Fortschritt als moderne Ideologie

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Fortschritt als moderne Ideologie
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Hans Schümann

FORTSCHRITT

ALS MODERNE

IDEOLOGIE

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2018

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2018) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte beim Autor

Titelbild © bint87

Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

I. Vorwort

II. Die maßlose Moderne – Über Fortschritt und Modernisierung

Das Fortschrittsdenken im Einzelnen

Bemerkungen zum Wandel vom Mittelalter zur Moderne

Die Moderne ab dem 19. Jahrhundert

Was ist Bewusstsein?

Hat sich die Menschheit verbessert?

Evolutionäre Grundlagen, Religion und Fortschritt

III. Narrenlärm– Eine Kulturkritik inspiriert von Sebastian Brants „Narrenschiff“, mit Anmerkungen zum Flüchtlingszustrom im Jahr 2015

Ein kurzer Rückblick

Der Aufstieg des linken und grünen Narrentypus

Das linke und grüne Narrentreiben weckt seine rechte Kehrseite

IV. Ein skeptisch heiterer Zukunftsentwurf

V. Griechenland – Hybris oder Schmierenkomödie? Der moderne Extremismus

I. Vorwort

Die hier zusammengeführten Texte sind in den Jahren 2014 und 2015 entstanden. Sie wurden auf meiner Webseite www.hanschuemann.de veröffentlicht und später überarbeitet. Es sind Versuche, die gängigen Vorstellungen vom Fortschritt, der Verbesserung und der Humanisierung aus einer skeptischen Sicht zu beurteilen, die heutigen politischen Verhältnisse eingeschlossen. Die Texte thematisieren langfristige Entwicklungen und haben ihre Aktualität bewahrt.

Es ist offensichtlich, dass wir seit Jahrmillionen eine evolutionäre Entwicklung durchlaufen. Wir schreiten als Einzelne und Familien, Kulturen und Staatengebilde in raumzeitlichen Verhältnissen fort, beginnend in archaischen Gruppen und Stämmen hin zu den hochkomplexen Strukturen heutiger Nationen und Weltorganisationen. Jedoch ist dieses Fortschreiten nicht mit der gängigen Vorstellung vom „Fortschritt“ zu verwechseln, die im 19. und 20. Jahrhundert zur Ideologie wurde und weiterhin dominiert. Marktwirtschaftlich-liberale, sozialdemokratische, grüne und christlich orientierte Parteien bedienen sich des Fortschrittskonzeptes ebenso wie marxistische. Mörderische sozialistische Diktaturen deklarierten sich als ein großes Fortschrittsprojekt.

Ein gutes, gelingendes Leben orientiert sich daher an der Befreiung von Illusionen. Eine Skepsis gegenüber den Fortschrittsverheißungen der Parteien, der politischen Elite und einiger Religionen ist die Folge. Die Texte dieses Buches betonen das in der antiken Philosophie zentrale Motiv der „Sorge um sich“, der Weisheit und Selbsterkenntnis, die ein Annehmen der unbewussten und bewussten Anteile der Persönlichkeit ist. Ein maßvolles Verhalten des Einzelnen und dessen Eigenverantwortlichkeit gehören dazu ebenso, wie die Distanz gegenüber politischen Massenbewegungen. Dem widerspricht nicht, dass Leben ein langer Lernprozess ist und wir in der Jugend und im mittleren Alter zahlreichen Illusionen erlegen sein können. Aus durchlebten Illusionen entsteht Reifung.

Der erste Text, „Die maßlose Moderne – Über Fortschritt und Modernisierung“, ist im Herbst 2015 entstanden. Er sucht die Wirren heutiger Politik, Ökonomie und Kultur aus den ihnen zugrunde liegenden Vorstellungen und historischen Entwicklungen zu betrachten. Überlegungen zum Bewusstsein und zu unseren evolutionären Prägungen fließen ein.

Der unter III. veröffentlichte Text „Narrenlärm – Eine Kulturkritik inspiriert von Sebastian Brants ‚Narrenschiff‘, mit Anmerkungen zum Flüchtlingszustrom im Jahr 2015“ entstand im Spätsommer jenes Jahres. Ausgehend von den europäischen Extremen, die im 20. Jahrhundert zwischen radikalem Nationalismus und marxistischem Internationalismus pendelten, ist es ein Kommentar zur politischen Wirrnis der deutschen Regierung im Jahr 2015. Die Hybris der radikalen Grenzöffnung und der hunderttausendfachen Rechtsbeugung durch die unterlassenen Identitätskontrollen führten zu einem monatelangen Staatsversagen, einer weiterhin andauernden Vertrauenskrise und einer Verschärfung der gesellschaftlichen Spaltung.

Der dritte Text, „Ein skeptisch heiterer Zukunftsentwurf“, entstand im Sommer 2014, ausgelöst durch die sich verschärfende Konfrontation des Westens mit Russland, dem so wiederbelebten Kalten Krieg und der Gefahr eines Nuklearkrieges. Er hat an Aktualität gewonnen durch die sich zuspitzenden politischen Ereignisse. Ein weiterer völkerrechtswidriger Angriff der USA, Englands und Frankreichs auf das mit Russland verbündete syrische Regime erfolgte ohne Absprachen im UN-Sicherheitsrat. Wie vor dem Ersten Weltkrieg im Jahr 1914 leben wir in einer aufgeladenen Stimmung der Konfrontation und der Anschuldigungen. Geschürt wird sie von der seit Jahrzehnten auf Vorherrschaft und Dollar- Imperialismus gerichteten Politik der USA.

Der unter V. angeführte Text „Griechenland. Hybris oder Schmierenkomödie? Der moderne Extremismus“, ist im Sommer 2015 entstanden. Anlass war die Wahl der links-rechtsradikalen Regierung in Griechenland unter der Führung des linksextremen Demagogen Alexis Tsipras und die sich damit verschärfende Krise der Europäischen Union. Die hier gemachten Bemerkungen haben weiterhin Bedeutung, denn radikale Bewegungen erhalten in Europa wachsenden Zulauf. Zuletzt wurde bei dem G 20- Gipfel in Hamburg das Hassgeschrei zehntausender Linksextremisten wieder deutlich – unter ihnen die fanatischen Gewalttäter der „Antifaschisten“ und des „Schwarzen Blocks“, die ein weiteres Mal ihren Zerstörungswahn mit Brandstiftung und Plünderung auslebten.

II. Die maßlose Moderne – Über Fortschritt und Modernisierung

Wir alle schreiten von Geburt bis zum Tod durchs Leben fort, aber woher kommen wir und wohin gehen wir? Als Sterbliche gehen unsere letzten Schritte und Atemzüge ins Unbegreifbare. Bereits das sollte uns kritisch auf gängige Konzepte von Fortschritt und Modernisierung blicken lassen, damit an kollektive Glaubensmuster und Parteislogans nicht mehr gekettet. Richtet sich der Blick zudem auf die zyklischen Vorstellungen vom Leben, die im antiken Griechenland und, viel ausgeprägter, in den alten asiatischen Kulturen Chinas und Indiens wirkten, so wird deutlich, dass Fortschritt ein modernes, westliches Konzept ist. Dieses Konzept ist oft zu einer Obsession geworden und hat große Teile des Erdballs infiziert, beispielsweise auch die jetzige Diktatur in China, die seit der kommunistischen Machtergreifung von marxistischen Fortschrittsvorstellungen geprägt ist. China ist mittlerweile ein aggressivexpansives System mit imperialen Absichten, das heutige Indien erliegt der Fortschrittsideologie bisher großenteils nicht.

Als erstes sind die Begriffe Fortschritt, Entwicklung und Evolution auseinanderzuhalten. Wir Menschen haben uns evolutionär über Millionen von Jahren aus einer Affenart zu heutigen Bürgern von großen Staaten entwickelt. Dass unter raumzeitlichen Gegebenheiten steter Wandel stattfindet und technisches Wissen, sozialer Zusammenhalt, umfassende Systeme und differenzierte Rechtsverhältnisse sich entwickeln, ist offensichtlich. Entwicklung in diesem Sinne ist ein wertneutraler Begriff, insofern Pflanzen, Tiere und Menschen organische Prozesse durchlaufen und komplexe Strukturen bilden können. Ein hilfloses Baby reift sich zu einem selbstbewussten und kooperierenden Erwachsenen, ein Kulturraum wie Europa entwickelt sich zu einem Union unterschiedlicher Nationen.

 

Problematisch wird der Entwicklungsbegriff erst, wenn er mit der Fortschrittsvorstellung und dadurch mit einer Wertung verbunden wird. In einem linearen Konzept meint solche Wertung über Maßstäbe zu verfügen im Sinne von Mehr, Besser, Größer, Höher, Weiter, Schneller, Innovativer, Zukunftsorientierter. Daran werden dann sowohl Individuen als auch Gruppen und Länder gemessen. Diese Wertungen über Entwicklung beziehen sich auf technische Verbesserungen und ökonomische Daten, auf statistisch messbaren Bildungs-, Reichtums- und Wohlstandswachstum, auf militärische, kulturelle und religiöse Überlegenheit.

Vergleich und Unterscheidung, Wettbewerb und Konkurrenz sind im Alltag Teil des sozialen Lebens. Unsere Spezies hat von Anbeginn bis heute die wertenden Unterscheidungen und Abgrenzungen in „wir“ und „sie“ entwickelt, wir versus die anderen. Fremde Kulturen wurden entweder als unterlegen und geringwertig bezeichnet oder sie wurden für ihre Macht und den Wohlstand bewundert und imitiert oder ihr Wissen wurde übernommen und in die eigenen Gegebenheiten eingeflochten.

Diese Wertungen können sich in verschiedenen Konzepten niederschlagen. Eines davon ist das heutige Fortschrittskonzept, das sich auf dinglich greifbare und messbare Fakten beruft. Das Leben des Einzelnen, seine seelisch-geistige Entwicklung, seine Weisheit, innere Freude und Ruhe ist mit so einem Konzept jedoch ebenso wenig messbar wie die Reife und spirituelle Tiefe einer Kultur. Deutschland kann technisch und ökonomisch im Vergleich mit einem Himalaya Kleinstaat wie Bhutan innovativer sein, weiter, schneller oder höher im Sinne von Wohlstand, Macht und modernen Verkehrsmitteln, seelisch-geistig aber dumpfer, weil durch die Ideologie der Modernisierung, Globalisierung und offenen Grenzen verwirrt. Ein existentielles, anthropologisch fundiertes Wissen fehlt.

Sind Wandel und Entwicklung unbestreitbar, so werfen Vorstellungen von Fortschritt im Sinne von Mehr und Besser einen erdrückenden Schleier über das Eigentliche des Lebens. Erstens verdecken sie unsere evolutionäre Herkunft, die genetisch und seelisch in uns gespeichert ist. Sie enthält Prägungen aus Jahrzehntausenden eines natureingebundenen Lebens in überschaubaren, auf Vertrauensbindungen beruhenden Strukturen.

Heute dagegen leben Viele in Millionenstädten oder gar Moloch-Megacities, zusammengeballt in Reihen von Blocks und Stahlbetonhochhäusern, einander oftmals fremd. Der Zug zur Verstädterung setzt sich fort, angetrieben durch das explosive Weltbevölkerungswachstum und Migrationsströme. Enorme Spannungen entstehen zudem, wenn Asyl-Zuwanderer mit gänzlich anderen kulturellen Prägungen in kurzer Zeit unkontrolliert zu Millionen ins Land gelassen werden.

Zweitens ist der Lebensstil der heutigen Massenkultur gekennzeichnet durch Konsum, Events und starke Stimulation. Oft wird er als progressiv und modern bezeichnet, beispielsweise wenn Zehntausende auf Demonstrationen Parolen schreien oder als Kultur-Konsumenten in einer Halle bei extrem lauter Musik und Kunstlicht aneinander gedrängt stehen.

Die heutigen Fortschrittsvorstellungen verdrängen somit existentiell wesentliche Erfahrungen der stillen, leiblichen Präsenz und intuitiven Erkenntnis, der inneren Ruhe und Kontemplation, die in der antiken Philosophie als Seelenruhe bezeichnet wurden und der Kultivierung von Weisheit dienten. Es sind Erfahrungen, die von zeitlosen Augenblicken geprägt sind, jenseits von Vergangenheit und Zukunft, Alt oder Neu, Mehr oder Weniger, Erregend oder Langweilig. Sie waren vor 2500 Jahren in Griechenland, Indien oder China ebenso möglich wie heute und sind an „Progressivität“ nicht gebunden.

Der Fortschrittsdrang ist ein Gefangen-Sein in dualistischen Weltbildern, ein laufendes Vergleichen mit den Kriterien Besser oder Schlechter, Vorwärts oder Rückwärts. Das Tradierte und Gegebene wird abgewertet, weil es nur eine vorläufige Stufe auf dem Weg zu Neuem, Besserem und Globalem sei. Das Neue aber ist, sobald hergestellt, schon wieder veraltet und muss durch Neueres ersetzt werden. Ein solches Leben ist ein Verlust des Blickes aufs Wesentliche, gerade auch dort wo aufdringlich vom Guten, von Gott / Allah / heiliger Schrift / Wahrheit / Wohlstand / Gerechtigkeit / grünbunte Zukunft / Antirassismus / Welteinheit und Ähnlichem die Rede ist.

Das Fortschrittsdenken im Einzelnen

Dem Fortschrittskonzept liegen lineare geschichtliche Entwicklungsvorstellungen zugrunde – von einem Ausgangspunkt über die sichtbare Gegenwart gerichtet auf eine Zukunft. Im weitesten Sinne sind sie als ein gesetzlich ablaufender, planvoller Vorgang gedacht, der von religiösen oder technisch-ökonomisch-politischen Gesetzmäßigkeiten gelenkt auf ein Ziel zusteuert. Trotz wiederholter Kriege, Katastrophen, Revolutionen, Massenmorde, Krisen und Rückschläge: „Es geht voran“, „Es wird besser“, „Wir schaffen das“. Vom Ende her strahlt bereits das Licht des Guten, der großen Einheit und Freiheit (das christliche oder muslimische Paradies, die linke Utopie, der globale Weltmarkt, die Vereinigten Staaten von Europa, der freie Weltstaat ohne Grenzen, der Kommunismus…).

Die sich seit der Französischen Revolution von 1789 progressiv nennenden Kräfte sind daher bemüht, auf dem Weg des Fortschritts nicht nur zügig voranzukommen, sondern auch den geschichtlichen Prozess in diese Richtung zu beschleunigen. Als hinderlich auf diesem Weg gelten jene, die als Skeptiker, Pessimisten, Ungläubige, Konservative oder Reaktionäre bezeichnet werden, scheinen sie doch den Gang zum Höheren und Besseren aufzuhalten oder gar anzuhalten. Stillstand (der eine Fiktion ist, denn Leben ist Wandel) gilt den Progressiven als ein Gräuel, denn es soll vorangehen, gar dem glückverheißenden Licht einer Utopie entgegen. „Fortschritt ist die Verwirklichung von Utopien“, meinte im 19. Jahrhundert der Schriftsteller Oscar Wilde und sprach damit eine noch heute gängige Ansicht aus.

Im gewissen, noch keimhaften Sinne lag ein utopisches Licht schon dem frühen Christentum zugrunde, von Paulus auf eindringliche Weise verkündet. Mit der Geburt des Gottessohnes Jesu von Nazareth und seiner Wiederauferstehung von den Toten sei eine einmalige, entscheidende Wende eingetreten, nun stehe das in naher Zukunft kommende Himmelreich den Menschen offen. Durch die Bekehrung zu einem „neuen Menschen“ geworden, gehöre der Bekehrte bereits einer „neuen Weltordnung“ an, deren kommendes Heil sich dem Gläubigen bald vollends offenbaren werde.

Augustinus (354 – 430) vertiefte diese christliche Sicht und vermengte sie mit Elementen der Lehre Platons. Im Gegensatz zur antiken Auffassung sieht Augustinus die Menschheitsgeschichte aber nicht als einen ewigen Kreislauf der Wandlungen, sondern als geschichtlich einmaliges Geschehen von der Schöpfung bis zum letzten Gottesgericht. Vehement betont er das historisch einmalige Erscheinen des Gottessohnes und die Rolle der Kirche, ist sie doch die Mittlerin zwischen Gott und den Menschen. In Augustinus stark dualistischem Weltbild mit Höllenlehre und ewiger Verdammnis sind auf der einen Seite die von guten Engeln geschaffenen Menschen, erwählt in den Gottesstaat. Dem gegenüber stehen die von bösen Engeln Erschaffenen, die im irdischen Staat auf ewig zu Höllenstrafen verdammt sind. Martin Luther bekräftigt später diese Prädestinationslehre. Einige christliche Denker meinten gar zeitlich Genaueres zu wissen: Die Erde sei etwa 3600 vor Christus von Gott erschaffen worden und das Himmelreich stehe in einigen Jahrhunderten bevor!

Trotz des Wandels dieser Religion im Laufe der Säkularisierung wird der Glaube bis heute wiederholt, die Welt warte noch auf ihre Vollendung und Erlösung. Das Reich Gottes sei zwar durch dessen Sohn verkündet und die Kirche zur Botschafterin geschaffen worden, aber das Gute, das ganze Reich Gottes werde erst kommen. Hoffnungsvoll gelte es, auf „das Neue“ hinzuarbeiten.

Im Rahmen der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts entfalten sich aus dem linearen christlichen Entwicklungskonzept die europäischen Vorstellungen vom Fortschritt, nun jedoch auf wissenschaftliche, technische, kulturelle und soziale Vorgänge bezogen. Es sind französische und englische Denker der Aufklärung, die erstmals Gedanken zum Fortschritt formulieren. Anfangs sind es Erwartungen einer Verbesserung der sozialen Verhältnisse, später werden die Vorstellungen verallgemeinert auf alle Ausdrucksformen menschlicher Aktivität.

Die seit Ende des 17. Jahrhunderts entwickelten empirischen Forschungsmethoden und der enorme Zuwachs an technischen Neuerungen wie auch an Wohlstand und damit an Kunst haben großen Anteil an der Entfaltung dieses Konzeptes. Vor allem mit Beginn der industriellen Revolution in England ab 1780 und den folgenden politischen Umwälzungen in Europa und Amerika ergreift der Fortschrittsgedanke die gesamte westliche Kultur.

Gedacht wird die Entwicklung zum Besseren als ein Lösen vom Naturzustand, eine Befreiung aus einem bloß naturhaften Dasein, denn der Mensch sei kein Teil der Natur, sondern dieser überlegen. Ist in der Bibel bereits niedergelegt, er solle sich die Erde Untertan machen, so gehe es nun darum die Natur planvoll den eigenen Zwecken und Zielen gemäß zu unterwerfen und zu formen. Mit der Eroberung und Ausplünderung Amerikas ab 1492 wurden bereits die der Natur angepasst lebenden Indios und später die nordamerikanischen Indianer als primitive Wilde bezeichnet. Sie galten als einfältig, zurückgeblieben und abergläubisch, gewissermaßen Vorstufen des eigentlichen, christlich europäischen Menschen. Der Europäer hingegen entfalte seine über die Natur hinausgehende, menschlich göttliche Kultur, die Indianer seien daher zu vertreiben. Millionen von ihnen fielen einer Ausrottung zum Opfer, die durchaus als ein Genozid bezeichnet werden kann. (Dazu sind Passagen des ausgezeichneten Werks des amerikanischen Evolutionsbiologen Jared Diamond „Der dritte Schimpanse. Evolution und Zukunft des Menschen“, empfehlenswert)

Bemerkungen zum Wandel vom Mittelalter zur Moderne

Ein entscheidender Faktor europäischer Wandlung ist die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Metalllettern in Deutschland in der Zeit des Übergang vom Mittelalter zur frühen Neuzeit. Damit wird eine enorme Veränderung der Kommunikationsformen und der Wissensvermittlung möglich, ähnlich der des heutigen Computer- und Internetzeitalters. Mit dem Buchdruck können Inhalte schnell verbreitet werden, die zuvor in überlegter Anordnung linear aneinandergereiht werden. Das rationale Montageverfahren aus standardisierten Einzelteilen nimmt im Keim moderne industrielle Prozesse vorweg.

War im Mittelalter ein Großteil der Bevölkerung ungebildet, Kulturvermittlung also mündlich, so ist zur Zeit der Erfindung des Buchdruckes durch Johannes Gutenberg um 1450 mit dem wachsenden Stadtbürgertum eine begüterte und bildungshungrige Schicht entstanden. Deren Interessen werden durch den Buchdruck geweckt, was wiederum zur Vermehrung von Wissen beiträgt. Einige Jahrzehnte später geht mit der Reformation, der Bibelübersetzung Luthers und seiner Forderung, jeder Christ solle die Bibel eigenständig lesen, eine starke Bewegung zur Alphabetisierung von Deutschland aus. Sie ergreift zuerst den protestantischen Raum, später ganz Europa und leitet damit in einem positiven Sinne den europäischen Wandel ein. Schon das Lesen eines Buches und damit die private Konzentration auf einen Text bewirkt eine zunehmende Individualisierung, im Unterschied zu den Formen der Kommunikation in mündlichen Kulturen.

Zusätzlich gewinnt im Bürgertum ab dem 16. Jahrhundert die Privatsphäre eine wachsende Bedeutung. Die Möglichkeit, einen ganz eigenen Raum im Haus zu haben, andere dabei auszuschließen, gibt die Gelegenheit zu stiller Lektüre und zur Selbstreflexion. Ebenso breitet sich ab dem 18. Jahrhundert zunehmend der Gedanke der Ehe als eines auf Liebe beruhenden Bundes zwischen zwei gleichberechtigten, freien Individuen aus. Diese Liebesbindung ist eine der wichtigen menschlichen Wandlungen und eine Freiheitsgrundlage unserer heutigen Entwicklung, die einer zweckgerichteten patriarchalen Eheform widerspricht und zum Abstreifen patriarchaler Unterdrückung führt.

Ein entscheidender Durchbruch gelingt den europäischen Kulturen durch die kritisch prüfenden empirischen Untersuchungsmethoden. Durch sie ist es möglich, Hypothesen messbar und damit nachprüfbar zu machen oder zu widerlegen. Physikalische Theorien über Zusammenhänge der materiellen Welt, über Magnetismus, Elektrizität, Schwerkraft und die Umlaufbahnen der Planeten weichen den alten, spekulativen Weltbildern.

 

Im Verbund mit einer analytisch rationalen Wissenshandhabung und dem kritischen Prüfen bisheriger Ansichten, Glaubensinhalte und sozialer Regeln entstehen damit die Voraussetzungen für die Wandlungsprozesse hin zur Moderne. Weltbeherrschende technische Neuerungen gelingen vor allem in der Militärtechnologie, der Nautik und Seeschifffahrt. Es sind die europäischen Handels- und Kriegsflotten, schließlich vor allem die Überlegenheit der englischen Marine, die Europa und besonders England für einige Jahrhunderte die Weltherrschaft bringen.

Die aggressive westliche Politik der Eroberung und der Kolonisierung anderer Kontinente wäre ohne die militärische Überlegenheit nicht möglich gewesen. Andererseits hat sich jedoch erst mit der europäischen Kolonisierung das technische, medizinische, ökonomische und administrative Wissen, vor allem aber die Alphabetisierung der Bevölkerungsmehrheit über den Planeten ausgebreitet. Dieser große Wandel in Richtung Allgemeinbildung und wachsender produktiver Fähigkeiten ist die Gegengabe der westlichen Kulturen, er hat die geistige Unabhängigkeit breiter Schichten und die nationale Eigenständigkeit zahlreicher Länder erst ermöglicht.

Das mit der Aufklärung entstehende neue rationale und mechanische Weltbild ist ohne eine entschiedene Kritik an der Religion und der zentralistischen autoritären Herrschaft der Kirche nicht denkbar. Die Befreiung aus den Fesseln unhinterfragter kollektiver Glaubensmuster – in sozialistischen Diktaturen und im strenggläubigen Islam noch heute sichtbar – ist eine der Grundlagen von Freiheit. Einer der einflussreichen Denker der Aufklärung ist der kirchenkritische Schriftsteller Voltaire, der die Vorstellungen über religiöse Toleranz, Gewissensfreiheit und politische Gleichheit als einer der Ersten zusammenfasst.

René Descartes – ein Denker und Mathematiker, der wichtige Impulse für die neuzeitliche Entwicklung gibt – formuliert im 17. Jahrhundert entscheidende Grundlagen der modernen Vorstellungen. Fortschritt ist nun die Geschichte der operativen Vernunft und der rationalen Fähigkeiten. Menschliche Handlungen sollen durch Zweck und Optimierung gekennzeichnet sein, das Leben sei eine große Entfaltung der Vernunft.

Descartes spricht der Natur dabei jegliches Bewusstsein ab, damit auch die Lebendigkeit und Subjektivität. Tiere sind ihm geistlose mechanische Apparate, einzig dem Menschen komme Bewusstsein zu, vorgestellt als eine innere, emotionslose und körperlose Welt rein geistiger Vernunftakte, eine Sphäre des Erkennens von Ideen. Von der res cogitans genannten Vernunft-Realität trennt er die res extensa, die äußere Realität der ausgedehnten materiellen Objekte, scharf ab. Nur das denkende Ich und ein übernatürlicher Gott sind diesem dualistischen Weltbild gewiss. Denken und das erkennende Ich werden in gegenständlicher Weise als eine Sache, ein Ding gesehen, das liegt bereits im Begriff res, vom dem Realität abgeleitet ist. Die räumliche Welt und organische Natur – damit auch der menschliche Körper – werden zu mathematischen Messgrößen, ein letztlich unkörperlicher Geist ist Lenker des Geschehens.

Isaac Newton, der wohl großartigste Denker und Mathematiker der Aufklärung, entwickelt die Lehre der Schwerkraft. Sein Gesetz der Gravitation postuliert einheitliche Gesetzmäßigkeiten für den gesamten Kosmos. Im Unterschied zur spekulativen Physik von Descartes geben sie der exakten Wissenschaft eine entscheidende Grundlage und Verallgemeinerung. Sie verfestigen zugleich aber die Vorstellung, der Kosmos gleiche einem nach mechanischen Kräften kausal funktionierenden Apparat, dessen Abläufe durch wenige Gesetzmäßigkeiten, ausgedrückt in mathematischen Formeln, zu erklären seien. Bewegt sei er von einer Kraft, die sich in Druck, Anziehung und Abstoßung zeigt, dabei zeitlich vorwärts gerichtet, ähnlich einem Uhrwerk.

Von den nachfolgenden Denkern werden dieser Kraftbegriff, die Kausalität und die zeitliche Gerichtetheit zunehmend zum wesentlichen Prinzip der materiellen und geistigen Geschehnisse erhoben. Der Raumvorstellung – reduziert auf mathematische Maße und mechanische Abläufe – entzieht man so zentrale Momente gelebter Erfahrung durch menschliches Gespür und Gefühl. Die noch in der Antike geltende Vorstellung einer umfassenden, göttlich organischen Ordnung, zu der Koinzidenzen, sinnvolle Zufälle gehören, wird ab dem 18. und 19. Jahrhundert als „mythisch“ verworfen.

Mit den erhellenden Seiten der Aufklärung, der Entfaltung von kritischer Vernunft, dem eigenständigen Denken, den neuen Techniken und der Industrialisierung gehen somit zunehmend starke Schatten einher, eine Verdunklung und Sichtverengung. Die antike Philosophie und noch die mittelalterlich christliche und neuzeitliche Mystik strebten durch die Kultivierung eines kontemplativen Lebens Seelenruhe, Gelassenheit und eine Wertschätzung des Gegebenen an, eingebettet in ein naturverbundenes Leben. Gemäß dem neuzeitlich rationalen Weltbild ist das Dasein hingegen auf Bemächtigung, Entdeckung und Zuwachs gerichtet.

Für diese Sichtweise des Nutzbringenden ist die Natur nur eine Fundstätte voller Rohmaterialien, sie gilt es planvoll zu verarbeiten und gewinnbringend auf dem Markt zu verkaufen. Die zuvor oft als bedrohlich betrachtete Natur soll den eigenen Zwecken unterworfen werden, eine planvolle Ökonomie und ein materialistisches Weltbild treten zunehmend an die Stelle früherer, noch religiös geprägter Vorstellungen. Der Erdboden und der Acker werden im 20. Jahrhundert schließlich durch den Großindustriellen Landbau und den Einsatz von Insektiziden und Pestiziden in bloße Ausbeutungsobjekte verwandelt.

Wurde die Zeitvorstellung jahrtausendelang wahrgenommen innerhalb von zyklischen Naturvorgängen, so werden ihr mit der Verbreitung der mechanischen Uhr und der Industrialisierung durch immer genauere Einteilungen und durch die Mathematisierung die Natur- und Leibbezüge genommen. Zeit gilt nun als ein genau strukturierter, zielgerichteter Prozess, den es im eigenen Interesse zu nutzen gilt. Die Maxime „Zeit ist Geld“ etabliert sich.

Für den sich herausbildenden Kaufmanns-, Markt- und Industrie-Kapitalismus bringt das moderne Zeitkonzept enorme Vorteile, alle Lebens-, Arbeits- und Handelsgeschehnisse können genau geplant und berechnet werden. Noch vor der Dampfmaschine als Energie- und Geschwindigkeitserzeugerin der beginnenden Moderne ist die Uhr der zentrale technische Apparat der Neuzeit. Mit dem Beginn der industriellen Revolution im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts wird es dann zunehmend wichtig, pünktlich wie ein Uhrwerk zu funktionieren, müssen die Maschinen doch in genauem Takt bedient werden.

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