Hans Fallada – Gesammelte Werke

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Hans Fallada – Gesammelte Werke
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Hans Fallada

Gesammelte Werke

Hans Fallada

Gesammelte Werke

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2020

2. Auflage, ISBN 978-3-962813-59-8

null-papier.de/581


null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

Je­der stirbt für sich al­lein

Der Trin­ker

Wer ein­mal aus dem Blech­napf frisst

Ein Mann will nach oben

Klei­ner Mann – was nun?

Der ei­ser­ne Gu­stav

Bau­ern, Bon­zen und Bom­ben

Wolf un­ter Wöl­fen

An­ton und Ger­da

Der Alp­druck

Der jun­ge Goe­de­schal

Jun­ger Herr - ganz groß

Li­te­ra­tur­ver­zeich­nis

In­dex

Dan­ke

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Jeder stirbt für sich allein

Vorwort des Verfassers

Die Ge­scheh­nis­se die­ses Bu­ches fol­gen in großen Zü­gen Ak­ten der Ge­sta­po1 über die il­le­ga­le Tä­tig­keit ei­nes Ber­li­ner Ar­bei­ter-Ehe­paa­res wäh­rend der Jah­re 1940 bis 1942. Nur in großen Zü­gen – ein Ro­man hat ei­ge­ne Ge­set­ze und kann nicht in al­lem der Wirk­lich­keit fol­gen. Da­rum hat es der Ver­fas­ser auch ver­mie­den, Authen­ti­sches über das Pri­vat­le­ben die­ser bei­den Men­schen zu er­fah­ren: er muss­te sie so schil­dern, wie sie ihm vor Au­gen stan­den. Sie sind also zwei Ge­stal­ten der Fan­ta­sie, wie auch alle an­de­ren Fi­gu­ren die­ses Ro­mans frei er­fun­den sind. Trotz­dem glaubt der Ver­fas­ser an »die in­ne­re Wahr­heit« des Er­zähl­ten, wenn auch man­che Ein­zel­heit den tat­säch­li­chen Ver­hält­nis­sen nicht ganz ent­spricht.

Man­cher Le­ser wird fin­den, dass in die­sem Bu­che reich­lich viel ge­quält und ge­stor­ben wird. Der Ver­fas­ser ge­stat­tet sich, dar­auf auf­merk­sam zu ma­chen, dass in die­sem Bu­che fast aus­schließ­lich von Men­schen die Rede ist, die ge­gen das Hit­ler­re­gime an­kämpf­ten, von ih­nen und ih­ren Ver­fol­gern. In die­sen Krei­sen wur­de in den Jah­ren 1940 bis 1942 und vor­her und nach­her ziem­lich viel ge­stor­ben. Etwa ein gu­tes Drit­tel die­ses Bu­ches spielt in Ge­fäng­nis­sen und Ir­ren­häu­sern, und auch in ih­nen war das Ster­ben sehr im Schwan­ge. Es hat dem Ver­fas­ser auch oft nicht ge­fal­len, ein so düs­te­res Ge­mäl­de zu ent­wer­fen, aber mehr Hel­lig­keit hät­te Lüge be­deu­tet.

Ber­lin, am 26. Ok­to­ber 1946

H. F.

1 Die Ge­hei­me Staats­po­li­zei, auch kurz Ge­sta­po ge­nannt, war ein kri­mi­nal­po­li­zei­li­cher Be­hör­den­ap­pa­rat und die Po­li­ti­sche Po­li­zei wäh­rend der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus von 1933 bis 1945. <<<

ERSTER TEIL – Die Quangels

1. Die Post bringt eine schlimme Nachricht

Die Brief­trä­ge­rin Eva Klu­ge steigt lang­sam die Stu­fen im Trep­pen­haus Ja­blons­ki­stra­ße 55 hoch. Sie ist nicht etwa des­halb so lang­sam, weil sie ihr Be­stell­gang so sehr er­mü­det hat, son­dern weil ei­ner je­ner Brie­fe in ih­rer Ta­sche steckt, die ab­zu­ge­ben sie hasst, und jetzt gleich, zwei Trep­pen hö­her, muss sie ihn bei Quan­gels ab­ge­ben. Die Frau lau­ert si­cher schon auf sie, seit über zwei Wo­chen schon lau­ert sie der Be­stel­le­rin auf, ob denn kein Feld­post­brief für sie da­bei sei.

Ehe die Brief­trä­ge­rin Klu­ge den Feld­post­brief in Schreib­ma­schi­nen­schrift ab­gibt, hat sie noch den Per­sickes in der Eta­ge den »Völ­ki­schen Beo­b­ach­ter«1 aus­zu­hän­di­gen. Per­si­cke ist Amts­wal­ter oder Po­li­ti­scher Lei­ter oder sonst was in der Par­tei – ob­wohl Eva Klu­ge, seit sie bei der Post ar­bei­tet, auch Par­tei­mit­glied ist, bringt sie alle die­se Äm­ter doch im­mer durch­ein­an­der. Je­den­falls muss man bei Per­sickes »Heil Hit­ler« grü­ßen und sich gut vor­se­hen mit dem, was man sagt. Das muss man frei­lich ei­gent­lich über­all, sel­ten mal ein Mensch, dem Eva Klu­ge sa­gen kann, was sie wirk­lich denkt. Sie ist gar nicht po­li­tisch in­ter­es­siert, sie ist ein­fach eine Frau, und als Frau fin­det sie, dass man Kin­der nicht dar­um in die Welt ge­setzt hat, dass sie tot­ge­schos­sen wer­den. Auch ein Haus­halt ohne Mann ist nichts wert, vor­läu­fig hat sie gar nichts mehr, we­der die bei­den Jun­gen noch den Mann noch den Haus­halt. Statt­des­sen hat sie den Mund zu hal­ten, sehr vor­sich­tig zu sein und ekel­haf­te Feld­post­brie­fe aus­zu­tra­gen, die nicht mit der Hand, son­dern mit der Ma­schi­ne ge­schrie­ben sind und als Ab­sen­der den Re­gi­ment­s­ad­ju­tan­ten nen­nen.

Sie klin­gelt bei Per­sickes, sagt »Heil Hit­ler!« und gibt dem al­ten Sauf­kopp sei­nen »Völ­ki­schen«. Er hat auf dem Rockaufschlag schon das Par­tei- und das Ho­heits­ab­zei­chen sit­zen – sie ver­gisst ewig, ihr Par­tei­ab­zei­chen an­zu­ste­cken – und fragt: »Wat jib­t’s denn Neu­et?«

Sie ant­wor­te vor­sich­tig: »Ich weiß doch nicht. Ich glau­be, Frank­reich hat ka­pi­tu­liert.« Und sie setzt rasch die Fra­ge hin­zu: »Ob bei den Quan­gels wohl ei­ner zu Hau­se ist?«

Per­si­cke ach­tet gar nicht auf ihre Fra­ge. Er reißt die Zei­tung aus­ein­an­der. »Da steht’s ja: Frank­reich ka­pi­tu­liert. Mensch, Frol­lein, und det sa­ren Se ee­nem so, als ob Se Schrip­pen va­koofen! Det müs­sen Se za­ckig her­aus­brin­gen! Det müs­sen Se je­dem sa­ren, bei dem Se kom­men, det über­zeugt noch die letz­ten Mecker­köp­pe! Der zwei­te Blitz­krieg, hät­ten wa ooch ge­schafft, und nu ab Tru­meau nach Eng­land! In ’nem Vier­tel­jahr sind die Tom­mys er­le­digt, und denn solls­te ma se­hen, wie un­ser Füh­rer uns le­ben lässt! Denn kön­nen die an­de­ren blu­ten, und wir sind die Her­ren der Welt! Komm rin, Mä­chen, trink ’nen Schnaps mit! Ama­lie, Erna, Au­gust, Adolf, Bal­dur – alle ran! Heu­te wird blau­ge­macht, heut wird kee­ne Ar­beet an­je­fasst! Heu­te be­gie­ßen wir uns mal die Nee­se, heu­te hat Frank­reich ka­pi­tu­liert, und heut Nach­mit­tag ge­hen wa val­leicht bei de olle Jüd­sche in de vier­te Eta­ge, und det Aas muss uns Kaf­fee und Ku­chen je­ben! Ick sare euch, die Olle muss jetzt, wo Frank­reich ooch am Bo­den liegt, jetzt ken­ne ick keen Abar­men mehr! Jetzt sind wa die Her­ren der Welt, und alle müs­sen ku­schen vor uns!«

Wäh­rend Herr Per­si­cke, von sei­ner Fa­mi­lie um­stan­den, sich in im­mer auf­ge­reg­te­ren Aus­füh­run­gen er­geht und die ers­ten Schnäp­se schon hin­ter die Bin­de zu gie­ßen be­ginnt, ist die Brief­trä­ge­rin längst in die Eta­ge dar­über hin­auf­ge­stie­gen und hat bei den Quan­gels ge­klin­gelt. Sie hält den Brief schon in der Hand, ist be­reit, so­fort wei­ter­zu­lau­fen. Aber sie hat Glück; nicht die Frau, die meist ein paar freund­li­che Wor­te mit ihr wech­selt, son­dern der Mann mit dem schar­fen, vo­ge­l­ähn­li­chen Ge­sicht, dem dünn­lip­pi­gen Mund und den kal­ten Au­gen öff­net ihr. Er nimmt wort­los den Brief aus ih­rer Hand und zieht ihr die Tür vor der Nase zu, als sei sie eine Die­bin, vor der man sich vor­zu­se­hen hat.

Aber Eva Klu­ge zuckt zu so was nur die Ach­seln und geht wie­der die Trep­pen hin­un­ter. Man­che Men­schen sind eben so; so­lan­ge sie die Post in der Ja­blons­ki­stra­ße aus­trägt, hat die­ser Mann noch nie ein ein­zi­ges Wort zu ihr ge­sagt, nicht ein­mal »Heil Hit­ler« oder »Gu­ten Tag«, trotz­dem auch er, wie sie weiß, einen Pos­ten in der Ar­beits­front2 hat. Nun, lass ihn, sie kann ihn nicht än­dern, hat sie doch nicht ein­mal den ei­ge­nen Mann än­dern kön­nen, der mit Knei­pen­sit­zen und mit Renn­wet­ten sein Geld ver­tut und der zu Haus nur dann auf­taucht, wenn er ganz ab­ge­brannt ist.

Bei den Per­sickes ha­ben sie in ih­rer Auf­re­gung die Fl­ur­tür of­fen­ge­las­sen, aus der Woh­nung klingt Glä­ser­ge­klirr und das Lär­men der Sie­ges­fei­er. Die Brief­trä­ge­rin zieht die Fl­ur­tür sach­te ins Schloss und steigt wei­ter hin­ab. Da­bei denkt sie, dass dies ei­gent­lich eine gute Nach­richt ist, denn durch die­sen ra­schen Sieg über Frank­reich wird der Frie­de nä­her ge­rückt. Dann kom­men die bei­den Jun­gen zu­rück, und sie kann ih­nen wie­der ein Heim schaf­fen.

Bei die­sen Hoff­nun­gen stört sie aber das un­ge­müt­li­che Ge­fühl, dass dann sol­che Leu­te wie die Per­sickes ganz oben­auf sein wer­den. Sol­che zu Her­ren ha­ben und im­mer den Mund hal­ten müs­sen und nie sa­gen dür­fen, wie ei­nem ums Herz ist, das scheint ihr auch nicht das Rich­ti­ge.

Flüch­tig denkt sie auch an den Mann mit dem kal­ten Gei­er­ge­sicht, dem sie eben den Feld­post­brief aus­ge­hän­digt hat und der dann wohl auch einen hö­he­ren Pos­ten in der Par­tei be­kom­men wird, und sie denkt an die alte Jü­din Ro­sen­thal, oben im vier­ten Stock, der die Ge­sta­po vor zwei Wo­chen den Mann weg­ge­holt hat. Die kann ei­nem leid­tun, die Frau. Ro­sent­hals ha­ben frü­her ein Wä­sche­ge­schäft an der Prenz­lau­er Al­lee ge­habt. Das ist dann ari­siert wor­den, und nun ha­ben sie den Mann weg­ge­holt, der nicht weit von sieb­zig ab sein kann. Was Bö­ses ge­tan ha­ben die bei­den al­ten Leu­te si­cher nie je­man­dem, aber im­mer an­ge­schrie­ben, auch für die Eva Klu­ge, wenn mal kein Geld für Kin­der­wä­sche da war, und schlech­ter oder teu­rer als in an­de­ren Ge­schäf­ten war die Ware bei Ro­sent­hals auch nicht. Nein, es will nicht in den Kopf von Frau Eva Klu­ge, dass so ein Mann wie der Ro­sen­thal schlech­ter sein soll als die Per­sickes, bloß weil er ein Jude ist. Und nun sitzt die alte Frau da oben in der Woh­nung mut­ter­see­len­al­lein und traut sich nicht mehr auf die Stra­ße. Erst wenn es dun­kel ge­wor­den ist, macht sie mit dem Ju­dens­tern ihre Ein­käu­fe, wahr­schein­lich hun­gert sie. Nein, denkt Eva Klu­ge, und wenn wir zehn­mal über Frank­reich ge­siegt ha­ben, ge­recht geht es nicht bei uns zu …

 

Da­mit ist sie in das nächs­te Haus ge­kom­men und setzt dort ih­ren Be­stell­gang fort.

Der Werk­meis­ter Otto Quan­gel ist un­ter­des mit dem Feld­post­brief in die Stu­be ge­kom­men und hat ihn auf die Näh­ma­schi­ne ge­legt. »Da!«, sagt er nur. Er lässt ihr stets das Vor­recht, die­se Brie­fe zu öff­nen, weiß er doch, wie sehr sie an ih­rem ein­zi­gen Soh­ne Otto hängt. Nun steht er ihr ge­gen­über; er hat die dün­ne Un­ter­lip­pe zwi­schen die Zäh­ne ge­zo­gen und war­tet auf das freu­di­ge Er­glän­zen ih­res Ge­sich­tes. Er liebt in sei­ner wort­kar­gen, stil­len, ganz un­zärt­li­chen Art die­se Frau sehr.

Sie hat den Brief auf­ge­ris­sen, einen Au­gen­blick leuch­te­te ihr Ge­sicht wirk­lich, dann er­losch das, als sie die Schreib­ma­schi­nen­schrift sah. Ihre Mie­ne wur­de ängst­lich, sie las lang­sa­mer und lang­sa­mer, als scheu­te sie sich vor je­dem kom­men­den Wort. Der Mann hat sich vor­ge­beugt und die Hän­de aus den Ta­schen ge­nom­men. Die Zäh­ne sit­zen jetzt fest auf der Un­ter­lip­pe, er ahnt Un­heil. Es ist ganz still in der Stu­be. Nun fängt der Atem der Frau an, keu­chend zu wer­den …

Plötz­lich stößt sie einen lei­sen Schrei aus, einen Laut, wie ihn ihr Mann noch nie ge­hört hat. Ihr Kopf fällt vorn­über, schlägt erst ge­gen die Garn­rol­len auf der Ma­schi­ne und sinkt zwi­schen die Fal­ten der Näh­ar­beit, den ver­häng­nis­vol­len Brief ver­de­ckend.

Er ist mit zwei Schrit­ten hin­ter ihr. Mit ei­ner bei ihm ganz un­ge­wohn­ten Hast legt er sei­ne große, ver­ar­bei­te­te Hand auf ih­ren Rücken. Er fühlt, dass sei­ne Frau am gan­zen Lei­be zit­tert. »Anna!«, sagt er. »Anna, bit­te!« Er war­tet einen Au­gen­blick, dann wagt er es: »Ist was mit Otto? Ver­wun­det, wie? Schwer?«

Das Zit­tern geht fort durch den Leib der Frau, aber kein Laut kommt von ih­ren Lip­pen. Sie macht kei­ne An­stal­ten, den Kopf zu he­ben und ihn an­zu­se­hen.

Er blickt auf ih­ren Schei­tel hin­un­ter, er ist so dünn ge­wor­den in den Jah­ren, seit sie ver­hei­ra­tet sind. Nun sind sie alte Leu­te; wenn Otto wirk­lich was zu­ge­sto­ßen ist, wird sie nie­man­den ha­ben und be­kom­men, den sie lieb ha­ben kann, nur ihn, und er fühlt im­mer, an ihm ist nicht viel zum Lieb­ha­ben. Er kann ihr nie und mit kei­nem Wort sa­gen, wie sehr er an ihr hängt. Selbst jetzt kann er sie nicht strei­cheln, ein biss­chen zärt­lich zu ihr sein, sie trös­ten. Er legt nur sei­ne schwe­re, star­ke Hand auf ih­ren dün­nen Schei­tel, er zwingt sanft ih­ren Kopf hoch, sei­nem Ge­sicht ent­ge­gen, er sagt halb­laut: »Was die uns schrei­ben, wirst du mir doch sa­gen, Anna?«

Aber ob­wohl jetzt ihre Au­gen ganz nahe den sei­nen sind, sieht sie ihn nicht an, son­dern hält sie fest ge­schlos­sen. Ihr Ge­sicht ist gelb­lich blass, ihre sonst fri­schen Far­ben sind ge­schwun­den. Auch das Fleisch über den Kno­chen scheint fast auf­ge­zehrt, es ist, als sähe er einen To­ten­kopf an. Nur die Wan­gen und der Mund zit­tern, wie der gan­ze Kör­per zit­tert, von ei­nem ge­heim­nis­vol­len in­ne­ren Be­ben er­fasst.

Wie Quan­gel so in dies ver­trau­te, jetzt so frem­de Ge­sicht schaut, wie er sein Herz stark und stär­ker schla­gen fühlt, wie er sei­ne völ­li­ge Un­fä­hig­keit spürt, ihr ein biss­chen Trost zu spen­den, packt ihn eine tie­fe Angst. Ei­gent­lich eine lä­cher­li­che Angst die­sem tie­fen Schmerz sei­ner Frau ge­gen­über, näm­lich die Angst, sie kön­ne zu schrei­en an­fan­gen, noch viel lau­ter und wil­der, als sie eben schrie. Er ist im­mer für Stil­le ge­we­sen, nie­mand soll­te et­was von Quan­gels im Hau­se mer­ken, und gar Ge­füh­le laut wer­den las­sen: Nein! Aber auch in die­ser Angst kann der Mann nicht mehr sa­gen, als er auch vor­hin schon ge­sagt hat, näm­lich: »Was ha­ben sie denn ge­schrie­ben? Sag doch, Anna!«

Wohl liegt der Brief jetzt of­fen da, aber er wagt nicht, nach ihm zu fas­sen. Er müss­te da­bei den Kopf der Frau los­las­sen, und er weiß, die­ser Kopf, des­sen Stir­ne schon jetzt zwei blu­ti­ge Fle­cke auf­weist, fie­le dann wie­der ge­gen die Ma­schi­ne. Er über­win­det sich, noch ein­mal fragt er: »Was ist denn mit Ot­to­chen?«

Es ist, als habe die­ser vom Man­ne fast nie be­nutz­te Ko­sena­me die Frau aus der Welt ih­res Schmer­zes in die­ses Le­ben zu­rück­ge­ru­fen. Sie schluckt ein paar­mal, sie öff­net so­gar die Au­gen, die sonst sehr blau sind und jetzt wie aus­ge­blasst aus­se­hen. »Mit Ot­to­chen?«, flüs­tert sie fast. »Was soll denn mit ihm sein? Nichts ist mit ihm, es gibt kein Ot­to­chen mehr, das ist es!«

Der Mann sagt nur ein »Oh!«, ein tie­fes »Oh!« aus dem In­ners­ten sei­nes Her­zens her­aus. Ohne es zu wis­sen, hat er den Kopf sei­ner Frau los­ge­las­sen und greift nach dem Brief. Sei­ne Au­gen star­ren auf die Zei­len, ohne sie noch le­sen zu kön­nen.

Da reißt ihm die Frau den Brief aus der Hand. Ihre Stim­mung ist um­ge­schla­gen, zor­nig reißt sie das Brief­blatt in Fet­zen, in Fetz­chen, in Schnit­zel­chen, und da­bei spricht sie ihm über­stürzt ins Ge­sicht: »Was willst du den Dreck auch noch le­sen, die­se ge­mei­nen Lü­gen, die sie al­len schrei­ben? Dass er den Hel­den­tod ge­stor­ben ist für sei­nen Füh­rer und für sein Volk? Dass er ein Mus­ter von ’nem Sol­da­ten und Ka­me­ra­den ab­gab? Das willst du dir von de­nen er­zäh­len las­sen, wo wir doch bei­de wis­sen, dass Ot­to­chen am liebs­ten an sei­nen Ra­di­os rum­ge­bas­telt hat, und wei­nen tat er, als er zu den Sol­da­ten muss­te! Wie oft hat er mir in sei­ner Re­kru­ten­zeit ge­sagt, wie ge­mein sie dort sind, und dass er lie­ber sei­ne gan­ze rech­te Hand her­gä­be, bloß um von de­nen los­zu­kom­men! Und jetzt ein Mus­ter von Sol­dat und Hel­den­tod! Lü­gen, al­les Lü­gen! Aber das habt ihr an­ge­rich­tet, mit eu­erm Scheiß­krieg, du und dein Füh­rer!«

Jetzt steht sie vor ihm, die Frau, klei­ner als er, aber ihre Au­gen sprü­hen Blit­ze vor Zorn.

»Ich und mein Füh­rer?«, mur­melt er, ganz über­wäl­tigt von die­sem An­griff. »Wie­so ist er denn plötz­lich mein Füh­rer? Ich bin doch gar nicht in der Par­tei, bloß in der Ar­beits­front, und da müs­sen alle rein. Und ge­wählt ha­ben wir ihn im­mer alle bei­de, und einen Pos­ten in der Frau­en­schaft3 hast du auch.«

Er sagt das al­les in sei­ner um­ständ­li­chen, lang­sa­men Art, nicht ein­mal so sehr, um sich zu ver­tei­di­gen, als um die Tat­sa­chen klar­zu­stel­len. Er ver­steht noch nicht, wie die Frau plötz­lich zu die­sem An­griff ge­gen ihn kommt. Sie wa­ren doch ei­gent­lich im­mer ei­nes Sin­nes ge­we­sen …

Aber sie sagt hit­zig: »Wozu bist du denn der Mann im Haus und be­stimmst al­les, und al­les muss nach dei­nem Kopf ge­hen, und wenn ich nur einen Ver­schlag für die Win­ter­kar­tof­feln im Kel­ler ha­ben will: er muss sein, wie du willst, nicht wie ich will. Und in ei­ner so wich­ti­gen Sa­che be­stimmst du falsch? Aber du bist ein Lei­se­tre­ter, nur dei­ne Ruhe willst du im­mer ha­ben und bloß nicht auf­fal­len. Du tust, was sie alle tun, und wenn sie schrei­en: ›Füh­rer be­fiehl, wir fol­gen!‹, so rennst du wie ein Ham­mel hin­ter­her. Und wir ha­ben wie­der hin­ter dir her­lau­fen müs­sen! Aber nun ist mein Ot­to­chen tot, und kein Füh­rer der Welt und auch du nicht brin­gen ihn mir wie­der!«

Er hör­te sich das al­les ohne ein Wi­der­wort an. Er war nie der Mann ge­we­sen, sich zu strei­ten, und er fühl­te es zu­dem, dass nur der Schmerz aus ihr sprach. Er war bei­na­he froh dar­über, dass sie ihm zürn­te, dass sie ih­rer Trau­er noch kei­nen frei­en Lauf ließ. Er sag­te nur zur Ant­wort auf die­se An­kla­gen: »Ei­ner wird’s der Tru­del sa­gen müs­sen.«

Die Tru­del war Ot­to­chens Mäd­chen ge­we­sen, fast schon sei­ne Ver­lob­te; zu sei­nen El­tern hat­te die Tru­del Mutt­chen und Va­ter ge­sagt. Sie kam abends oft zu ih­nen, auch jetzt, da Ot­to­chen fort war, und schwatz­te mit ih­nen. Am Tage ar­bei­te­te sie in ei­ner Uni­form­fa­brik.

Die Er­wäh­nung der Tru­del brach­te Anna Quan­gel so­fort auf an­de­re Ge­dan­ken. Sie warf einen Blick auf den blit­zen­den Re­gu­la­tor an der Wand und frag­te: »Wirst du’s noch bis zu dei­ner Schicht schaf­fen?«

»Ich habe heu­te die Schicht von eins bis elf«, ant­wor­te­te er. »Ich werd’s schaf­fen.«

»Gut«, sag­te sie. »Dann geh, aber be­stell sie nur hier­her und sag ihr noch nichts von Ot­to­chen. Ich will’s ihr sel­ber sa­gen. Dein Es­sen ist um zwöl­fe fer­tig.«

»Dann geh ich und sag ihr, sie soll heu­te Abend vor­bei­kom­men«, sag­te er, ging aber noch nicht, son­dern sah ihr ins gelb­lich wei­ße, kran­ke Ge­sicht. Sie sah ihn wie­der an, und eine Wei­le be­trach­te­ten sie sich so schwei­gend, die­se bei­den Men­schen, die an die drei­ßig Jah­re mit­ein­an­der ver­bracht hat­ten, im­mer ein­träch­tig, er schweig­sam und still, sie ein biss­chen Le­ben in die Woh­nung brin­gend.

Aber so­sehr sie sich jetzt auch an­schau­ten, sie hat­ten ein­an­der kein Wort zu sa­gen. So nick­te er schließ­lich mit dem Kopf und ging.

Sie hör­te die Fl­ur­tür klap­pen. Und kaum wuss­te sie ihn wirk­lich fort, dreh­te sie sich wie­der nach der Näh­ma­schi­ne und strich die Schnit­zel­chen des ver­häng­nis­vol­len Feld­post­brie­fes zu­sam­men. Sie ver­such­te, sie an­ein­an­der­zu­pas­sen, aber sie sah schnell, dass das jetzt zu lan­ge dau­ern wür­de, sie muss­te vor al­len Din­gen sein Es­sen fer­tig­ma­chen. So tat sie denn das Zer­ris­se­ne sorg­fäl­tig in den Brief­um­schlag, den sie in ihr Ge­sang­buch leg­te. Am Nach­mit­tag, wenn Otto wirk­lich fort war, wür­de sie die Zeit ha­ben, die Schnit­zel zu ord­nen und auf­zu­kle­ben. Wenn es auch al­les dum­me Lü­gen, ge­mei­ne Lü­gen wa­ren, es war doch das Letz­te von Ot­to­chen! Sie wür­de es trotz­dem auf­be­wah­ren und der Tru­del zei­gen. Vi­el­leicht wür­de sie dann wei­nen kön­nen, jetzt stand es noch wie Flam­men in ih­rem Her­zen. Es wür­de gut sein, wei­nen zu kön­nen!

Sie schüt­tel­te zor­nig den Kopf und ging an die Koch­ma­schi­ne.

1 Der Völ­ki­sche Beo­b­ach­ter war von De­zem­ber 1920 bis zum 30. April 1945 das pu­bli­zis­ti­sche Par­tei­or­gan der NSDAP. <<<

2 Die Deut­sche Ar­beits­front war in der Zeit des Na­tio­nal­so­zia­lis­mus der Ein­heits­ver­band der Ar­beit­neh­mer und Ar­beit­ge­ber mit Sitz in Ber­lin. <<<

3 Die NS-Frau­en­schaft war die dem Kreis­lei­ter un­ter­stell­te Frau­en­or­ga­ni­sa­ti­on der Na­tio­nal­so­zia­lis­ti­schen Deut­schen Ar­bei­ter­par­tei. <<<

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