Böser die Glocken nie klingen

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Böser die Glocken nie klingen
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karo ♦ weihnachtskrimis – band 2

Böser die Glocken nie klingen

Fünfzehn Berliner Weihnachtskrimis

edition ♦ karo, Berlin 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter www.dnb.d-nb.de abrufbar.

Böser die Glocken nie klingen. Berliner Weihnachtskrimis

karo ♦ weihnachtskrimis, band 2

Überarbeitete 2. Auflage 2016, © edition ♦ karo

Foto Titelseite: © Kathrin39, © gromush, Fotolia.de

E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH 2016

1. Auflage 2008, © edition ♦ karo

Literaturverlag Josefine Rosalski, Berlin

www.edition-karo.de

Alle Rechte der Verbreitung und Übersetzung, auch durch öffentlichen Vortrag, Funk, Fernsehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger jeder Art und auszugsweisen Nachdruck, vorbehalten.

ISBN 978-3-945961-60-5

»Man ist kein Künstler, wenn nicht

ein großes Unglück mit im Spiele ist.«

aus Der Seiltänzer von Jean Genet

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Zitat

Vorwort

Katharina Joanowitsch

Zuckersüß

Manfred Bohn

Stromtod

Brigitte Hähnel

Suse und die sieben Särge

Petra Nouns

Be Berlin

Michael von Swiontek

Oh! Tannenbaum!

Heike Reiter

Frösche singen keine Weihnachtslieder

André Hau

Die Heimsuchung

Tanja Dückers

Mehdorns Mind Miliz

Regine Kölpin

… wenn die letzte Kerze brennt

Nora Lachmann

Fürchtet euch nicht!

Sunil Mann

Der Pfefferkuchenmann

Gitta Mikati

Alt Tegel, Endstation!

Amrei Thieß

Der Jäger von Köpenick

Angelika Neuhaus-Röhreke

Also ehrlich!

Simone Knierim

KaDeWe, juchhe!

Die Autoren und Autorinnen

Weitere Bücher

Vorweihnachtliches Wort

Ist Ihnen in der wohligsüßen, lichterkettenfunkelnden Vorweihnachtszeit zuweilen auch nach Gräuel, Barbarei und Ruchlosigkeit und zumute? – Möchten Sie sich dann in grimmiger Ungeduld befreien von den unerträglich lockenden Dominosteinen und dem rücksichtslos friedvollen Adventskranz auf dem Familientisch?

Reizvolle Zerstreuung finden Sie mit unseren Berliner Weihnachtskrimis bei Meuchelmord und Grausamkeiten, kaltblütigen Plänen und unerwartet gefährlichen Liebesgaben und anderen Naschereien.

Fünfzehn Autorinnen und Autoren haben für Sie auch in diesem Jahr wieder einen der ihren ins Jenseits befördert.

Böser die Glocken nie klingen ist eine Sammlung von spannenden und manchmal skurrilen Kriminalgeschichten, die nicht ohne ein Augenzwinkern davon erzählen, was einem alles zustoßen kann, wenn man mit seinen Liebsten Weihnachten feiert.

Atemlos und angstvoll geht es dabei quer durch Berlin in prächtig geschmückte herrschaftliche Häuser, in Hinterhöfe voller Gestank und Geschrei, und tief hinein in die anonyme Welt nüchterner Plattenbauten und Wohnsilos. Überall lauern Schrecken und Abscheulichkeiten.

Das Familientreffen im Lichterglanz überstehen nicht alle!

Und böse klingen die Glocken!

Katharina Joanowitsch
Zuckersüß

Sein Geburtsdatum ist ihm heilig, warum wirkt es heute bedeutender als sonst?

Dreiundzwanzigster, Dresselstraße 3, 9:00 Uhr

Sachte lehnt Herlind ihre Stirn an die Fensterscheibe. Warm wie ein Hefekloß quillt eine Rührung in ihr auf. Ihr langes Starren auf die endlosen rot-weißen Lichterketten des Stadtring-Verkehrs unter ihrem Fenster, auf das wachturmartige Gebäude des RBB und den im Dunst seiner Spitze beraubten Funkturm hat die erlösende Idee gebracht: das Geschenk für Frau Kesserowja.

»Everything must change« – summend wendet sie sich vom Fenster ab, durchstöbert ihre Vorräte und trägt auf einem Zettel die fehlenden Teile zusammen: Puderzucker (zwei Pakete), Mehl, Eier, Lebensmittelfarbe, Zitrone und zwei Tiefkühlmenüs für die Feiertage. Aus dem Unterschrank der Spüle zieht sie hinter Putzmitteln ein verstaubtes Schraubglas hervor. Es ist gut dreiviertel voll.

Herlind wirft sich Schal und Mantel um und eilt die fünf Stockwerke hinunter. Quer über die Straße, vorbei am noch leeren Dresseleck, durch die Spiegelgasse, in der die Fassaden wie taub über die dicht geparkten Autodächer hinweg in die donnernde Schlucht des Stadtrings lauschen. Im »nah und gut«-Markt Ecke Neue Kantstraße herrscht hektisches Treiben, unverkaufte Geschenkkörbe verstopfen die schmalen Gänge vor der Kasse. Herlind findet alles außer Lebensmittelfarbe.

Ihr alter Schultuschkasten wird reichen.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 1. Stock, 9:30 Uhr

Schwerfällig stützt sich Marja auf das Fensterbrett. Den See kann sie vom Fenster nicht wirklich sehen, doch ihre Augen übersehen die blauweiß karierte Hotelfassade vom Seehof samt monströser Eingangsüberdachung und stellen sich eine weiße Wasserfläche vor – es könnte winterliches Eis sein – doch sind es gerade mal drei Grad plus, wie die dauermuntere Stimme auf RBB verkündet. Aus der Haltung der wenigen Fußgänger liest Marja schaudernd: kalt, nass, böig. Ächzend beugt sie sich zu Rudolf herunter und krault seinen grauen Kopf. Das Tier hebt den Blick, stumm schauen sie sich an. Im Vormittagsgrau wirkt sein alter Doggenschädel wie versteinert. Aus den Wänden treten die weißen Tutus auf den Fotografien als schwebende Zeichen hervor: Erinnerungen an ihre Ballettzeit. Dieser grazile Schnörkel – natürlich Schwanensee – war einmal sie gewesen, Marja Kesserowja mit Oleg Bischoff, ihrem langjährigen Partner … vorbei. Oleg – inzwischen das krümelige Innere einer Urne in »Luise II« … vorbei! Vorbei die Zeit, als sie noch Ballett und Choreographie unterrichtete. Die einstmals eiserne Disziplin reicht gerade noch für ihre täglichen Gänge mit Rudolf. Inzwischen ist ihr Kosmos auf drei Wesen geschrumpft: Rudolf, Hausarzt Dr. Kröger und Herlind, die Fußpflegerin. Herlind kommt zwei-, dreimal im Monat und hat sich mit Sonderdiensten – einkaufen, putzen, Zusatzrunde mit Rudolf – unentbehrlich gemacht.

»So, mein Guter, dann wollen wir mal.«

Der Hund erhebt sich zögernd und schnauft ergeben, als Marja ihren Pelz umlegt.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 4. Stock, 10:00 Uhr

Klatt steht aufrecht vor dem Fenster. Missklang spürt er geradezu körperlich. Asymmetrie ist entschieden gegen sein Temperament. Geboren am 24. 12. 1948, Punkt 12 : 48 Uhr. Von seiner Mutter erinnert er sich nur an zwei Augen von überirdischem Blau, von seinem Vater an einen kratzenden Backenbart, beide Eltern früh gestorben. Seine Anzüge sind zweireihig. Seine Wohnung gleicht einer peniblen Versuchsanordnung. Aus Pralinenschachteln isst Klatt nach symmetrischen Prinzipien. Seinem Beruf als Ober ist das dienlich. Kein Tisch ist so akkurat eingedeckt wie seiner, keiner serviert mit so abgezirkelten Gesten. Klatt lebt nach einem klaren Tagesplan, der erfordert jetzt: Gang an die frische Luft. Sorgfältig schließt er seine Tür zu-auf-zu-auf-zu, steigt innerlich zählend die Stufen herab.

Die weihnachtlichen Gestecke im ersten Stock sind Klatt ein Gräuel. Bei jedem Vorbeigehen jucken seine Hände in den Manteltaschen. Sieben leuchtende Kugeln im Tannengrün bei Nummer vier und fünf bei Nummer sechs. Und diese Farben! Teure Sitzungen haben Klatt dazu gebracht, seinen Drang in der Öffentlichkeit zu beherrschen. Heute zuckt seine Hand hervor, zerrt eine der sieben Kugeln aus dem Grün, vier Schritte, schon fädelt er rechts die Schlaufe über einen Zweig.

 

Völlig entspannt verlässt Klatt das Haus.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer, 10:30 Uhr

Heute nur die kleine Runde. Nur einmal bis zum Monolith – so nennt Marja bei sich den Turm der St. Canisius – dann um das Rondell zu ihrer geliebten Skulptur »Versuch einer Balance«, runter zum Seeufer und zurück. Dieses müde Schleppen durch den Tag mit dem ebenso müden einzigen Gefährten Rudolf, das nennt sie nicht mehr Leben. Eigentlich will sie nichts lieber als tot sein. Der Gedanke kreist ständig in ihr, unversehens drängte er sich auf ihre Lippen, als die Fußpflegerin letzte Woche vor ihr hockte.

»Ich will nicht mehr!«

Die arme Herlind war ordentlich zusammengezuckt und hatte wie abwesend das Öl in die empfindliche Nagelmatrix massiert, die ungläubigen Augen auf Marja gerichtet.

»Wie könnte ich Ihnen nur helfen!?«

Mitleidig klang das, aber auch ratlos.

Dreiundzwanzigster, Dresselstraße 3, 11:00 Uhr

Summend häuft Herlind alle Zutaten in die Schüssel, drückt Margarine in die Mitte. Bevor sie das Schraubglas öffnet, hält sie inne. Mit ansteigendem Kribbeln spürt sie das Gewicht der Entscheidung. Ja oder nein?

Ja! sie fügt einen gehäuften Esslöffel hinzu, streift Latex-Handschuhe über und knetet alles zu einer Kugel.

Aus dem ausgerollten Teig sticht sie trällernd Herz, Stern, Glocke in emsiger Folge, bis ein Blech dicht belegt ist … hinein in den Ofen damit.

Nun die Glasur. Im Nu saugt der Puderhaufen Zitronensaft und Rum auf, zerfließt sämig. Herlind stippt hinein, erschauert. Noch kann sie naschen. Am Finger saugend schaut sie durch die mit Tropfen übersprenkelten Scheiben auf das schlammgraue Dach des S-Bahnhäuschens Witzleben. Herrmann! Wie der Kekse liebte, wie der futtern konnte, wie der die »Tulpen« kippte, wie lustig der war! Und das bei dem Beruf: Kammerjäger. Im Keller hier in der »Charlotte« hatten sie sich kennen gelernt, als er Rattenköder ausgelegt hatte (mit weißen Handschuhen!). Eine heftige Zeit folgte – im Dresseleck schlug oft die Lokalrundenglocke – bis Herrmann die Kellertreppe hinabstürzte, sich den biervernebelten Kopf zerschmetterte. Von der Herrmann-Zeit blieb Herlind das gefüllte Schraubglas mit seiner Beschriftung: Brodifacoum, darüber ein naiv gemalter Knochenkopf.

Herlind schüttet das weißliche Pulver in die Glasur. Im Tuschkasten mischt sie Rot mit etwas Wasser an und lässt Tropfen der Farbe ins Weiß fallen. Wie Blutgerinnsel schlängeln sich Adern durch die Zuckermasse. Verrührt ergibt sich leuchtendes Rosé. Der Küchenwecker schnarrt. Herlind holt das Blech aus dem Backofen und streicht den Guss auf die duftenden Kuchenleiber. In wenigen Stunden wird die Glasur zu einer schimmernden Kruste erstarrt sein.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 1. Stock, 18 : 00 Uhr

Herlind prüft mit der Hand die Wärme des Fußbades. Sie hat beschlossen, Frau Kesserowja das Päckchen erst zum Abschied zu übergeben. Im Zimmer hat sie Kerzen verteilt und Tannengrün in einer Bodenvase dekoriert. Eine Fichte, zierlich genug für die Kommode, hat sie mit Strohsternen und Kugeln behängt und eine Miniaturlichterkette hineingeflochten.

»So, bitte einsteigen!« Mit einladender Geste weist Herlind auf die dampfende Schüssel, die sie vor den geblümten Ohrensessel geschoben hat. Frau Kesserowja hilft beidhändig ihren geschwollenen Beinen und lässt die Füße aufstöhnend ins Wasser platschen. Rudolf, der daneben lagert, jault beleidigt auf. Er hasst dieses Fräsen und Schneiden, dieses Schmirgeln und Raspeln. Das Schlimmste kommt zum Schluss, das Eincremen mit der nach Eukalyptus stinkenden Salbe.

»Wie gemütlich Sie meine Wohnung gemacht haben, Herlind. Sie sind mein Engel.«

Die Belobte senkt ihre Lider über einer zarten Wangenröte.

»Oh, ich helfe gerne.«

Als sie sich im Flur verabschieden – zum ersten Mal umarmt Frau Kesserowja sie innig – nimmt Herlind das Päckchen doch unauffällig mit sich. Draußen an der kalten Luft besinnt sie sich, kehrt um, öffnet leise die Eingangstür mit dem Schlüssel-für-alle-Fälle, schleicht die Treppe hoch und lehnt ihr Geschenk vor die Tür.

Dreiundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 4. Stock, 23:30 Uhr

Sorgfältig schließt Klatt seine Tür zu-auf-zu-auf-zu, steigt innerlich zählend die Stufen herab. Das Flurlicht ähnelt seiner Wohnungsbeleuchtung, nicht schummrig, sondern kühl ausleuchtend. Als er in den ersten Stock einbiegt, sticht ihm das grässliche Pink in die Augen. Ausgerechnet unter der durch Tannengrün und knallige Kugeln bereits so überladenen Tür liegt ein Päckchen mit glänzender Beschriftung, ohne Adresse und Absender. Ein unbekömmliches Duftgemisch aus Tosca und nassem Hund, das wie durch Poren aus der Wohnung dringt, lässt ihn schaudern. Wie in Trance sieht er sich das störende Päckchen fortnehmen. Akkurat liegt es plötzlich vor der mittleren Wohnung. Völlig entspannt verlässt Klatt das Haus.

Vierundzwanzigster, Lietzenseeufer, 0:30 Uhr

Gähnend schließt Thorben seinen Wagen ab und blickt an der Hausfassade empor. Nur im vierten Stock ein kühles Lichtquadrat – dort müsste der Klatt wohnen, der Letzte, dem er sich noch nicht vorgestellt hat. Vor seiner Wohnungstür bückt er sich überrascht zu seiner Fußmatte.

Johann war hier? Thorben schnuppert, ein mit duftendem Nagellack beschriftetes Päckchen: »Fröhliche Weihnachten und alles Liebe«. Zu müde, es zu öffnen, sinkt er auf seine Couch und überlässt sich dem Nachhall des Autobahnrauschens.

Erst am Morgen erwachend, hält er immer noch das Päckchen. Er dreht es verliebt in den Händen, was für eine hübsche Schrift. Mit wohligem Schauer denkt er an Johanns feingliedrige Finger, zupft die Schleife auf und entfaltet die Verpackung. Wie süß: Kekse, mit rosa Zuckerguss, verführerisch duftend. Nach dem Besuch bei seiner Mutter fühlt er sich wie immer überfüttert, doch ein Verzehr dieser Kekse ist ja – gewissermaßen – ein Liebesdienst.

Vierundzwanzigster, Lietzenseeufer 1, 4. Stock, 12:30

Klatt prüft eingehend sein Spiegelbild. Ein Herr von heute sechzig Jahren. Stahlblaue Augen, kein Bart. Würde ihm ein Backenbart stehen? Klatt blickt auf die Uhr, noch eine Viertelstunde bis 12:48 Uhr. Sein Geburtsdatum ist ihm heilig, warum wirkt es heute bedeutender als sonst? Sein Dienst beginnt erst um 15 Uhr, vorher will er wie gewohnt den diesseitigen Lietzensee umrunden. Klatt schließt seine Tür zu-auf-zu-auf-zu und steigt innerlich zählend die Stockwerke herunter. Im ersten öffnet sich die mittlere Tür, als habe jemand sein Herabsteigen erwartet.

»Fröhliche Weihnachten!«, ruft ihm ein junger Mann entgegen. Klatt wirft einen Blick aufs Klingelschild: Th. Grunwald. Er räuspert sich: »Äh, ebenfalls fröhliche Weihnachten, Herr Grunwald.«

»Ich bin der neue Mieter. Nennen Sie mich ruhig Thorben. Darf ich Sie auf einen Likör hereinbitten? Herr Klatt, nicht wahr?« Thorben strahlt so hinreißend, dass Klatt durch die offen gehaltene Tür in die überraschend bonbonfarbene Wohnung tritt.

»Äh, wenn Sie vielleicht – etwas anderes? Von Likör – äh – wird mir immer leicht übel«, bemerkt Klatt. Der Jüngere reicht ihm ein gut geschenktes Glas.

»Ein Grappa Fragolino. Wollen Sie sich nicht setzen?«

Sie prosten sich zu. Klatts Blick fällt auf eine Schale voller pinkfarbener Kekse. Eilfertig schiebt Thorben die Schale näher.

»Bitte, greifen Sie zu. Damit hat mich mein Freund Johann überrascht. Der Schelm hat das Päckchen einfach vor die Tür gelegt, ist das nicht reizend?«

»Ach – ja?«, sagt Klatt und nimmt sich verlegen ein Zuckerherz.

»Johann ist so geschickt mit seinen Händen, nun kann er auch noch backen«, Thorben kichert albern in sein Likörglas.

»Ach ja?«, wiederholt Klatt schwach, öffnet den obersten Knopf hinterm Schlips und greift nach einem zweiten Zuckerstern.

»Die schmecken irgendwie – apart«, Klatt tupft einen auf den Glastisch gefallenen Krümel auf. Er blickt beiläufig auf die Uhr und erhebt sich. 12:46 Uhr.

»In genau zwei Minuten werde ich sechzig Jahre gelebt haben! Wohl sein, Herr Grunwald, äh, Thorben!«

»Oh, was für ein Datum, Herr Klatt.«

»Äh – Otto.«

Thorben füllt erneut ihre Gläser. »Also Otto, trinken wir auf das Leben, trinken wir auf die Liebe, trinken wir auf uns!«

Während sie andächtig ihre Gläser leeren, hören sie im Flur Rudolf bellen. Er klingt erkältet.

»Die alte Frau Kessedingsda. Wenn die von ihrem Spaziergang zurück ist, bring ich ihr eine Schale rüber. Ihr Hund ist ganz wild auf Kekse.«

Klatt verabschiedet sich mit schlaffem Händedruck. Dieser mittägliche Grappa hat ihn ziemlich aus dem Takt gebracht.

Vierundzwanzigster, Lietzenseepromenade, 13:00 Uhr

Herlind geht durch die Riehlstraße unter den seltsam beschnittenen Platanen zur Uferpromenade. Sie malt sich aus, wie Frau Kesserowja das Paket entdeckt, wie Rudolf an der Schleife zerrt, wie er seine gelben Zähne in die Pappe haut, wie ihre rote Pracht herauspurzelt. Sie wärmt sich an der Vorstellung, wie beide an den zuckrigen Herzen, Sternen, Glocken knabbern, wie sie niedersinken; Frau Kesserowja in ihren geblümten Ohrensessel, Rudolf auf den Perser ihr zu Füßen.

Herlind tritt ans Ufer und lässt ihren Blick schweifen. Durch den klaren Spiegel des Sees ruckt emsig eine Ente und zieht ein lang gezogenes V hinter sich her. Sie wird sich nur das Bargeld nehmen, und vielleicht noch das Schwanensee-Tutu, das Frau Kesserowja in einem Hutkoffer aufbewahrt. Wer sollte es auch erben? Da gibt es niemanden, und schließlich hat sie sich doch wirklich gekümmert. Herlind atmet tief ein. Wie friedlich der Lietzensee daliegt. Nur der nackte Bronzejüngling schaut so traurig und blind wie immer zum anderen Ufer. Schon der dritte Jogger mit Weihnachtsmannmütze und dort – ihr entfährt ein kleiner Schrei – dort ist Frau Kesserowja! Und Rudolf!

»Wie geht es Ihnen?«, ruft Herlind ihr entgegenstürzend zu.

»Gut, Kindchen. Sogar sehr gut. Sie haben wohl heilende Hände.«

»Aber haben Sie denn, haben Sie denn nicht, ich wollte doch nur …«

»Aber Kindchen, was ist denn mit Ihnen? Mir geht es bestens«, versichert Marja und schließt das schlotternde Geschöpf in ihre Arme.

Am jenseitigen Ufer scheucht das Blaulicht eines Krankenwagens einen Menschenauflauf auseinander wie einen Schwarm schwarzer Raben. Zwei Männer stürzen heraus und verschwinden mit einer Tragbahre im Haus Nummer eins, Lietzenseeufer. Es ist 13.28 Uhr.

Manfred Bohn
Stromtod

Hier läuft kein Spielfilm. Mach du Untersuchungen, und ich mache Ermittlungen.«

Nur die nötigsten Untersuchungen sollte ich machen, und »Leichen gehen vor«, hatte mein Chef noch gesagt, bevor er mir ein frohes Fest wünschte.

An diesem Morgen, einen Tag vor Heiligabend, saß ich alleine im Elektrolabor der Kriminaltechnik. Die Kollegen waren schon im Weihnachtsurlaub. Der Espresso dampfte, die Zeitung lag bereit. Der erste Anruf störte: Hansen von Direktion 5VB.

»Stromtod Badewanne, einer Frau ist der Haartrockner reingefallen, alles sauber, kannst im Smoking kommen. Neukölln, Richardplatz 4, bei Herzog.«

Es klang gut, was Hansen sonst noch gesagt hatte: geheizte Wohnung, kein Leichengeruch. Die Tote war sofort gefunden worden. Die üblichen Messungen sollten durchgeführt werden.

Wir waren vor dem Haus verabredet. Ein renoviertes Mietshaus mit neuer Fassade, die Elektroinstallation schien in Ordnung zu sein, vermutlich schnelle Arbeit für mich.

Ein mittelgroßer Mann in Strickweste, Stoffhose und hellroten Lederpantoffeln öffnete die Tür.

»Herzog mein Name, ich bin … ich war der Ehemann.«

Er zeigte mir das Bad, die Steckdose und den Stromkreisverteiler in der Abstellkammer. Keine Spur von Trauer. Neben der Tür zur Abstellkammer stand eine Vitrine mit Modelleisenbahnen, Spur H0, E-Loks, nur Schweizer Bundesbahnen. Schöne Stücke.

Ich konzentrierte mich auf meine Arbeit, während sich Hansen im Wohnzimmer von Herzog die Angewohnheit seiner verstorbenen Frau, sich in der Wanne die Haare zu trocknen, erklären ließ. Hansen stellte keine weiteren Fragen.

»Die Wanne ist in den Potenzialausgleich einbezogen, die Steckdose ist technisch in Ordnung, ein Fehlerstromschutzschalter ist nicht vorgeschrieben …«, das würde später in meinem Bericht stehen und als Ergebnis: »… somit ist ein Stromtod technisch möglich.« Routine.

 

Ich stand mit Hansen wieder auf der Straße. »Alles in Ordnung, einwandfreie Messergebnisse, aber …«, ich zögerte, »der Typ lügt doch. Der will uns verscheißern.«

Hansen zuckte mit den Schultern. »Ich glaube auch, dass er lügt, aber: Reingeworfener oder reingefallener Haartrockner, wer kann das schon wissen?«

Ich sah ihn an: »Messen kann ich’s nicht, aber wie wär’s mit ermitteln?«

Hansen wandte sich zum Gehen.

»Ich werde mich noch ein bisschen umhören, viel wird es sowieso nicht bringen. Na denn, hoffentlich erst im nächsten Jahr, guten Rutsch und tschüss.«

Im Elektrolabor stellte ich fest, dass ich meinen Messadapter in der Wohnung vergessen hatte. Ärgerlich! Das Ding war nicht teuer, aber nur mit Beschaffungsantrag, Begründung und drei Kopien zu bekommen.

Ich untersuchte erst mal den Haartrockner, im Untersuchungsantrag »Fön« genannt. Nichts Besonderes. Hatte offensichtlich im Wasser gelegen. Leichte Korrosionsspuren an den Metallteilen, die Flusen im Innern verklumpt.

Sollte ich jetzt den Adapter abholen? Eigentlich hatte ich gleich Feierabend, aber ich würde der lästigen Weihnachtshektik zu Hause noch ein wenig entgehen, wenn ich einen Umweg über den Richardplatz machte.

Herr Herzog hielt den Adapter schon in der Hand, als er die Tür öffnete. Mein Blick fiel auf die Vitrine mit den Modellbahnen. Ich hatte früher auch gesammelt – Deutschland 50er Jahre.

»Ist das etwa eine 3151? So eine habe ich bisher nur im Katalog gesehen.«

Herzog strahlte: »Ja! Eine 3151 der SBB in braun! Mein bestes Stück! Schon als Kind war ich total verrückt nach Modellbahnen, las alle Kataloge und Prospekte. Meine Eltern hatten absolut kein Verständnis.«

Ich fühlte mit ihm und vergaß, wie ich ihn noch vor ein paar Stunden verdächtigt hatte.

»Einmal hatte ich auf das Märklin-Krokodil gespart«, erzählte er. »Kostete damals 120 DM. In den Ferien hatte ich bei Schultheiß Flaschen gewaschen und bei Rot-Weiß Tennisbälle gesammelt. Alles kam aufs Sparbuch. Und dann? Meine Eltern hoben das Geld ab und kauften mir einen neuen Schrank. Einen Schrank!«

Er beruhigte sich wieder, als er verträumt die Vitrinen ansah. »Erst als Erwachsener konnte ich Geld für Modellbahnen ausgegeben. Und demnächst kommt endlich das Märklin-Krokodil von 1952 dazu! Mein Kindheitstraum …«, abrupt brach sein Redefluss ab. Er schaute mich an und stellte sich wie schützend vor die Vitrine. Mein Verdacht war sofort wieder da.

Er nötigte mich zur Tür: »Ich muss noch dringend weg, Ihren Adapter haben sie«.

Als er das Haus verließ und in einen Opel Ascona stieg, saß ich bereits in meinem Auto. Ohne sich umzusehen, fuhr er los, und ich tat etwas, das ich bisher nur im Krimi gesehen hatte. Ich folgte ihm. Er fuhr nicht weit. In der Weisestraße fand er einen Parkplatz. Ich auch. Er klingelte an einem Mietshaus und verschwand im Hausflur. Ich konnte noch sehen, wie er im Erdgeschoss rechts eine Wohnung betrat. An den Fenstern waren nur Stores vorgezogen. Er stand im beleuchteten Zimmer und stritt heftig mit einer Frau, die ich nur von hinten sah. Als er ging, rief sie ihm im Hausflur hinterher: »Lassen Sie mich in Ruhe!«

Vor sich hin schimpfend ging Herzog, ohne mich zu sehen, an mir vorbei.

Da musste Hansen ran. Gleich morgens!

Es war ruhig am Morgen des 24. Dezembers. Mein Espresso war noch heiß, als ich mit Hansen telefonierte.

»Wenn du meinst, dass es so wichtig ist, dann komm rüber«, sagte er und schien genervt.

Ich fuhr die zwei Kilometer vom LKA-Neubau am Tempelhofer Damm zur Friesenstraße ins Backsteinensemble.

»Seine Frau stirbt, und am nächsten Abend streitet er mit einer anderen? Das ist schon verdächtig!«

Hansen lachte. »Du weißt aber schon, dass du nach der StPO als Sachverständiger nicht ermitteln darfst. Du bist sowieso auf dem Holzweg. Gestern habe ich noch den Hausmeister befragt, mit dem Herzog ab und an ein Bier trinkt. Ja, er hat mal erwähnt, seine Frau würde sich in der Badewanne die Haare trocknen. Da ist doch alles stimmig.«

»Stimmig konstruiert«, sagte ich.

Hansen wurde unwirsch: »Also gut, ich werde mich noch beim zuständigen Revier nach ihm erkundigen. Du kannst mich in einer Stunde abholen, dann fahren wir in die Weisestraße zu der Frau, mit der er sich gestritten hat. Zufrieden?«

Mir blieb Zeit für ein paar Einkäufe in der Marheinicke-Halle gleich um die Ecke. Schließlich war Heiligabend.

Es war nicht mehr viel Verkehr, als ich mit Hansen nach Neukölln in die Weisestraße fuhr. Bei Karstadt am Hermannplatz wurden die letzten Kunden rausgelassen.

Eine kleine Frau in Jogginghose und Parka öffnete die Tür.

Als sie den Dienstausweis sah, zuckte sie. »Ja, gestern Abend war dieser Herzog hier. Er wollte eine Lok bei mir kaufen. Den ganzen Ramsch von meinem verstorbenen Mann hab’ ich schätzen lassen und annonciert. Dieser Herzog wollte unbedingt ein bestimmtes seltenes E-Lok-Modell der Firma Märklin. Krokodil nannte er es. Ich wollte 2800 Euro dafür haben, es war auf über 3000 geschätzt. Herzog war mehrmals da. Ich sollte es zurücklegen, bis er das Geld hat. Vor drei Tagen hab ich’s einer Frau verkauft, die zahlte bar. Und: Wer zahlt, bekommt’s. Gestern kam dann Herzog. Getobt hat er. Die Lok war für mich reserviert! schrie er. Vertragsbruch! Aufgeführt wie ein Irrer hat er sich.«

Ich musste erst mal meinen Espresso haben. Hansen war mehr für ein Bier im Bienenkorb in der Hermannstraße gleich um die Ecke. Das Bier dort war das Beste, weil es Tag und Nacht pausenlos gezapft wurde.

Im Bienenkorb verzichtete ich auf das, was sich dort Kaffee nannte. Mein Mineralwasser war eine selten bestellte Spezialität.

Auf dem Tresen stand ein geschmückter Plastikbaum. Ein Paar stritt sich laut. Sie schlug ihm ins Gesicht. Dann küssten sie sich.

Hansen war sauer. Er wollte den Vorgang abschließen.

»Fehlschuss, mein lieber Kollege, nix mit anderen Frauen. Auch auf dem Revier habe ich nichts in Erfahrung gebracht. Die Herzogs haben noch vor einem Jahr im Horstweg in Charlottenburg gewohnt. Vollkommen unauffällig. Du siehst Gespenster.«

»Horstweg? Da war ich doch bei einem Suizid in der Badewanne und habe die Messungen durchgeführt. Die Verstorbene war unheilbar krank gewesen. Die Wohnung war nicht beschlagnahmt, der Schlüssel beim Nachbarn hinterlegt. Diese hellroten Lederpantoffeln! Die hatte ich damals schon bei dem Nachbarn gesehen. Der Nachbar war Herzog! Er hatte sich den Ablauf und den Zweck der Messungen erklären lassen. Scherzhaft hatte ich ihm von der Möglichkeit einer billigen Scheidung mit Wanne und Haartrockner erzählt. Unfall, Selbstmord, Mord – keine Chance, das nachzuweisen.«

»Blödsinn«, sagte Hansen. Er wollte die Mordkommission nicht einschalten. »Die lachen uns nur aus. Selbst wenn du recht hättest, wo ist das Motiv? Jetzt trenn dich endlich von deiner fixen Idee. Hier läuft kein Spielfilm. Mach du Untersuchungen, und ich mache Ermittlungen.«

Ich wollte nicht aufgeben. Noch nicht. »Lass uns noch einmal unter einem Vorwand zu Herzog fahren. Sag ihm, dass ich ihn vom Horstweg kenne. Vielleicht kommt was dabei raus.«

Hansen seufzte. »Na gut, weil Weihnachten ist, aber dann gib endlich Ruhe.«

Ach ja, Heiligabend. Ich hatte mir schon immer gewünscht, an diesem Tag dienstlich unterwegs zu sein. Meine Frau würde mit ihrer Mutter erst mal alleine feiern. »Ich muss nur noch zu Hause anrufen!«

Hansen trank sein Bier aus und ließ mich zahlen.

Inzwischen hatte in vielen Wohnungen schon das Licht gewechselt. Die Weihnachtsbäume waren beleuchtet. Im Treppenhaus am Richardplatz hörten wir Weihnachtslieder.

Herr Herzog öffnete uns die Tür. Es schaute ins Leere und schien sich über unseren Besuch nicht zu wundern. Wir gingen ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand das Modell einer E-Lok. Das Krokodil. Ich erkannte es sofort. Daneben lag zerknülltes Weihnachtspapier. Hansen wollte etwas sagen. Herzog winkte ab. Er setzte sich auf die Couch, sank in sich zusammen. Mehrmals bewegte er die Lippen, bevor er sprechen konnte.

»Wer zahlt, bekommt’s!«

Er nahm die Lok zärtlich in die Hände. »Ich hab’s nicht gewusst! Letzte Woche sah ich die Anzeige einer Frau Repp. Sie löste eine Sammlung auf. Im Angebot war auch das Krokodil, genau das hier. Nicht mehr für 120 DM wie damals, sondern jetzt für 2800 Euro. Viel Geld! Soviel hatte ich nicht. Trotzdem! Ich musste es haben!« Herzog streckte uns die Lok entgegen.

»Meine Frau hatte doch diese Erbschaft gemacht. Fast 12 000 Euro! Ich hab sie angefleht, mir etwas abzugeben, wenigstens zu leihen. Sie wollte alles für Reisen ausgeben. Natürlich waren wir bisher nie verreist. Blödsinn. Vorgestern hat sie mir Reiseprospekte gezeigt, mich spöttisch angesehen und von einer Bahnreise in die Schweiz, zum Gotthard geschwärmt. Da fahren deine E-Loks im Original! Später hat sie aus der Badewanne gerufen: Wir könnten gleich nach Weihnachten fahren. Vielleicht sehen wir ein Krokodil. Schallend hat sie gelacht. Ausgelacht hat sie mich! Ich weiß nicht mehr, wie ich den Fön aus dem Schrank geholt, eingesteckt, in die Badewanne geworfen habe …«

Er hielt die Lok immer noch in den Händen, strich mit den Fingerkuppen über die Metallgussteile und berührte sanft die Stromabnehmer.

»Frau Repp wollte das Krokodil noch ein paar Tage für mich zurücklegen. Hat sie gesagt. Versprochen hat sie es. Jetzt hatte ich das Geld. Und dann das: Wer zahlt, bekommt’s!«

Er starrte auf die Lok. »Und heute finde ich im Schrank ein verpacktes Geschenk. Meine Frau hat es für mich gekauft. Das Krokodil. Für mich. Zu Weihnachten.«

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