Der ungeliebte Mann

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Der ungeliebte Mann
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Hans Fallada DER UNGELIEBTE MANN

1

Die Airedale-Hündin Bella hat sich unter der Spalierkirsche am Kücheneingang ein Loch gescharrt und liegt nun schläfrig in der kühleren Erde. Sie weiß, dieses Scharren an den Wurzeln der Bäume ist ihr verboten, aber die sengende Hitze hat ihren Willen zum Gehorsam gelähmt – wie sie alles Leben gelähmt hat.

In einem verdunkelten Zimmer im Erdgeschoß sitzt der Herr des Hauses an einem Tisch. Die jungen Mädchen haben ihm eine Schüssel mit Kirschen hingestellt – ab und an tastet er mit vorsichtigen Fingern nach den Kirschen. Er findet einen Zwilling, einen Augenblick zögert er, dann hängt er sich die Doppelkirsche fast trotzig übers Ohr. Er hat sich daran erinnert, daß er so tat, als er noch ein Kind war.

Er fühlt das glatte, kühlende Fruchtfleisch sanft an der Wange. So sitzt er da, im Halbdunkeln, mit eisgrauen Schläfen und genießt eine eingebildete Liebkosung. Mehr gibt es nicht für diesen allein sitzenden Mann: er ist blind.

Seine Sekretärin, die Ilse Voß, von ihren Freunden meist ›Itta‹ genannt, liegt oben, in der Stube über der Küche, auf ihrem Bett und schläft. Sie war todmüde, als sie nach dem Essen hinaufging: In den letzten Nächten war sie immer unterwegs, und am Tage war der Chef ungewöhnlich gereizt und anspruchsvoll und ließ ihr keine Ruhe. So hat sie sich aufs Bett geworfen, sobald sie von unten kam, und ist sofort in Schlaf versunken.

Aber der Schlaf, so tief er ist, scheint ihr keine Erleichterung zu bringen, die tiefe Falte über der Nasenwurzel hat sich nicht geglättet. Sie wirft sich unruhig von einer auf die andere Seite. Einmal spricht sie auch etwas im Traum, erst sagt sie unwillig: »Ach, laß mich – nein, ich will nicht!« – Dann: »Quäl mich doch nicht immer – sei lieb, du!«

Ihre Freundinnen aber, eine Zimmertür weiter, schlafen nicht, obwohl sie auf den Betten liegen.

Lola Bergfeld, die älteste von den drei Mädchen im Haus, einundzwanzig, hat ein Buch in den Händen und versucht, darin zu lesen. Es ist ein Buch, das in keiner Weise gefällt, aber sie will es trotzdem lesen, denn der Chef hat es ihr als besonders gut empfohlen, und Lola hat einen Bildungstick.

So läßt ihr die Lektüre immer noch Zeit, häufig einen verstohlenen Blick auf Traute Kaiser zu werfen, die völlig angezogen still auf dem Rücken daliegt und mit offenen Augen zur Decke emporsieht. Traute ist die Jüngste der drei, kaum siebzehn, und sie erlernt erst den Haushalt, dem Lola vorsteht. Das gibt Lola ein großes Übergewicht, und ein paarmal liegt es ihr auf der Zunge, ›die Kleine‹ zu fragen: ›Was träumst du?‹ Oder besser noch: ›Von wem träumst du?‹

Aber jedesmal besinnt sie sich noch und kehrt zu ihrem öden Buch zurück, in dem auf keiner Seite ein Wort von Liebe steht und mondänem Leben und prima Tanzmusik und schicken Kleidern. Übrigens heißt das Buch ›Uli der Knecht‹ und ist von einem Manne namens Jeremias Gotthelf in einem unglaublichen Deutsch geschrieben. Wüßte Lola Bergfeld, daß dieser Mann den Beruf eines Pfarrers hatte, wäre ihr sofort klar, warum ihr die Art Liebe, die sie schätzt, von diesem Manne vorenthalten wird – aber so liest sie erst noch einmal weiter und hofft. Man weiß es ja nie bei den Männern, wie es weitergehen wird.

Plötzlich schlägt die Bella drunten auf dem Hof kurz an. Lola läßt das Buch fallen und stürzt ans Fenster.

»Du! Es geht einer vorbei, Traute!« ruft sie. Und sagt enttäuscht: »Ich habe nicht mal sehen können, wer es war …«

»Jammervoll!« antwortet Traute. »Wenn’s nun der alte August Schulz gewesen wäre, und du hättest ihn noch gesehen – das hätte dich viel glücklicher gemacht, wie?«

»Aber es hätte auch mein Leutnant sein können! Da, horch mal, er pfeift! Wahrhaftig, der meint uns! Eine von euch – mein Leutnant kann es nicht sein, der pfeift immer aus der Walküre! Hör mal …«

Und sie spitzt die Lippen.

»Ach, laß mich bei dieser Hitze bloß zufrieden mit deinem Leutnant«, sagt Traute Kaiser unwillig, steht aber von ihrem Bett auf. »Erstmal ist er gar nicht Leutnant, sondern Unteroffizier – und dann geh ich jetzt nochmal ins Wasser. Ein bißchen kühler als hier ist’s im See doch! Kommst du mit …«

Damit ist Traute schon gegangen. Einen Augenblick hat sie hastig atmend auf dem dämmrigen Vorplatz gestanden, noch einmal unentschlossen über das, was sie eben doch fest beschlossen hatte.

Dann aber ist sie leise und rasch die Treppe hinuntergestiegen, vorsichtig bei jeder Stufe die Stelle benutzend, die, wie sie aus Erfahrung weiß, am wenigsten knarrt. Dabei überlegt sie, ob Lola wohl geglaubt hat, daß sie jetzt noch einmal zum Baden geht? Ihr fällt Lügen ziemlich schwer, weil sie weiß, sie wird gleich rot dabei. Aber diesmal scheint es ihr doch gelungen zu sein.

›Und wenn nicht, ist es auch noch so!‹ denkt sie trotzig. ›Die haben mir alle gar nichts zu sagen!‹

Leise öffnet sie jetzt die Tür von der Küche zum Hof. Bella sieht ihr erwartungsvoll entgegen und klopft freudig mit dem Schwanz auf die Erde. Traute aber flüstert leise: »Nein, Bella, nein! Diesmal nicht! Bleib schön hier!«

Wollte sie jetzt wirklich baden, müßte sie nach rechts durch den Garten zum See gehen. Aber nach einem raschen, prüfenden Blick auf die offenstehenden Fenster im Oberstock geht sie nach links. Sie öffnet das Hoftor, tritt aus den Weg und zieht die Tür leise wieder hinter sich zu.

Noch einmal wirft sie einen Blick zurück auf die die Fenster, aber dann wendet sie sich ab und geht entschlossen den schmalen Feldweg hinauf, der Spur des Pfeifers folgend, der nicht aus der Walküre pfiff.

2

Einem Blinden entgeht nichts: Der Mann in der verdunkelten Stube hat das Anschlagen des Hundes gehört wie das Flöten; der vorsichtige Schritt auf der Treppe entging ihm nicht, und eben hörte er die Hoftür mit einem leichten Aufseufzen der Feder ins Schloß fallen. Er ist plötzlich des Spiels mit den Kirschen überdrüssig geworden, er ist aufgestanden und geht ruhelos in dem Zimmer auf und ab.

»Ach ja!« seufzt er und: »Freilich, das mußte einmal kommen!«

Plötzlich fällt ihm ein, wie sehr er an diesem Vormittag seiner Sekretärin Ilse Voß zugesetzt hat: Er wollte durchaus von ihr erfahren, welche Art Blau ein Kleiderstoff hatte, den sich Traute Kaiser gekauft hatte. Das sind seine Sorgen und Interessen, seit er blind wurde: Er läßt die Ilse Voß alles aufschreiben, was er einmal sah, ehe es Nacht für ihn wurde, und er sucht alles zu erfahren, was andere heute sehen …

»Also eine Art blasseres Kornblumenblau?«

»Nein, nicht doch, Herr Siebenhaar! Mehr ein Bleu …«

»Bleu – lassen Sie mich zufrieden mit all den albernen Modefarben! Nennen Sie mir irgendwas Lebendiges, das diese Farbe hat!«

»Ja, ich weiß doch auch nicht …« Sie suchte. Dann: »Etwa wie die blaue Strickjacke von Lola, da, wo sie verschießt …«

Trostloses Gewäsch, verdammtes! Aber das war jetzt – seit geraumer Zeit – sein Leben: Erinnerungen an Farben, an einst Geschautes. Nichts Lebendiges mehr, kein warmer Hauch auf der Wange, keine übermütig zausende Hand mehr im Haar – alles dies war ihm mit dem Licht des Himmels entflohen.

»Ach ja!« seufzt er noch einmal, aber lauter. »Das war wohl zu erwarten!«

Dann geht er sacht aus der Stube, zum Keller hin.

Auch Lola hat das leise Aufseufzen gehört. Freilich, sie stand hinter der Gardine und sah Traute mit gespannter Aufmerksamkeit nach. Nun, da sie sicher ist, die Kleine ging weder zum Baden noch ins Dorf, sondern den Weg in die Felder, läuft sie rasch aus dem Zimmer, reißt die Stubentür nebenan auf und ruft: »Los, Itta, guck mal schnell aus dem Fenster! Da kannst du Traute hinter einem Mann herziehen sehen! Und mir hat sie erzählt, sie geht zum Baden!«

»Was ist denn los?« fragt Ilse, verwirrt aus dem Schlaf hochfahrend. »Ist es denn schon wieder vier?« Und nach einem Blick auf die Uhr: »Oh Gott, gerade erst halb drei! Kannst du mich denn nicht in Ruhe schlafen lassen?! Ich habe Schlaf so nötig!«

»Aber, Itta!« ruft Lola vorwurfsvoll. »Wo Traute eben mit einem Mann losgezogen ist! Komm doch schnell ans Fenster!«

»Traute? Mit einem Mann?!«

»Ja, mach bloß zu! War es also doch richtig, daß ich dich weckte!«

Nebeneinander knien die beiden am Fenster und sehen gespannt auf die kleine Kuppe mit dem gelben Fleck der Sandgrube, an der vorbei sich der Weg schlängelt.

»Ich sehe nichts!« sagt Ilse Voß enttäuscht.

»Warte doch nur! Sie muß gleich kommen! Hör zu! Erst hat es unten geflötet, ich habe gleich herausgeguckt. Ein Mann ist es gewesen, wahrscheinlich Männe oder Paulchen Schönfeld …«

»Mit denen läßt sich doch Traute nicht ein!«

»Es kann auch wer anders gewesen sein! Und erst tut sie so, als sei nichts, und dann sagt sie plötzlich, sie will noch mal ins Wasser, wo ihr Haar noch ganz feucht und zottelig vom letzten Baden war … Da kommt sie!«

Lola faßt vor Aufregung ganz fest Ilses Arm. Aber das Bild hat eigentlich nichts Aufregendes: ein lebhaft gelber Fleck – Trautes Sportkleid – wandert an der gelben Sandgrube vorüber und verschwindet.

»Allein!« stellt Ilse fest.

»Aber ich sage dir doch: Er ist ihr mindestens vier Minuten voraus! Sie läuft ihm nach!«

»Sie werden sich bei der kleinen Brücke am Durchfluß treffen«, überlegt Ilse Voß.

»Weißt du was, Ilse«, schlägt Lola aufgeregt vor. »Wir nehmen das kleine Paddelboot und rudern am Schilf entlang und überraschen die beiden. Ich möchte doch zu gerne wissen, wer es ist!«

»Das weiß ich auch ohne Spionieren«, sagt Ilse, ein ganz klein wenig verächtlich. »Sie hat in den letzten Wochen drei Briefe hier aus der Gegend bekommen …«

 

»Sag doch von wem! Ich lasse mir auch bestimmt nichts merken! Bitte, Ilse!«

»Du hast dich auch mal mächtig um ihn bemüht«, läßt Ilse sie zappeln. »Aber bei dir hat er nicht angebissen. – Bei mir übrigens auch nicht«, setzt sie, mehr zu sich selbst gesprochen, hinzu.

»Der Zahn aus dem Getreide-Geschäft? Oder nein, der hübsche große Blonde, der seit zwei Wochen in der Kistenfabrik ist?«

»Hast du den auch schon entdeckt?« fragt Ilse etwas gereizt.

»Aber Ilse! Der ist doch schon allen Mädchen hier herum aufgefallen! Ich hab’ ihm neulich beim Tennisspielen zugesehen – einfach süß!«

»Mit wem hat er denn gespielt?«

»Ach, mit dem langen Reff, der Tochter vom Bürgermeister! Die mit den Pferdezähnen, weißt du!«

»Na also! Da weißt du ja Bescheid, wieviel er sich aus einem Wirtschaftsfräulein vom Land machen wird!«

»Oder einer Klapperschlange …«

»Richtig, Lola, oder einer Klapperschlange … Im übrigen bin ich versehen …«

»Das glaubst du!« antwortet Lola, aber nur halblaut, so daß unklar bleibt, ob Ilse sie verstanden hat.

Die beiden Mädchen knien nebeneinander, sehen in das besonnte Land, das der Ernte entgegenreift, wie auch sie immer reifer für das Leben werden, und plötzlich sagt Lola, indem sie sich behaglich reckt und streckt: »Ach, Itta, ist das alles schön! Ich weiß schon: Mein Mann muß einmal dunkel sein … Und er muß wunderbar tanzen können, und einen prima Wagen muß er haben, und er darf nur seidene Oberhemden tragen … Und er müßte sich kirchlich trauen lassen, und die Hochzeitsreise müßten wir in einem Wohnwagenanhänger machen … Ich denke mir das einfach chic, wenn man da so morgens auf einer Waldwiese aufwacht, und er wäre himmlisch zärtlich, und während ich Kaffee koche, spielte er die neuesten Tanzplatten. Ja, und ich würde so bezaubernde Shorts tragen …«

»Herrlich!« stimmt Ilse wieder ein wenig ironisch bei. »Und was müßte dieser Zukünftige sein? Millionär?«

»Ach, das wäre mir ganz egal! Meinetwegen kann er der kleinste Buchhalter sein, wenn er mich nur liebt!«

»Na ja«, sagt Ilse trocken, »die kleinen Buchhalter mit seidenen Hemden und Wohnwagen sind ja ziemlich häufig! – Du bist einfach ein Schaf, Lola!« sagt sie eilig, denn ihre Freundin will schon wieder eine neue schwärmerische Albernheit loslassen. – »Und wenn du es nicht lernst, die Klappe zu halten, sondern all deinen Unsinn jedermann verzapfst, wirst du dich verplempern und nie einen vernünftigen Mann auch nur mit hundertachtzig monatlich einfangen – auf die Dauer heißt das!«

»Du hast es gerade nötig, von Verplempern zu reden!« fängt Lola zornig an, und ihre Augen sehen vor Empörung jetzt wirklich schwarz aus.

Aber mit Ilses Geduld ist es vorbei, und so sagt sie energisch:

»Und jetzt ziehst du hier Leine, damit ich wenigstens noch eine Stunde schlafen kann. Die beiden kommen doch nicht so rasch zurück. – Und damit du mir wirklich Ruhe läßt«, setzt sie hastig hinzu, »will ich dir sagen, was du durchaus wissen wolltest, aber längst wieder vergessen hast, daß Traute nämlich schon drei Briefe von dem jungen Inspektor in Schlicht bekommen hat …«

»Von dem Siegfried Senden in Schlicht?! Traute, das kleine Bäh-Schaf?! Das ist doch unmöglich. Du mußt dich irren, Itta!«

3

Der junge Feldinspektor von Schlicht, Siegfried Senden, sitzt unterdessen auf dem Brückengeländer über dem Durchfluß und baumelt lässig mit den Beinen. Ganz so lässig ist ihm allerdings nicht zumute, er hat sogar schon einmal auf die Uhr gesehen und eiligen Rückmarsch erwogen. An sich müßte er zur Stunde nämlich auf dem Rapsschlag des Rittergutes Schlicht, eine gute Stunde von hier entfernt, stehen, und mit Oberinspektor Brod ist bei Nachlässigkeiten im Dienst schlecht Kirschen essen!

Wie diese süße Kleine ihm Korb auf Korb versetzt hatte, sei es nun ein harmloser Likör oder eine nicht ganz harmlose Abkühlungspromenade nach der heißen Tanzerei, wie sie seine Briefe gänzlich unbeantwortet ließ, und sie waren doch mit allem Gefühlsaufgebot eines liebeskundigen jungen Mannes, der ein humanistisches Gymnasium absolviert hat, erst in die Kladde und dann ins Reine geschrieben worden; und wie sie ihn jetzt auf seinen dritten Brief hin auch wieder versetzen wird – das konnte einen wirklich ganz ernsthaft in Fahrt bringen!

Siegfried Senden schaut zum drittenmal auf die Uhr, stellt fest, daß er den äußersten, mit seinem Pflichtgefühl vereinbarten Termin bereits um zwei Minuten überschritten hat, und beschließt, der Abrundung halber noch drei Minuten zuzulegen, im übrigen aber dem nicht mehr fernen Ernteball die weitere Entwicklung zu überlassen – als oben am Rande des Hohlweges zwischen den grünen Haselbüschen ein gelbes Kleid auftaucht …

Er fährt mit einem Satz von seinem Brückengeländer hoch und stellt sich in Positur, ein Lächeln auf seinem Gesicht, die schilfleinene Feldmütze in der Hand. Ehrlich gestanden – dies hatte er nun doch nicht erwartet, sonst hätte er sich bestimmt einen schöneren Schlips umgebunden! Was soll er nun zur Begrüßung sagen? Ach, ganz egal! Daß sie nun wirklich gekommen ist, beweist, daß es sich jetzt nicht mehr um Sagen handelt, er wird einfach zur Attacke vorgehen …

Überraschend schnell ist Traute Kaiser bei ihm. Ihr Schritt wurde immer schneller, je näher sie der kleinen Brücke und der schilfleinenen Gestalt kam, wie ein Stein immer rascher den Abhang hinabrollt, ehe er zur Ruhe kommt.

Mit einem Ruck bleibt Traute Kaiser vor Siegfried Senden stehen. Sie ist hochrot, aber nicht nur von dem heißen, eiligen Weg. Ehe er den Mund noch auftun kann, sagt sie, fast atemlos: »So, hier bin ich! Und nun sagen Sie mir, was Sie eigentlich von mir wollen!«

Er ist völlig verblüfft. Er starrt sie mit weit offenen Augen an, zu plötzlich werden seine zärtlichen Hoffnungen zerstört. Beruhigend sagt er: »Aber warum denn so aufgeregt, mein Mädchen?«

Und wie aus der Pistole geschossen kommt die Antwort: »Ich bin nicht Ihr Mädchen! Wie kommen Sie dazu, mich so zu nennen?!« Sie stampft mit dem Fuß auf. »Da!« Sie zieht die zerknitterten Briefe aus der Tasche. »In denen haben Sie mich auch so genannt! Aber ich bin nicht Ihr Mädchen – und werde es auch nie sein! Nehmen Sie Ihr Geschmier wieder!«

Mechanisch nimmt er seine mißhandelten Briefe zurück, aber dabei starrt er sie unverwandt an, unverhohlene Bewunderung im Blick. »Aber, Trautchen«, sagt er endlich. »Warum denn so böse?! Es ist doch keine Beleidigung, wenn ein junger Mann ein junges Mädchen nett findet!«

Langsam, aber mit großem Nachdruck setzt er hinzu: »Und ich finde dich wirklich nett …«

Sie wird von seinem Blick und seinen Worten noch röter und zorniger.

»Sie sollen mich nicht einfach du nennen, das ist schon wieder eine Beleidigung! Und was bilden Sie sich überhaupt ein«, fährt sie noch rascher fort, »daß Sie mir einfach Briefe schreiben und mich ins Gerede bringen?! Was gibt Ihnen denn das Recht dazu?! Weil Sie dreimal mit mir getanzt haben? Lachhaft – und außerdem sind Sie noch ein ganz miserabler Tänzer!«

Er übergeht diese offenkundige Lüge mit Stillschweigen – seine Tanzkunst ist in der ganzen Gegend berühmt.

»Aber, Trautchen«, sagt er vorwurfsvoll, »wie soll man es denn sonst machen. Wenn man ein Mädchen gern hat, muß man es ihr doch irgendwie sagen! Alle machen es so!«

»So, und das Mädchen muß sich dann einfach beglückt fühlen, wenn der Herr Senden aus Schlicht es nett findet? Das Mädchen hat sich sein ganzes Leben nur darauf eingerichtet und nur darauf gelauert, damit der Herr Senden oder sonst ein Kavalier, dessen Herz gerade frei ist, geruht zu sagen: So, jetzt finde ich dich gerade nett, komm mal her zu der kleinen Brücke …«

»Aber, Traute, du bist doch gekommen!«

»Sie wissen ganz genau, was ich meine! Wenn ich so gekommen wäre, meine ich, wie Sie sich das einbilden, mit weit offenen Armen! Was hätten Sie da mit mir gemacht?«

Diese Frage zu erörtern, ist ihm im Augenblick peinlich. Er weicht aus.

»Aber, Traute«, sagte er, »verzeih bloß, daß ich immer noch Traute sage, aber ich habe mich in Gedanken so daran gewöhnt …«

»Gewöhnen Sie sich das bloß schnell wieder ab!« verlangt sie.

»Aber, Traute, wie willst du denn da mal einen netten Mann kennenlernen, wenn du alle schon gleich im Anfang vor den Kopf stößt?! Es ist doch nun mal so eingerichtet, daß der Mann es dem Mädchen sagt, wenn er es gern hat – ebensogut könnte es natürlich umgekehrt sein …«

»Das möchtet ihr! Auch das noch!«

»… Aber wenn das Mädchen dann sagt, es will ihn nicht, dann ist der Fall eben erledigt. Dann zieht sich ein anständiger Mann wortlos zurück. In allem liegt gar nichts Beleidigendes …«

»Ist das wirklich so, wie Sie sagen?«

»Aber natürlich, Traute! Ich habe nie daran gedacht, daß ich dich mit meinen Briefen kränken könnte …«

»Ich will Sie nicht!!!«

»Aber, Traute, erst wollen wir uns doch ein bißchen besser kennenlernen. Du hast ja noch keine Ahnung, wie ich bin, und ich weiß auch noch nicht …«

Sie zitiert: »… Dann ist der Fall eben erledigt …«

»Ich meine natürlich, man muß erst eine Chance haben …«

»… Und ein anständiger Mann zieht sich wortlos zurück!«

»Traute, wir haben doch gar nicht richtig miteinander geredet! Ich will dir bloß noch eins sagen …«

Sie stampft mit dem Fuß auf.

»Seien Sie wenigstens jetzt ein anständiger Mann!«

Er kämpft mit sich. Sie sieht reizender denn je aus, viel zu reizend für sein schon arg verwundetes Herz. Schließlich überwindet er sich.

»Also gut«, sagt er gekränkt. »Ich gehe also …«

Er sieht sie an, aber sie gibt immer noch kein Zeichen, daß sie bereut.

»Na, also denn!« bemerkt er recht verlegen. »Wird ein verdammt heißer Rückmarsch werden – bei der Hitze!«

Noch einmal sieht er sie an und entschließt sich. Langsam geht er den Hohlweg zwischen den Haselsträuchern hoch.

Er ist schon fast verschwunden, da dreht er sich noch einmal um. Er sieht nach ihr hin, er winkt ihr!

»Traute!« schreit er mit voller Kehle. »Traute, ich pfeif auf die Anständigkeit! Ich versuch’s noch mal! Und hundertmal! Ich habe dich nämlich – gern!«

Er verschwindet, nach nochmaligem lebhaftem Winken.

4

In der Küche ist es ganz still, kein Wort wird gesprochen. Manchmal sehnt sich Traute schrecklich nach jemandem, der sie umfaßt, streichelt, an sich drückt. Der ihr einen Kuß gibt. Mutti, die es sonst manchmal tat, ist so weit weg, und die Freundinnen hier sind gar nicht für Zärtlichkeiten – unter Mädchen!

So allein, immer allein unter fremden Menschen – und wieder versucht Traute Kaiser, sich den Mann vorzustellen, der sie umfaßt und abdrückt, wie es Mutti sonst tat. Vor ihr erscheint, sehr störend, das Bild des jungen Siegfried Senden, das Gesicht braunrot gebrannt, aber die hellen Augen unter den semmelblonden Haaren voller Licht, Frische, Jugend …

Traute seufzt, dann schüttelt sie ärgerlich den Kopf. Und nun nimmt sie ein anderes Oberhemd aus dem Korb und plättet Siegfried Sendens Bild flach.

Ilse Voß, die am Küchentisch Erbsen auspahlt, wirft immer wieder Blick auf Blick zu der heute so stillen Freundin. Traute hat nicht ihre lebhaften Farben, sie ist blaß, einmal lächelt sie, dann seufzt sie wieder. Ja, nun hat es auch Traute gehascht, keine entgeht diesem ersten, herrlichen Verlieben! Es wird Ilse ganz bitter zumute, wenn sie daran denkt, wie es bei ihr war – sie war damals fünfzehn Jahre alt. (Traute hat mit ihren siebzehn Jahren lange gewartet – sie hat wohl nicht sehr viel Temperament.)

Nur daß es bei Ilse Voß nie bis zu diesem ganzen großen Glück kam. Es blieb immer nur bei den Anfängen dazu … Wenn man an ihr Herz rührte, verschwand sofort bei ihr all die für das tägliche Leben erlernte Kaltschnäuzigkeit. Sie war großzügig mit sich, sie verschenkte sich immer gleich. Und damit begann alles Unheil, nahm das Ende schon seinen Anfang …

Einmal lag es an ihr, einmal lag es an den andern: Sie konnte nichts halten, alle gingen sie bald wieder von ihr, niemand blieb bei ihr …

Und jetzt, in der letzten Zeit, war es ganz schlimm mit ihr geworden. Sie suchte angstvoll nach einem Ausweg und fand doch nicht die Kraft, sich allein aus dem Sumpf zu befreien, in den sie geraten. Niemand wollte ihr helfen, alle wollten sie immer nur das Eine von ihr! Schon die Art, wie die Männer sie ansahen, auch was sie alles im Städtchen von ihr wußten, das machte ihre Lage so hoffnungslos!

 

Sie hätte fortgehen können, irgendwohin, wo noch keiner etwas von ihr wußte. Aber so ehrlich war sie doch gegen sich, daß sie sich sagte: Fortgehen, das war bloß Ausreißen. Und ein Ausreißen, das nichts änderte. Auch am neuen Ort würde es bald wieder das Alte sein, wenn sie sich nicht selbst änderte …

Flüchtig denkt Ilse Voß an eine andere Möglichkeit, an einen Mann, der ihr vielleicht helfen würde … Aber nein, das geht auch nicht, daß sie! Ihr wird schon ganz elend, wenn sie nur an diesen unausstehlichen, grauen, langweiligen Fritzen denkt! Ohne alle Liebe, nicht einmal mit Gleichgültigkeit, nein, mit offener Abneigung so etwas anfangen – nein, da wird es noch einen andern Ausweg geben. Und den muß sie finden, sehr bald, sonst geht sie zugrunde, sonst bleibt gar nichts mehr übrig von ihr, der Ilse Voß, die einmal etwas ganz anderes gewesen war als alle andern Mädchen! Sonst ist sie bloß noch ein Lappen, an dem sich alle abwischen!

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