen? Es geht nicht darum, ob der Park schön oder hässlich ist. Es geht darum, dass er eine der letzten Grünflächen in Beyoğlu ist. Und Einkaufszentren haben wir wahrlich genug. Ganz im Gegensatz zu Bäumen!«

Ihre großen braunen, fast schwarzen Augen unter der wilden Mähne dunkler Locken blitzten, als sie kurz zu ihm hochschaute und dann weiter Campingausrüstung und ein paar frische Klamotten in den Rucksack stopfte. Klar, Vedat hatte es wahrlich nicht immer leicht mit ihr. Wenn Mine sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, zog sie es gegen jeden Widerstand durch. Sie wusste, dass sie aufbrausend und ihm gegenüber manchmal auch ungerecht sein konnte, dass mit ihr, wenn sie sauer war, nicht gut Kirschen essen war. Aber so war sie nun mal. Meist zuckte Vedat irgendwann mit den Schultern und gab klein bei. Auch dieses Mal schlug er nach ihrem Ausbruch einen versöhnlichen Ton an.

»Musst du da denn gleich übernachten? Es reicht doch, wenn du tagsüber demonstrierst und abends zurückkommst. Ich mache mir einfach Sorgen. Der Park ist, wenn es dunkel ist, nicht sicher.«

Sie schaute wieder hoch. So leicht wollte sie es ihm nicht machen, dafür war ihr die Sache zu wichtig.

»Ich bin ja nicht allein da. Außerdem kannst du ja nach Dienstschluss nachkommen. Ein bisschen mehr Engagement für die Natur würde dir auch nicht schlecht zu Gesicht stehen!«

Um Vedats Lippen spielte trotz der harschen Worte ein Lächeln.

»Ist ja gut, du kleine Kratzbürste.«

Auch sie musste nun lachen. Genau deswegen hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er war ein sehr humorvoller, zurückhaltender Mann, der ihr von Anfang an äußerst respektvoll begegnet war und bis heute ziemlich klaglos ihre Ecken und Kanten akzeptierte. Vedat war keiner dieser Machos, die sich erst verständnisvoll gaben und beim dritten Date schon den Herrn im Haus rauskehrten. Seit elf Monaten waren sie verheiratet, eine echte Liebesheirat, keine von den Familien ausgehandelte, wie es vielfach noch immer der Fall war in der Türkei. Ein knappes Jahr vorher hatten sie sich kennengelernt, über drei Ecken, über Freunde von Freunden, in einem der Musik-Clubs, die die Seitengassen der Istiklal Straße im Herzen Istanbuls zwischen Taksim-Platz und Galataturm zum Treffpunkt der Jugend der Stadt und der Welt machten. Sie hätten sonst nie zusammengefunden, so unterschiedlich, wie sie waren, genauer gesagt: ihre Herkunft war.

 

Sie, die Jura-Studentin aus bürgerlichem Haus, geboren und aufgewachsen im Nobelviertel Nişantaşı mit seinen internationalen Modeboutiquen und exklusiven Cafés, nicht weit vom Taksim-Platz entfernt. Die Eltern Professoren an verschiedenen Istanbuler Universitäten, der Name des Vaters, der als einer der angesehensten Radiologen im Land galt, schmückte zudem eine teure Privatklinik. Sie hatten mit Religion nicht viel am Hut, ein Wochenendhaus auf den vorgelagerten Prinzen-Inseln, wo man dem Smog und der Hektik der Stadt entkommen konnte, und ein Ferienhaus bei Bodrum an der Mittelmeerküste. In Mines Elternhaus traf sich Istanbuls Bürgertum – Ärzte, Architekten, Juristen, Künstler – zu ausgedehnten Abendessen, bei denen Rotwein und Rakı flossen, der anishaltige Schnaps, mit Wasser und Eis getrunken, worauf er sich milchig verfärbte und deswegen »Löwenmilch« genannt wurde. Mine hatte schon in jungen Jahren mit am Tisch gesessen, wenn in illustrer Runde über Gott, die Welt und große Politik diskutiert wurde.

Und er, der hochgewachsene und gut aussehende Polizistensohn aus Kasımpaşa, ausgesprochen höflich, die Sprache geschliffen und ohne den in Istanbuls Arbeitervierteln verbreiteten harten Einschlag des Ostens, der noch mit seinen Eltern, zwei Schwestern und der Großmutter väterlicherseits zusammen in einer Vierzimmerwohnung in jenem einst heruntergekommenen Stadtteil am Goldenen Horn wohnte, der erst in den letzten Jahren eine Aufwertung erfahren hatte, weil der derzeitige türkische Premierminister Erdoğan dort aufgewachsen und plötzlich Geld für die Restaurierung alter Häuser und für gläserne Neubauten vorhanden war. Seitdem hatte der Fußballclub von Kasımpaşa ein schickes neues Stadion und 2012 sogar den Aufstieg in die Süper Lig, die höchste Spielklasse, geschafft. Trotzdem war Kasımpaşa traditionell geblieben, um nicht zu sagen: konservativ. Die meisten Frauen trugen Kopftuch, die Männer ließen unaufhörlich die Holzkugeln der Tesbih, der Gebetskette, durch ihre Finger gleiten, Töchter heirateten früh und Söhne traten in die Fußstapfen ihrer Väter. Und so war auch Vedat der Familientradition gefolgt und Polizist geworden.

Mine wusste, dass ihre Eltern nicht sonderlich glücklich über die Wahl ihrer einzigen Tochter, aber gleichzeitig zu liberal eingestellt waren, als dass sie wirklich versucht hätten, ihr die Beziehung zu Vedat auszureden oder gar zu verbieten. Sie äußerten allerdings – und nicht nur einmal – die Befürchtung, dass es nicht gut gehen würde mit einer Professorentochter und einem Polizistensohn, zu verschieden seien die Lebensumstände und -vorstellungen. Allerdings wussten sie auch nicht von entsprechenden Negativ-Beispielen im Verwandten- oder Bekanntenkreis zu berichten, denn solche Verbindungen waren in der Türkei auch zu Beginn des zweiten Jahrzehnts im dritten Jahrtausend rar. Auf dem Land und in religiösen Familien heirateten noch immer – und gar nicht selten – Cousins Cousinen und bei den säkularen städtischen Eliten blieb man gerne unter sich. Standesdünkel aber hätte Mine ohnehin nicht akzeptiert, von Eltern, die am Tisch mit ihren Freunden rotweinselig von Gleichheit und Brüderlichkeit fabulierten, von Religions- und Meinungsfreiheit als unveräußerlichen Menschenrechten. Eltern, die die Spaltung der türkischen Gesellschaft in einen religiösen und einen kemalistisch-laizistischen Teil als Damoklesschwert über dem Land betrachteten, um sich im nächsten Satz Sorgen um die ungleichen Geburtenraten und den Kurs der AKP-Regierung zu machen. Mine aber hatte schon immer ihren eigenen Kopf gehabt, außerdem war sie bereits volljährig, als sie Vedat kennenlernte. Und so musste sie auch nicht mit Auszug drohen oder damit, den Kontakt zu ihren Eltern abzubrechen, um letztendlich deren Segen für ihre Hochzeit mit Vedat zu erhalten.

Marc

»Simisimitsimiiiiiiiiit!«

Marc zuckte zusammen, als er einen mobilen Verkaufsstand für Sesamkringel passierte und der Verkäufer unvermittelt und aus vollem Hals begann, seine Ware anzupreisen. Dann lächelte er über seine Schreckhaftigkeit. Er war zum ersten Mal in dieser Stadt, seit fünf Tagen, was offensichtlich nicht ausreichte, um sich auf diese Megacity einzustellen. Er hatte schon viel früher kommen wollen, in die weltweit einzige Metropole auf zwei Kontinenten, vom Bosporus in einen asiatischen und einen europäischen Teil gespalten, mit ihrer wechselvollen Geschichte, die mal von christlichen, dann von islamischen Herrschern geprägt, aber noch viel älter war und mit einer ganz eigenen Atmosphäre, irgendwo zwischen Orient und Okzident, zwischen Antike und Moderne, vermittelte. Aber irgendetwas war ihm immer dazwischengekommen. Nun aber hatte er es endlich geschafft und sich diese eine Woche Urlaub auch wirklich verdient.

Die letzten zweieinhalb Jahre waren extrem aufreibend gewesen. Er war Reporter bei einem großen britischen Nachrichtenmagazin, sein Aufgabengebiet: die Krisenherde der Welt. Arabischer Frühling, Tunesien, Ägypten, Libyen, die Atomkatastrophe von Fukushima, das nie enden wollende Drama um Afghanistan, Indien und Gewalt gegen Frauen – das alles und noch einiges mehr waren seine Themen gewesen. Normalerweise zog er sich nach solchen Einsätzen komplett zurück, mietete sich eine Hütte am Strand einer kleinen thailändischen Insel oder im Hochland von Bali, lag den ganzen Tag in seiner Hängematte, die er immer mit dabeihatte, hörte Musik oder las. Kein Internet, keine E-Mails, keine Telefonate, keine Zeitung – für zwei oder drei Wochen war seine Welt dann sehr klein und sehr friedlich. Warum er diesmal nach der Rückkehr aus Afghanistan eine Ausnahme gemacht und sich für eine Reise in die Turbulenz einer der größten Städte der Erde entschieden hatte, konnte er schon nicht mehr genau sagen. Da waren natürlich jene Freunde in London, die so begeistert von Istanbul erzählt und die zahllosen Publikationen in Reisemagazinen und Fernsehreportagen, die die Stadt für sich entdeckt hatten, sie in Hochglanz als »Boomtown am Bosporus« feierten. Oder war es doch sein Riecher gewesen? Der ihn so häufig zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sein ließ? Der ihm in seiner Redaktion den Ruf des Trüffelschweins für gute Geschichten eingebracht hatte?

Die ersten vier Tage brauchte er, um sich an Geschwindigkeit und Lautstärke des Lebens in dem 15- oder 20-Millionen-Moloch – wer wusste das schon genau? – zu gewöhnen: das ständige Hupen der Autos, die auf zweispurigen Straßen zu viert nebeneinander fuhren, meist nur im Schritttempo vorwärtskamen und von ganz links nach rechts abzubiegen suchten; die zwischen ihnen hin und her sausenden Mopeds der Kuriere, die Pakete oder Essen auslieferten; das wütende Klingeln der im Stau steckenden Tram, deren Gleise in den Hauptverkehrszeiten von dicken Limousinen als Straße genutzt wurden, weil deren wohlhabende Fahrer hofften, so schneller ans Ziel zu kommen, und die fälligen Bußgelder aus der Portokasse zahlten; das tiefe Tuten der großen Containerschiffe auf dem Bosporus und dem Marmarameer und das etwas hellere der Fährschiffe, die mit dröhnenden Dieselmotoren, dichte Wolken schwarzen Rauchs ausstoßend, an den zahllosen Anlegestellen ankamen oder gerade ablegten, um den Bosporus oder das Goldene Horn zu queren; die Rufe der Los-, Maiskolben-, Röstkastanien- und Simitverkäufer und überhaupt das Gewirr von Stimmen von Millionen Menschen, die in dieser Stadt immer und überall unterwegs waren. Selbst die Flucht in Sehenswürdigkeiten wie die unterirdische römische Zisterne mit ihren Medusenköpfen, Hagia Sophia oder Blaue Moschee hatten ihm keine Ruhe beschert. Es war Hauptreisezeit und die Stadt voll mit Touristen, die zusammen mit türkischen Schulklassen die zahllosen Sehenswürdigkeiten Istanbuls mit lauter, vielsprachiger Fröhlichkeit überschwemmten. In Karaköy lagen in diesen Tagen immer mindestens zwei oder drei riesige Kreuzfahrtschiffe, morgens Tausende Passagiere ausspuckend, die in Bussen durch die Stadt jagten, um in den wenigen Stunden ihres Aufenthaltes möglichst viel Geschichte und Kultur zu inhalieren oder Nippes zu konsumieren.

Trotzdem gefiel es Marc hier. Er streifte vom Morgen bis zum Abend, das ein oder andere Mal auch bis tief in die Nacht, durch die Stadt, sog sie auf – als Mensch, ganz privat, nicht als Journalist –, ließ sich von ihr ablenken. Er genoss die vollständige Abstinenz ihm bekannter Regeln im Miteinander und Untereinander dieser unglaublichen Massen an Menschen und Fahrzeugen, die aber durch ihm unbekannte ersetzt worden sein mussten, denn irgendwie funktionierte es ja, und erstaunlich gut dazu. Er hatte gelernt, Verkehrszeichen zu ignorieren und dennoch Straßen zu queren, ohne überfahren zu werden, indem er Blickkontakt zu den Fahrern suchte. Seine Ohren und sein Gehirn konnten die Geräuschkulisse auf ein erträgliches Maß herunterfiltern und blieben doch wachsam für Besonderes und Wichtiges. Seine Augen vermochten zu fokussieren, sodass sein Blick nicht mehr haltlos durch die ständig in Bewegung befindliche Umgebung irrte. Seine Nase hatte sich an die tausend verschiedenen Gerüche gewöhnt, die den Gewürzständen und Garküchen entwichen, die es in einer Masse gab, als habe jeder Bewohner dieser Riesenstadt einen eigenen.

Überhaupt, das Essen, die Meze zum Beispiel, Vorspeisen. Auf Dutzenden kleinen Tellern serviert, die auf großen Tabletts von Kellnern an den Tisch gebracht wurden, auf dass man sich kaum entscheiden konnte zwischen Auberginenmus, marinierten Sardellen, Oktopussalat, scharfen roten Paprika mit Schafskäse gefüllt, eingelegten Artischockenböden, Kichererbsenbrei, Joghurt mit Dill oder Gurke, dicken Bohnen, grünen Bohnen in Tomatensoße, Algensalat mit Knoblauch, grünen und schwarzen Oliven – die grünen mit Walnüssen oder Mandeln gestopft, die schwarzen mit Stein oder zu einer Art Pesto püriert –, in Olivenöl gebratenem Gemüse, gegrilltem Hellim-Käse, Tränen in die Augen treibendem Salat aus kleingeschnittenen Tomaten mit frischen Kräutern und Massen an Chili, Melone mit Schafskäse oder mit Dutzenden Gewürzen, darunter Nelken und Zimt, marinierten Fischfilets. Manche Restaurants boten vierzig, fünfzig oder noch mehr Vorspeisen an, von den warmen wie mit Spinat und Schafskäse gefüllten Blätterteigtaschen, Tintenfischringen, überbackenen Champignons, frittierten Sardinen oder kleinen, sehr scharfen Frikadellen noch gar nicht redend. Meist war Marc schon satt, bevor er sich gegrillte Scholle, Dorade, Seebarsch, einen Fleischspieß oder mit Tomaten und Joghurt in eine Auflaufform geschichtetes Kebab bestellen konnte. Und dann erst die Süßspeisen: die verschiedenen Arten von Baklava, Künefe, Kadayıf, Kazandibi mit Eis, Sütlaç. Oder das frische Obst, das meist ungefragt und oft kostenlos als Abschluss einer türkischen Mahlzeit auf den Tisch gestellt wurde. Für den Preis eines derart opulenten Abendessens würde er in London fettige Fish and Chips in Zeitungspapier eingewickelt zum Mitnehmen bekommen. Es war in dieser Stadt ein Leichtes, sich schon allein kulinarisch überwältigen zu lassen.

Obwohl das Leben im Vergleich zu London günstig war, warf er mit seinem Geld nicht um sich, wollte keiner dieser Touristen sein, die glaubten, dass ihnen für zwei Wochen eine fremde Welt gehörte, in der sie sich alles leisten konnten, die gönnerhaft mit Scheinen herumwedelten und die lokalen Preise ruinierten. Er wusste mittlerweile, was ein Simit und eine kleine Plastikflasche Wasser kosteten, die er auf seinen Streifzügen als Marschproviant mit sich führte, und ließ sich nicht mehr übers Ohr hauen. Er handelte zwei Stunden lang, als er im Großen Bazar ein Backgammon-Brett mit sehr schönen Intarsienarbeiten aus Perlmutt kaufte. Am Ende konnte er den Kaufpreis um zwei Drittel des von dem Englisch sprechenden Händler genannten Startpreises reduzieren, war sich aber immer noch unsicher, ob nicht auch das noch zu viel gewesen war. Und er hatte wichtige Worte gelernt, um nervige Straßenhändler, die gefälschte Markensocken oder Polohemden überteuert anboten, abzuwimmeln: »Yok, sağ ol, abi!«, nein danke, Bruder. Es kam ihm schon fast akzentfrei über die Lippen. Jetzt, wo er einigermaßen klarkam, beschloss er, seinen Urlaub zu verlängern. Er war, obwohl gerade erst vierzig geworden, bereits viel herumgekommen, kannte Tokio, Peking, Shanghai, Singapur, Bangkok, Dhaka, Neu Delhi, Teheran, New York, Mexico City, Rio de Janeiro – alle diese Mega-Städte hatten ihre besonderen Reize. Aber Istanbul war auf eine faszinierende Art und Weise speziell. Überhaupt nicht erholsam natürlich, nicht das, was er eigentlich brauchte, im Gegenteil. Dennoch hatten ihn die Stadt und die Menschen irgendwie gepackt, er konnte es nicht erklären. Er wollte länger bleiben, so viel war ihm am Abend vorher, als er mit einer Wasserpfeife in einem Teehaus am Galataturm saß und dem Treiben in den Gassen zuschaute, klar geworden. Die Einwilligung seines Redaktionsleiters hatte er am Morgen vom Hotel aus telefonisch eingeholt und ihm die Idee, statt einer zweieinhalb Wochen zu bleiben, mit dem Satz »Gib mir zehn Tage mehr, ich schreibe auch einen Artikel über Istanbul« schmackhaft gemacht. Nun war er auf dem Weg von Galata, dem bunten, bei Touristen beliebten Viertel rund um den gleichnamigen Turm, in dem sein Hotel lag, über die Istiklal Straße zum Taksim-Platz, um im Stadtbüro von Turkish Airlines seinen Flug umzubuchen.

 
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