Erzählungen über das Erleben und Begegnen

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Erzählungen über das Erleben und Begegnen
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Margot Wilke

Erzählungen über das Erleben und Begegnen

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2015

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2015) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015

www.engelsdorfer-verlag.de

INHALT

Cover

Titel

Impressum

Rückkehr in die Kindheit

Frühlingsboten im Bruch

Straße

Clogs

Der unbekannte Maler

ICH lebe wie ICH will

Freundschaft

Blätter

Zwanzig Jahre danach

Christel

Rückkehr in die Kindheit

Für Romy

Je älter man wird, desto stärker werden die Erinnerungen, die viele Jahre zurückliegen. Das Langzeitgedächtnis ist ausgeprägter. Vor allem die Kindheitserinnerungen treten dabei mehr hervor. Das wird wohl auch daran liegen, dass die Kindheit unbeschwerlicher und sorgensloser war als das Erwachsensein. Probleme und Unangenehmes sind vergessen und das Angenehme steht im Vordergrund. Somit erscheint die Kindheit in einem verklärten Licht und wird immer erzählenswerter. Meine Erinnerungen werden immer ausgeprägter, wenn ich an die Ferienzeit bei meinen Großeltern denke.

Es war eine herrliche Zeit. Ich konnte machen, was ich wollte und keinerlei Zwänge wurden mir auferlegt. Ständige Ermahnungen wie „Sitz gerade! Beim Essen schlingt man nicht! Schmatz nicht! Die Ellenbogen vom Tisch! Sprich nur, wenn du gefragt wirst!“ gab es nicht. Bei meinen Großeltern konnte ich die erlernten Sitten anwenden, musste aber nicht und brauchte das auch nicht. Es war die großelterliche Nachsicht, die sie bei ihren eigenen Kindern nicht angewendet hatten.

Umherstrolchen! Essen, wann ich wollte! Keiner hinderte mich auf Bäume zu klettern und wenn ich mich nicht wusch, fiel das auch nicht weiter auf. Die Pumpe war schneller erreichbar als das Waschbecken. Ferien nach meinem Geschmack und auch vielleicht der Traum mancher Kinder heute.

Mich packte die Sehnsucht nach meinem Kinderland. Eigentlich kannte ich dort keinen Menschen mehr, denn 60 Jahre sind eine lange Zeit – über ein halbes Jahrhundert. Nur eine einzige Verbindung bestand, mit der Tochter einer Schulkameradin meines Vaters. Und diese war nur ein telefonischer Kontakt, wir kannten uns nicht.

Nachdem einige Angebote zum Besuch eingegangen waren, entschloss ich mich kurz und bündig, meinen Traum zu erfüllen.

Meine Freundin fuhr mich hin, sie übernahm die Fahrt in meine Kindheit und musste stundenlang meine Aufregung ertragen.

Ein eigenartiges Gefühl erfasste mich. War es Erregung? Erwartung? Und ich hatte auch ein wenig Angst. Angst vor einer Enttäuschung, ein Erxleben vorzufinden, überall modernisiert und nichts mehr von meiner Kindheit zu erkennen. Die Breite Straße ohne Kastanien, die trauten alten Häuschen aus dem 18./​19.Jh. verputzt und nicht mehr wiederzuerkennen, wobei gerade diese dem Ort ein anheimelndes Flair verliehen.

Die meisten Dörfer erkennt man schon von weitem an ihren Kirchtürmen. Nicht so hier. Hier ist der uralte Hausmannsturm mit einer Höhe von wohl über 50 m. Er soll 920 erbaut worden sein und kennt die Geschichte seines Ortes wohl am besten. Er ist das Wahrzeichen von Erxleben.

Am ehemaligen Bahnhof vorbei. Ich war so aufgeregt, dass ich gar nicht mehr wusste, ob das alte Bahnhofsgebäude noch steht. Ist ja auch egal.

Wir fuhren in den Ort. Erleichterung, die alte vertraute Parkmauer von Schloss II ist noch da. Und dann wurden die Erinnerungen konkreter. Die alte Apotheke – Breite Straße – Gasthaus „Zur Post“, wo ich übernachten wollte.

Ich war in Erxleben. Ich war auf den Spuren meiner Kindheit. Hier sind die Wurzeln meiner Familie zu finden. Väterlicherseits alteingesessene und mütterlicherseits seit vielen Jahren dort lebende Großeltern.

Mein Zustand wurde immer verwunderlicher. „Fahr doch bitte erst die Straße entlang.“ Diese Fahrt durch den Ort empfand ich wie eine Pflicht. Ich wollte die Jahre zurückspulen und die Jetztzeit vergessen, noch einmal erleben, Kindheitserinnerungen nicht nur auffrischen.

„Ich möchte erst einmal die Häuser meiner Großeltern sehen.“ Und was sah ich im ersten Moment? Neue Fenster! Der alte Zaun ist weg, ist ja klar und auch der Fliederbusch. Die schönen alten ausgetretenen Steinstufen mussten Betonklötzen weichen. Aber die Kastanien, die den Straßenrand säumten, stehen noch, ebenfalls die Parkmauer vom Park I. Auch eingerückt, im Hintergrund der Straße, das kleine Häuschen aus roten Backsteinen der anderen Großeltern, allerdings ohne Tünnekenborn, ein damals beliebter alter Brunnen. Die Fenster mit Brettern vernagelt, wie tote Augen. Aber es steht noch.

Vor meinen Augen entstand das Bild meines Großvaters. Ein rundes Gesicht mit einem kleinen Schnurrbart. Auf dem Kopf kurze graue Stoppeln. Wenn man darüber strich, was nur seine Söhne durften, hörte man ein abwehrendes Brubbeln. War es Wohlbehangen oder Ärger? Man konnte es nicht deuten. Leicht gebückt, etwas o-beinig in den Holzpantinen, aus der Hosentasche hing ständig ein Zipfel vom Taschentuch. Diese Angewohnheit behielt er bis ins hohe Alter.

Zurück zur „Post“. Ich stieg aus dem Auto, die letzten 60 Jahre versanken im Nichts. Ich war in Erxleben. Alles andere war ausgelöscht und ich genoss es. Die alte „Post“ war noch wie früher. Die große Toreinfahrt wie einst – die Gaststube vertraut anheimelnd und die Wirtsleute gar nicht fremd, obwohl ich sie nicht kannte. Schon beim Aussteigen ein warmer herzlicher Empfang. Das letzte Gefühl der Fremdheit fiel ab, ich war wieder Kind.

„Ich bin da“, der Anruf an meine Bekannte. Und da kam sie. Wir erkannten uns beide sofort. Nichts, aber auch gar nichts Unbekanntes lag zwischen uns, als würden wir uns ewig kennen, waren nie getrennt, wie alte Freundinnen. Vielleicht ist auch dieses Sofortverstehen etwas Seltenes.

Und dann wurden Erinnerungen wachgerufen, bedingt auch dadurch, dass ich das Poesiealbum meines Vaters aus dem Jahre 1920 mitgenommen hatte. Wir waren mittendrin im Erzählen und fanden kein Ende.

Für mich begann es jetzt wie früher – Besuche machen. Nur damals war es ein klein wenig anders. Die Besuche dauerten den ganzen Tag, denn eine riesengroße Verwandtschaft erwartete meinen Besuch. Bei jedem einzeln musste ich den damals üblichen Knicks machen, Erstaunen über mein jährliches Wachstum und die großelterlichen Gene über mich ergehen lassen. Die Reihenfolge: die anderen Großeltern, eine Cousine meines Vaters und noch eine Cousine, die Schwester meines Großvaters samt Anhang, meine Tante mit ihrem Gefolge von Eltern und zwei Schwestern und zuletzt zum Apotheker. Wobei dieser Besuch für mich der angenehmste war. Er war ein gemütlicher alter Herr mit einer Brille und ersetzte im Notfall auch mal den Arzt. Er hatte eine mir unbekannte Beziehung zu meinem Heimatort. Der alte Herr hatte mich ins Herz geschlossen und liebte meinen Thüringer Zungenschlag. Der obligatorische Knicks und dann Erzählen, Erzählen und wieder Erzählen. Ging das Thema aus, animierte er mit geschickten Fragen und der Wasserfall mit Thüringer Klangfarbe setzte sich fort. Zum Abschluss der Knicks und die Taschen voller Süßigkeiten, somit war meistens der erste Tag beendet und meine persönliche Ferienzeit konnte beginnen.

Heute jedoch führte mich der erste Weg zu der einzig verbliebenen Schulkameradin meines Vaters, beide Jahrgang 1910 und somit 97 Jahre und sie hatte am vorigen Tag Geburtstag. Ihr Häuschen wie eh und je. Na, Gott sei Dank! Es gab noch das alte Erxleben.

Das Wohnzimmer ähnlich wie bei meinen Großeltern. Ich fühlte mich sofort heimisch. Dann musste ich von ihrem Schulkameraden, meinen Vater, erzählen. Erinnerungen und immer wieder Erinnerungen wurden ausgetauscht und nach und nach fiel mir immer mehr ein. Inzwischen gab es Kaffee und Geburtstagskuchen. Und der Kuchen! Tatsächlich „Arme Leute Kuchen.“ Das rutschte mir unkontrolliert heraus und war mir dann furchtbar peinlich. Aber es ist ein typischer Erxlebener Kuchen. Zu Geburtstagen wird er noch heute bei uns gebacken und wird am liebsten gegessen. Ein einfacher Hefeteig, mit Daumen und Zeigefinger Löcher drehen und diese mit Butter oder Sahne füllen, dann Zucker darüber streuen. Ich konnte mich nicht beherrschen und habe gesündigt, ohne rot zu werden.

 

Nach diesem Besuch gingen wir noch die Straße entlang. An den alten, mir so vertrauten Häusern spazierten wir vorbei, aber meine Augen suchten eine bestimmte Toreinfahrt von einem Bauernhof.

Es waren die Nachkriegsjahre und alles war knapp. Eine der Töchter heiratete und es sollte eine große Hochzeit werden. Das war das Ereignis im Dorf, vor allem auch für uns Kinder, zumal ich so etwas noch nicht erlebt hatte. So waren wir auch dementsprechend aufgeregt und sammelten Porzellan für den Polterabend. Es durfte nur Porzellan sein, denn nur das brachte dem jungen Paar Glück.

Dann war es endlich so weit. Bepackt mit altem Geschirr zogen wir zum Hochzeitshaus. Mit Schreien, Lachen und Knallen zerschlugen wir das Mitgebrachte. Und dann stieg uns ein süßer Duft in die Nase. Die Braut brachte Teller mit Kuchen. Streuselkuchen! Streuselkuchen mit echter Butter gebacken! Das war zu dieser Zeit für uns, die nur karge Kriegskost kannten, einmalig, denn Butter war Mangelware. Wenn gebacken wurde, dann mit Margarine, die es aber auch nur auf Lebensmittelkarten gab.

Die Teller waren schnell leer. Ein Stück Kuchen, ein bleibendes Erlebnis! Seitdem ist Streuselkuchen meine Leidenschaft, aber nur wenn die dicken Streusel mit Butter gebacken sind.

Und dann ein eigenartiger Zufall. Wir trafen eine Bekannte und es kam zu einem Thema, das alte Erinnerungen hervorrief, wie es vor einem halben Jahrhundert war. Der Streuselkuchen kam ins Gespräch. Es war die damalige Braut. Nach ungefähr einer Stunde Plaudern spazierten wir weiter.

Dann führte uns der Weg in die Bauernstraße. Da hatte sich kaum etwas geändert. Die einst holprige Straße war geteert, aber ansonsten war es noch die alte Bauernstraße. Was mir aber als Kind nicht aufgefallen war, ich auch nie beobachtet hatte, waren die an den Eingängen über dem Tor angebrachten steinernen Tafeln mit den Namen der Eheleute und dem Hochzeitstag. Sie erweckten den Eindruck, dass dieses Gehöft für die jungen Eheleute der Beginn und die Existenz ihres gemeinsamen bäuerlichen Daseins begann.

Auch das Haus meiner Bekannten wie in alten Zeiten. Gemütlich, traut und mit einem riesengroßen Garten, den man hinter dem Tor nicht vermutete.

Ihr Hobby ist die Geschichte Erxlebens und ich profitierte von ihrem Wissen. Sie gab mir Einblick in ihre Sammlung von geschichtlichen Ereignissen, Namen und Gebäuden. Vieles war mir unbekannt, aber so manches frischte meine Erinnerungen wieder auf. Andere Frauen lesen Liebesromane, sie nicht. Ihre Leidenschaft sind alte Kirchenbücher und ich garantiere, dass sie jeden Stammbaum der Ur-Erxlebener kennt und zurückverfolgen kann. Ich weiß nicht, bis ins wievielte Glied und Jahrhundert.

Nach einem Plausch mit den Wirtsleuten begab ich mich zu Ruhe. Es war ein herrliches Gefühl, die alten ausgetretenen, leise knarrenden und sanft wippenden Holztreppen mit dem alte Geländer hochzugehen. Ich genoss jedes Geräusch dieser alten Stufen und ging langsam und bedächtig hoch, dabei fuhr meine Hand fast streichelnd über das farbige Holzgeländer. Alte Türen, alte Türschlösser! Meine Kindheit rückte näher. Wo gibt es heute noch so etwas? Hoffentlich kommen die jungen Leute nicht so schnell auf die Idee, dies zu modernisieren. Es kann natürlich auch sein, dass in mir eine Nostalgieschwärmerei ausbrach. Aber ich fühlte mich wohl dabei.

Morgens wurde ich sehr früh munter und erlebte das Erwachen auf der Dorfstrasse, die fast städtisch geworden ist. Aber das störte mich nicht mehr.

Der Blick auf den Hausmannsturm, auf Schloss I mit der Parkmauer, den herausragenden alten Bäumen und der für mich allzu vertrauten Pforte entschädigten mich.

Dass statt Pferdewagen jetzt Autos fuhren, störte mich ebenfalls nicht mehr. Es war eben doch Erxleben. Ich kam am Haus meiner Großeltern Gollnick vorbei. Meine Blicke ging in Richtung Schulstrasse. Heute eine normale Straße, damals ein langer staubiger Weg mit Holpersteinen und bei Regenwetter mit großen Pfützen oder Matsch. Was war das doch für ein herrliches Gefühl, wenn wir nach einem warmen Sommerregen barfuss darin liefen und der Matsch zwischen den Zehen hervorquoll.

Auf der linken Seite trennte eine sehr hohe Mauer den Park von diesem Weg. Hinter dieser Mauer, dunkel und geheimnisvoll, der Schlosspark. Diesen Weg liebte ich.

Beim morgendlichen Spaziergang durch den Park umgab mich dieser mit seiner Stille und gepflegten Wildheit. Kleine stille Weiher, die ersten Frühlingsblumen auf den Wiesenflächen und bizarre Riesen, die mit ihren kahlen dunklen Äste einen zauberhaften Kontrast zu dem noch fahlen Morgenhimmel bildeten. Noch war es kühl, aber es störte mich nicht. Auf einer Bank sitzend, das Haus meiner Großeltern erblickend, kam ich wieder ins Träumen und sah beide vor mir.

Meine Großmutter klein, zierlich, flink und immer zu einer schnellen Antwort bereit. In meinen Kinderjahren ist sie einfach nicht älter geworden. Schwarze Haare bis in das hohe Alter, den üblichen schwarzen langen Rock mit einer Schürze darüber. Immer bereit zu helfen und zu geben, war sie als Mutter Gollnick bekannt. Sie hatte das Regiment im Haus, regierte wie ein Irrwisch und mein Großvater hinderte nicht ihr Temperament, ließ sie schalten und walten. Allerdings, wenn es ihm zu viel wurde, donnerte er los. Dann passte sein Paulinchen in ein Mauseloch, aber nur für zehn Minuten. Dann war sie wieder groß.

Meinen Großvater kenne ich nur gebückt gehend, im Gegensatz sehr ruhig und gutmütig. Ihm machte es nichts aus, dass die kleine fünfjährige Nachbarin ihm täglich die Haare kämmte, obwohl er gar keine mehr hatte. Zwei Erinnerungsstücke sind der Beweis seiner Geschicklichkeit: Nach 1945, als es nichts gab, bastelte er aus Aluminium einen Schöpflöffel, von dem ich mich trotz schönster Angebote nicht trennen kann. Und in meinem Keller steht noch seine alte Werkbank, die er selbst angefertigt hatte. Die Teile darauf sind noch funktionstüchtig. Er war als Dampfpflugmeister in dem damaligen Schloss I beschäftigt, war sehr gewissenhaft und bedächtig und hatte, wie man sagt „goldene Hände“.

Ich musste meine Träumereien abbrechen, denn es sollte ein langer Tag werden, schließlich gab es viel zu erkunden.

Nach einer gemütlichen Kaffeestunde war die Dorfkirche unser Ziel.

Schlicht und einfach, fast spartanisch, aber trotzdem hat jede Kirche ihr eigenes Gepräge. Vergangenes und Heutiges, Bekanntes und Neues verschmolzen in Erinnerungen. Geschichte pur. Und wieder gingen meine Gedanken zurück in meine Kindheit, die mich ständig auf Schritt und Tritt begleiteten. Diesmal Erinnerungen an meine Großeltern Görges. Als sie 1949 „Diamantene Hochzeit“ hatten, begann dieser Tag in der Kirche.

Ich sehe sie wieder vor mir.

Opa Görges im schwarzen Gehrock, hohem Zylinder und das Sträußchen der „Goldenen Hochzeit“ im Knopfloch. Meine Großmutter in einem alten, schwarzen kostbaren Taftkleid mit einem wunderschönen gestickten Einsatz, eine goldene Brosche am Kleid und dem goldenen Kränzchen im Haar, dazu ein langer bestickter Tüllschal, der noch heute in meinem Besitz ist, in den Händen, mit ebenfalls weißen Handschuhen, einen großen Chrysanthemenstrauß haltend.

Wie zur Hochzeit vor 60 Jahren schritt das Paar an erster Stelle, aber diesmal folgten die Familien der vier Söhne. Die Kirche war voll. Eine „Diamantene Hochzeit“ war damals nicht allzu oft. Sechzig Jahre sind eine lange Zeit und es ging nicht gerade ruhig in dem kleinen Haus zu. In der heutigen Zeit würden das die Jugendlichen als Zoff bezeichnen. Der Pfarrer, der erst kurz vorher in Erxleben das neue Amt angetreten hatte, war mit den Gepflogenheiten noch nicht so vertraut. Er gebrauchte die Sätze, wie friedlich und traut diese Ehe war und in der Gemeinsamkeit viel Friede und Freude bestanden hätte. Ich höre noch heute das schallende Gelächter in der Kirche.

Auch so können Erinnerungen sein.

Die nächste Station war das Pfarrhaus. Während meiner Kinderzeit hatte ich mich nie dorthin verirrt, ich hatte einfach keine Zeit und es auch gar nicht bemerkt. Es lag versteckt und gab keinen Anlass, etwas zu erkunden oder zu erleben. Die Schönheit erfasste mich erst in diesem Moment.

Es gibt viele Stellen und Details in Erxleben, die romantisch sind und Maleraugen anregen könnten. Vielleicht gehen auch viele daran vorbei, weil sie es ganz einfach gewöhnt sind und es für sie alltäglich ist. Aber wenn man aus unserem Zeitalter hierher kommt und dann diese Idylle sieht, kann man schon ins Schwärmen geraten. Gerade in unserer Zeit, wo alles modernisiert, so unpersönlich wird.

Das Pfarrhaus!

Hier ist die Zeit stehen geblieben und ich fühle mich in das Jahr 1800 versetzt. Kein lärmender Trubel. Stille! Ruhe und Beschaulichkeit! Friede! Eine Erholung für die Seele. Hier konnte man sie finden, konnte genießen, fernab vom Lärm und Trubel unserer Zeit.

Jedes Detail war ansehenswert.

Das alte Haus mit dem herrlichen Fachwerk, den blanken Scheiben mit luftigen weißen Gardinen. Die steinernen ausgetretenen Treppen, mit der schweren farbenfrohen Tür. Auf dem noch kahlen Spalier an der Hauswand lag die Frühlingssonne. Eingebettet in frühlingsgrünen Wiesen mit der bunten Vielfalt der Frühblüher ist das Pfarrhaus eine Idylle aus längst vergangener Zeit.

Ein romantischer Winkel, von der lärmenden Umwelt nichts zu spüren. Das schönste Fleckchen Erde, das ich in den letzten Jahren sah.

Auch die alte Schule, in der mein Vater seine Schulzeit verlebte, steht noch, aber ohne Kinderlachen und Toben. Sie genügt den heutigen Ansprüchen nicht mehr, aber dieses Gebäude hat Tradition und diese begann 1897. Wenn man bedenkt, dass 1916, als mein Vater sein erstes Schuljahr begann, 34 Kinder eingeschult wurden, kann man sich heute vorstellen, wie groß der Kindersegen in dieser Zeit war. Und dies war nur eine Klassenstufe!

Unser Weg führte zum Schloss II. Einst eine holprige, pfützige Dorfstraße, jetzt eine saubere gepflegte Fahrbahn mit einer Promenade. Vor uns liegt Schloss II. Zu meiner Kinderzeit war dieses noch mit Efeu bewachsen und bot einen romantischen Anblick. Ich sah es als ein Märchenschloss.

Den Burggraben, der vor Jahren das Schloss umgab, kann man nur noch erahnen. Aber ein kleines, noch vorhandenes Gewässer lässt auch hier Erinnerungen wach werden. Heute ist das Wasser klar, aber damals war es eine dunkelgrüne, schwarzgraue Brühe.

Da Gänse und Enten das Gewässer bevölkerten und Pferde und Kühe Abkühlung suchten, sah die Oberfläche auch dementsprechend aus. Aber was kümmerte uns das alles. Wasser ist nass und im Sommer kühl erfrischend. Also rein in das kühle Nass! Zwischen Enten und Gänsen die brüllende und tobende Kinderschar. Sauber bin ich ins Wasser hinein! Aber wie kam ich heraus? Grau und schmutzig, mit Entenschlick und Federn an den Körperteilen, einen Gestank von Modder und Jauche verbreitend. Die heiße Sommersonne ließ alles am Körper trocknen, dies bildete eine undefinierbare Kruste. Noch war ich unbekümmert, bis ich vor meiner empörten Mutter stand. Sie hatte schon die Hand schlagbereit erhoben, aber da schritt mein sonst so ruhiger Großvater ein und rettete mich mit einem Donnerwetter seinerseits vor der Mutterwut. Ich kam mit einem Strahl kalter Dusche unter der Pumpe hockend glimpflich davon.

Die schönsten Augenblicke verbinden mich mit dem Park von Schloss II. Wenn auch verboten, aber heimlich machte es, wie so üblich, doch den meisten Spaß. Unbeobachtet von den Augen der Erwachsenen und geschützt von der unendlichen langen aber hohen Mauer, war das eine unserer liebsten Spielgelegenheiten. Mit seinem uralten herrlichen Baumbestand zog er uns immer wieder in seinen Bann. Bäume mit einem unwahrscheinlichen Umfang und mit dicken knorrigen Stämmen, deren schweren Äste bis zur Erde reichten, boten uns hinreichend Gelegenheit bis in halber Höhe nach oben zu klettern und uns zu verstecken. Die Schatten der Riesen verbreiteten eine geheimnisvolle Dunkelheit und Kühle.

Aber wo sind diese wunderbaren Bäume geblieben? Wo sind die weiten Wiesen mit den Veilchen und Schneeglöckchen?

Zwei, vielleicht auch drei dieser Riesen konnte ich im Hintergrund noch entdecken.

Schade!

Aber noch eine Enttäuschung erwartete mich. Der schöne urige Gasthof, damals ein Blickfang auf dem Markt, heute dem Verfall preisgegeben. Viele der ansehenswerten Kleinigkeiten, an die ich mich erinnere, sind nicht mehr zu erkennen. Damals wusste ich allerdings noch nicht, dass er einige hundert Jahre alt ist, aber ich muss es wohl geahnt haben. Ich kam bei meinen Streifzügen täglich an ihm vorbei und er regte meine von märchengeprägte Phantasie an. Für mich war er das „Wirtshaus im Spessart“.

 

Ich kann mich nicht erinnern, ob ich es wirklich gesehen habe, oder ob es Einbildung ist. Ich glaube jedenfalls, mich an eine dämmrige Gaststube mit schweren Tischen und Stühlen zu erinnern.

In meiner Phantasie, die der realen Geschichte wohl nicht entsprach, sah ich dunkle, düstere Gestalten sitzen, mit einem Krug vor sich und mit blanken Goldstücken bezahlend. Natürlich gab es auch Raufereien. Wie gesagt, kindliche und romantische Vorstellungen, geweckt durch eine geheimnisvolle Ausstrahlung, durch das interessante Gebälk und die kleinen Fensterscheiben, die mich faszinierten.

Eigentlich passt er nicht mehr in die gepflegte Dorfatmosphäre, obwohl er allein schon durch sein Baujahr 1676 historisch wertvoll und interessant ist und dadurch hierher gehört.

Vielleicht gibt es doch noch Rettung. Es wäre zu wünschen, wenn es der Gemeinde gelänge, dieses Kleinod, ein Denkmal der Vergangenheit mit seinem eigenen Charme zu erhalten.

Biegt man rechts von diesem Gasthof in eine Nebenstraße, kommt man am Friedhof vorbei und dann etwas außerhalb des Ortes zum damaligen Dreschplatz.

Sommerzeit – Erntezeit – schönste Ferienzeit. Unser Spielplatz war nun außerhalb des Ortes, wo einst Getreidefelder wogten, nun aber die riesige Dreschmaschine stand.

Diese, ein Riesenmonster in unseren Augen, verlangte von den Erwachsenen harten Körpereinsatz und äußerste Konzentration. Als Ergebnis spuckte die Maschine das Getreide in die Säcke und am anderen Ende riesengroße Strohballen aus. Eingehüllt in einer gold-flimmernden Staubwolke und Gerüchen nach frischem Stroh fühlten wir uns wohl, tobten und spielten bis zum späten Abend. Durch die heiße Sommersonne und den in die Haut eindringenden Staubwolken waren wir verschwitzt und verdreckt. Aber wen störte das schon? Damit endete unser Spieltrieb noch lange nicht. Aus den riesengroßen Strohballen entstanden durch geschicktes Aufschichten große Blöcke, fast so groß wie ein Haus, Diemen genannt.

Hier hielten wir uns stundenlang auf.

Ein Haus braucht Zimmer und diese bauten wir uns. Ausgestattet mit Brettern, Kisten und Lumpen gab es unendliche Spielmöglichkeiten und das für den ganzen Tag. Hatten wir Hunger und Durst, bedienten wir uns bei den Arbeitern. Wurstbrote und Milchkaffe aus einer Tonkruke waren immer für uns da.

Spiele auf und in der Dieme waren zwar strengstens verboten, daran hielten wir uns aber nicht. Diese Verbote kamen nicht von ungefähr. Die Hohlräume, die wir durch unsere Spielerei schufen, konnten nachrutschen und einstürzen und die darunter liegenden Kinder oder auch Erwachsene konnten in den seltensten Fällen gerettet werden.

Kamen wir am Abend total schmutzig und verschwitzt nach Hause, erfolgte die Grobreinigung mit einer Bürste unter der Pumpe, denn so viel Schmutzwasser konnten die damals kleinen Waschschüsseln nicht fassen. Dann erfolgte die Endreinigung mit warmen Wasser, Waschlappen und Seife. Meistens war es Kernseife oder aus Knochen vom geschlachteten Schwein ein hergestelltes seifiges Etwas. Zarten Seifenduft gab es nicht, aber wir waren wieder sauber. Wenigstens für eine Nacht.

Aber es gab auch noch ein anderes Vergnügen auf den abgeernteten Getreidefeldern. Im Nachhinein muss ich sagen, ein grausames Vergnügen.

In Grüppchen zogen wir auf die Stoppelfelder, bewaffnet mit Spaten, Säckchen und alten Taschen. Es ging auf Hamsterjagd. Diese Tiere waren allerdings auch ein Plage und richteten nicht unerhebliche Schäden an.

War ein Eingang zum Hamsterbau gefunden, waren bald die kunstvoll gebauten Vorratskammern, die durch Gänge miteinander verbundenen waren, freigelegt. Diese Höhlen waren voll mit Getreidekörnern, die dem Hamster als Wintervorrat dienten.

Diese schweißtreibenden Arbeiten führten die Jungen aus, dann kam der Schichtwechsel für die Mädchen. Taschen, Tüten und Säckchen wurden mit den gefundenen Körnern gefüllt. Es war wie in uralten Zeiten bei den Jägern und Sammlern. Wurden Hamsterlöcher gesichtet, erwachte der Jagdinstinkt bei den Jungen und sie gingen auf Jagd. Die erlegten Tiere wurden getötet. Da konnten allerdings die Mädchen nicht mit zusehen. Es war wohl zu viel für die zarten Gemüter, denn den Hamstern wurden die Felle abgezogen. Mir taten die Tiere leid und ich war manchmal den Tränen nahe. Das durfte ich aber nicht zeigen, dann wäre ich unweigerlich ausgelacht worden. Und ich wollte nicht von dieser unternehmungslustigen Truppe ausgeschlossen werden. Also musste ich, wie man heute sagt, „cool“ bleiben.

Die Felle verkauften die Jungen über die damals noch offene Grenze und wenn ich mich richtig erinnere, bekamen sie eine Mark pro Fell.

Denke ich allerdings an die nachfolgende Zeremonie, rebelliert noch heute mein Mageninhalt. Denn nach dem Abziehen der Felle, flackerte bald ein lustiges Feuerchen und auf Stöcken gepikst, wurde das Fleisch gebraten.

Es war nicht der Hunger, der zu diesem Erleben trieb. Nein, es war Neugier und Abenteuerlust. Denn in diesem Bördedorf litt wohl niemand Hunger. Alles, was Gärten und Ställe hergab, konnte für den Eigenbedarf verbraucht werden.

Heute wäre es rein ökologischer Anbau. Damals lebte man eben noch natürlicher und gesünder. Bei dem heutigen Streifzug durch Erxleben blieben immer wieder meine Augen an dem Haus hängen, in dem meine Großeltern Gollnick wohnten. Wie sieht es wohl heute im Hof aus? Was hat sich in den Jahren verändert? Und dann fasste ich Mut.

Junge Leute arbeiteten in der Hofeinfahrt. So ging ich hin und sagte mein Anliegen. Auf der einen Seite erschreckte mich der Anblick. Der Zahn der Zeit brachte die Stallungen und Scheune zum Einsturz und gab den Blick auf den großen Garten frei. Auf der anderen Seite bewunderte ich wiederum den Elan der jungen Leute, alles modern und wohnlich zu gestalten. Der Garten heute ein üppiges Grün an Sträuchern und Bäumen. Er war damals ein Obst- und Gemüsegarten mit einer langen Blumenrabatte. Meine Großmutter war Meisterin im Züchten von Chrysanthemen und diese in den vielfältigsten Farben. Im Herbst wurden sie Geburtstagsgeschenke. Umgepflanzt in einen Topf trug sie diese in einer Kiepe zu den Geburtstagskindern. Mit dieser Last ging sie, nein, sie trippelte mit flinken Schritten durchs Dorf und erfreute andere damit. Der Garten war für sie mit das Wichtigste. Obst, Gemüse oder Kartoffeln, sie versorgte, wie es damals üblich war, ihren Haushalt damit und legte Wintervorräte an. Einige Beerensträucher erntete sie nicht ab, denn diese waren für mich vorbehalten.

Abschluss des Gartens war eine Mauer mit einer Pforte, die an einem Feldweg lag und dieser wiederum war eine Abkürzung zum Friedhof. Die Mauer war an dieser Stelle ca. 1,50 bis 1,70 m hoch. Meine Großmutter wollte zum Friedhof und vergaß den Schlüssel zur Pforte. Ich sagte schon einmal, sie war unkompliziert. Oma raffte den langen Rock hoch und kletterte mit ihren 81 Jahren über die Mauer, verlor dabei einen Pantoffel, kletterte wieder zurück, holte ihn und dann wieder über die Mauer. Der Pfarrer beobachtete das und vorwurfsvoll: „Aber Mutter Gollnick, sie in ihrem Alter!“. Schlagfertig und resolut: „Soll ich vielleicht auch noch den Schlüssel holen?“ Um das abzurunden: Bei uns stieg sie mit 86 Jahren noch durch ein Fenster.

Auch das Klohäuschen war nicht mehr da. Bei uns sagt man „Schißhuis“ oder „Oapträät“ (Abtritt) dazu. Wir haben hier eine undefinierbare und unaussprechliche Vokalisierung in unserer Mundart. Eigentlich gehört es sich nicht, über dieses Thema zu sprechen (so die Erziehungsregeln meiner Mutter), aber es gehört zu meinen Kindheitserlebnissen und außerdem ist es geschichtlich interessant. Und das waren für mich Erlebnisse, denn ich war ein Bad und Wasserspülung gewöhnt. Für mich war diese Angelegenheit fast ein Schritt ins Mittelalter. Und wo gibt es denn diese kleinen Etablissements heute noch?

Der Standart dieser Häuschen bestand darin: eine Sitzgelegenheit, kleine aus Zeitung geschnittne Zettel an einem Fleischerhaken (man konnte sogar Ausschnitte aus den Groschenromanen lesen und mit Phantasie das Ende selbst bestimmen). In der Tür war meistens ein Herzchen. Ich frage mich heute, wieso eigentlich ein Herzchen? Das reichte bestimmt nicht als Dunstabzug. Doch auch diese Häuschen unterschieden sich, besonders bei den beiden Großeltern. Bei Gollnicks war es stabil aus Holz gebaut. Im Winter sogar ein bisschen warm und man konnte bequem die Zeitungsausschnitte studieren. Anders bei den Großeltern Görges. Dieses Häuschen, windschief und einsturzgefährdet, war aus Stein mit breiten Ritzen, durch die der Wind auf der einen Seite hereinpfiff und auf der anderen Seite wieder heraus. Da verging die Lust auf eine längere Sitzungsdauer. Außerdem musste damit gerechnet werden, dass man jeden Moment unfreiwillig im Freien saß, denn die Tür hing auch gerade noch so in den Angeln. Mich wunderte nur eines dabei, dass bei strengstem Frost weder bei meinen Großeltern noch bei deren vier Söhne gesundheitliche Probleme auftauchten. Ein Rätsel oder Abhärtung!

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