Das Schweigen der Kühe

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Das Schweigen der Kühe
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Inhalt

Das Buch

Der Autor

Titelseite

Impressum

Widmung

Prolog

1: Montag, 5. Mai, 17.05 Uhr

2: Montag, 5. Mai, 17.10 Uhr

3: Montag, 5. Mai, 17.25 Uhr

4: Mittwoch, 7. Mai, 20.08 Uhr

5: Mittwoch, 7. Mai, 20.14 Uhr

6: Mittwoch, 7. Mai, 20.22 Uhr

7: Samstag, 10. Mai, 20.53 Uhr

8: Sonntag, 11. Mai, 3.04 Uhr

9: Sonntag, 11. Mai, 3.39 Uhr

10: Sonntag, 11. Mai, 12.17 Uhr

11: Sonntag, 11. Mai, 12.28 Uhr

12: Sonntag, 11. Mai, 12.32 Uhr

13: Sonntag, 11. Mai, 19.48 Uhr

14: Montag, 12. Mai, 13.56 Uhr

15: Dienstag, 13. Mai, 17.54 Uhr

16: Dienstag, 13. Mai, 20.08 Uhr

17: Dienstag, 13. Mai, 20.23 Uhr

18: Dienstag, 13. Mai, 22.24 Uhr

19: Mittwoch, 14. Mai, 0.51 Uhr

20: Mittwoch, 14. Mai, 1.06 Uhr

21: Mittwoch, 14. Mai, 20.09 Uhr

22: Mittwoch, 14. Mai, 21.18 Uhr

23: Donnerstag, 15. Mai, 0.22 Uhr

24: Donnerstag, 15. Mai, 0.27 Uhr

25: Donnerstag, 15. Mai, 0.42 Uhr

26: Donnerstag, 15. Mai, 1.28 Uhr

Epilog: Donnerstag, 15. Mai, 10.18 Uhr

Danksagung

Das Buch

Das kleine Dorf Saffelen wird von einer unheimlichen Einbruchsserie heimgesucht. Da die Polizei im Dunkeln tappt, nimmt Ortsvorsteher Hastenraths Will höchstpersönlich die Ermittlungen auf. Der rustikale Landwirt formt aus Löschmeister Josef Jackels, Kreisliga-C-Legende Richard Borowka und anderen Dorfbewohnern eine schlagkräftige Task Force und spürt dem Täter mit überschaubarer Intelligenz, aber viel Herz nach. Je tiefer die Dorfbewohner in das Dickicht aus Schuld und Sühne eindringen, desto näher kommen sie einem dunklen Geheimnis, das ihr Leben von Grund auf verändern wird. Doch Hastenraths Will folgt unbeirrt der Spur des Täters. Zu spät wird ihm klar, dass er in tödlicher Gefahr schwebt.

Der Autor

Christian Macharski wurde 1969 in Wegberg geboren. Seit 1991 ist er Kabarettist und Autor. Diverse Programme mit dem Comedy-Duo „Rurtal Trio“, zwei Solo-Programme, eine Regiearbeit, Gag-Autor (WDR, SAT1, RTL). Von 1994 bis 2003 Kolumnist für die Aachener Nachrichten. Nach zwei Büchern mit gesammelten Glossen ist „Das Schweigen der Kühe“ sein erster Roman.

Von Christian Macharski sind außerdem als Taschenbuch erhältlich:

Irgendwo da draußen (ISBN 978-3-9807844-0-5)

25 km/h (ISBN 978-3-9807844-2-9)

Die Königin der Tulpen (ISBN 978-3-9807844-5-0)

Das Auge des Tigers (ISBN 978-3-9807844-7-4)

Christian Macharski

2. Auflage 2010

© 2008 by paperback Verlag

Alle Rechte vorbehalten. Abdruck, auch auszugsweise,

nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages

Umschlaggestaltung: kursiv, Oliver Forsbach

Fotos: Marcus Müller

Lektorat: Kristina Raub

eISBN: 978-3-9807844-4-3

Die Personen und Handlungen der Geschichte sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden und verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt. Die Protagonisten des Romans basieren auf Bühnenfiguren des Comedy-Duos Rurtal Trio.

Für Hildegard

Prolog

Fröhlich pfeifend tänzelte sie die steile Stiege hinab in den kleinen Gewölbekeller, der durch das fahle Licht einer 25-Watt-Birne nur schwach erhellt wurde. Der modrige Geruch, den die gegen das Erdreich gemauerten Natursteine abgaben, vermischte sich mit dem Duft ihres blumigen Parfüms, das sie zur Feier des Tages aufgelegt hatte. Obwohl der Sommer langsam Einzug hielt, fröstelte es sie, als sie den engen Raum mit der bogenförmig gemauerten Decke betrat, an dessen Ende die Kartoffelkiste stand. Dort angekommen, stellte sie den Korb ab und kniete sich vorsichtig auf einen Jutesack. Die Kellnerschürze, die sie trug, breitete sie vor sich auf dem Boden aus. Mit leichter Kraftanstrengung schob sie die hölzerne Trennscheibe nach oben und die staubigen Kartoffeln rumpelten ungeduldig in das aus unbehandeltem Eichenholz gefertigte Auffangfach. Als es voll war, begann sie, die Kartof feln, die von recht unterschiedlicher Größe und Qualität waren, in den Korb zu legen. Sie freute sich. Mit so viel Andrang hatten sie gar nicht gerechnet und jetzt wurden die Vorräte in der Küche knapp. Ein Kellner war sogar schon losgeschickt worden, neues Fassbier zu holen.

Ein Quietschen riss sie aus ihren Gedanken. Es waren wohl die Scharniere der schweren Eisentür, die in den Keller führte. Für einen kurzen Augenblick wehten die fernen Klänge des von der Kapelle gespielten Königswalzers hinab in den feuchten Keller. Ein Lichtstrahl huschte durch den Raum. Die Tür quietschte noch einmal kurz, dann herrschten wieder Stille und dämmrige Dunkelheit. Ein Schlüssel drehte sich knirschend im Schloss. Sie hielt den Atem an und lauschte. Nichts. Endlose Sekunden später begann sie langsam wieder, den Korb mit Kartoffeln zu füllen. Plötzlich ein neues Ge räusch. Schwere Schritte stapften ohne Hast die knarrende Holztreppe hinab. Ihr Kopf fuhr herum und ein kalter Schauer legte sich über ihren Rücken. Ihr Herz jagte, als sie sich zögernd erhob und sich zum Treppenabsatz umdrehte. Ihre zusammengekniffenen Augen konnten im trüben Gegenlicht kaum etwas sehen. Mit einem Mal trat eine riesige Gestalt in den kargen Raum. Die hünenhafte Erscheinung hob sich silhouettenhaft von der Steinwand ab. Doch so sehr sie sich mühte, sie konnte kein Gesicht erkennen.

„Wer sind Sie? Was wollen Sie?“, fragte sie ängstlich und erst jetzt spürte sie, dass sie am ganzen Körper zitterte.

„Guten Tag, schöne Frau“, brummte eine ihr sehr vertraute, männliche Stimme. Für einen kurzen Moment entspannten sich ihre Muskeln. Doch im nächsten Augenblick nahm der Tonfall einen frostigen und ungnädigen Klang an und ließ sie erschaudern.

„So alleine im Keller?“

Als sie unsicher antworten wollte, packte der Mann sie grob an beiden Armen und riss sie ruckartig an sich. Noch bevor sie schreien konnte, presste sich eine raue, massige Pranke wie ein Schraubstock auf ihren Mund. Über ihre vor Schreck aufgerissenen Augen legte sich ein dunkler Schatten.

1

Montag, 5. Mai, 17.05 Uhr

Es machte ein kurzes, schmatzendes Geräusch: „Swosch“. Dann war alles vorbei. Doktor Mauritz zog sich den Gummihandschuh, der ihm bis zur Schulter reichte, langsam aus. Er runzelte die Stirn. Seine Miene drückte eine gewisse Besorgnis aus.

Wilhelm Hastenrath stand ungeduldig mit verschränkten Armen vor ihm: „Und Doktor? Was ist es?“

Doktor Mauritz rollte den verschmierten Handschuh sorgfältig zusammen und warf ihn in eine Tüte, die er bereitge stellt hatte. „Ich befürchte, wir haben es hier mit einer akuten Mastitis zu tun.“

Auch Wilhelm Hastenrath legte nun die Stirn in Falten. „Ich habe es befürchtet. Ich hatte auch mal Probleme mit so was. Da muss ich auf dem Pfarrfest wohl eine Wurst gegessen haben, die nicht mehr gut war. Jedenfalls hatte ich Magenkrämpfe, das können Sie sich gar nicht vorstellen.“

Doktor Mauritz war nur kurz irritiert. Dann lächelte er. „Mastitis, Herr Hastenrath. Nicht Gastritis. Eine Mastitis ist eine Euterentzündung. Ich habe jetzt alle Kühe untersucht. Und bei den zweien hier vorne müssen wir wohl von einer schweren Euterentzündung ausgehen. Daher auch die ge röteten Stellen und die Schwellungen.“

 

„Und deshalb auch immer das Gebrüll die ganze Nacht?“

„Ich denke ja, Herr Hastenrath. Normalerweise brüllen Kühe zwar nur, wenn sie hungrig sind oder „stierig“, wie Sie zu sagen pflegen, aber in diesem Fall scheint mir die Entzündung doch sehr schmerzhaft zu sein. Ich werde gleich mal etwas Penicillin in die Euter spritzen und Ihnen eine anti biotische Salbe verschreiben, die Sie bitte dreimal täglich großflächig auftragen.“ Der fragende Blick des Landwirts veranlasste den Veterinär, noch einen Satz anzufügen: „Also nicht Sie ... sondern die Kuh ... Also, ich meine, Sie ... bei der Kuh.“

Hastenraths Will, wie er eigentlich von allen genannt wurde, nickte verständig. Der stattliche Endfünfziger mit der sonnen gegerbten Haut und dem etwas aus der Mode gekommenen Brillenmodell war ein erfolgreicher Landwirt. Wenngleich manchmal etwas großmäulig und unbeherrscht, war er insgesamt ein herzensguter Mensch, der mit einer gewissen Bauernschläue gesegnet war. Anders wäre es auch gar nicht möglich, in derart schweren Zeiten einen Hof wie den seinen einigermaßen profitabel zu bewirtschaften. Bereits in vierter Generation unterhielt Will ein sehr großes Gehöft mit vielen ungenehmigten Stallungen, Schuppen und Lagern. Als einer der letzten Landwirte in der Region betrieb er noch Viehwirtschaft. Er nannte 20 Milchkühe, 30 Schweine und knapp 100 Hühner sein Eigen. Außerdem beackerte er etwa 25 Hektar, also gut 100 Morgen, geerbten Lands, zumeist mit Zuckerrüben und Kartoffeln. Dr. Mauritz begann seine Utensilien zusammenzuräumen, die verstreut auf dem Boden lagen. Will zog seinen abgewetzten Bundeswehrparka aus, legte ihn über den Rücken einer Kuh und beugte sich ächzend hinunter zum Tierarzt, um ihm beim Packen zu helfen.

„Wissen Sie, Herr Doktor. Die Adelheid ist meine beste Milchkuh. Es ist ja alles gar nicht mehr so leicht heutzutage. Ich sag immer: Das Leben ist wie eine Hühnerleiter – kurz und beschissen. Die ganzen Verbrecher bei der EU ...“

Dr. Mauritz schnitt ihm das Wort ab, da er ahnte, welche Richtung das Gespräch einschlagen würde: „Herr Hastenrath, ich sehe gerade, ich habe von der Salbe noch eine Probe packung. Die kann ich Ihnen dalassen. Dann brauchen Sie keine zu kaufen.“

Will strahlte. Als er sich, gemeinsam mit Dr. Mauritz, wieder erhob, quietschten seine grünen Gummistiefel. Gut gelaunt spannte er mit den Daumen seine ausgefransten, grauen Hosenträger, die notdürftig seine übergroße, abgetragene graue Stoffhose hielten, und ließ sie dann ausgelassen gegen sein grün-weiß kariertes Hemd zurückschnellen. Eine Mode kombi nation übrigens, auf die er seit Jahren schwor.

„Das ist aber nett, Herr Doktor. Wenn ich Sie auch mal ein Gefallen tun kann, sagen Sie Bescheid. Dann nehme ich mir die Zeit.“

„Gerne.“ Der Doktor nickte gütig und sah demonstrativ auf seine Uhr. „Apropos Zeit. Ich muss weiter. Ich habe heute noch eine Trichinenschau in Tripsrath.“

Will nahm den Parka von der Kuh und zog ihn sich umständ lich wieder an. Während er seine grüne Schirmmütze zurechtrückte, sagte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete: „Aber ein Kaffee trinken Sie noch mit, oder?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, brüllte Will quer durch den Stall: „Marlene!“

Dr. Mauritz versuchte gar nicht erst, die rhetorische Frage zu verneinen: „Sehr gerne, Herr Hastenrath. Ich geh mir nur noch eben die Hände waschen.“

Während der Mediziner sich im Nebenraum die Hände schrubbte, musste er lächeln über Will, den komischen Kauz, der nahezu perfekt in dieses Dorf passte. Nicht ohne Grund war der Landwirt auch der Ortsvorsteher des kleinen Dorfes Saffelen, das weit hinten in der rheinischen Provinz lag. Die 800-Seelen-Gemeinde war Teil der täglichen Route von Doktor Mauritz, dessen Praxis sich in der gut 25 Kilometer entfernten Kreisstadt befand. Doktor Mauritz liebte seinen Beruf als Landtierarzt und er mochte auch diesen ganz eigenen Menschenschlag, mit dem er es hier tagtäglich zu tun hatte.

Erneut schallte Wills Stimme scheppernd durch den ge kachelten Waschraum: „Jetzt kommen Sie schon, Herr Doktor. Marlene ist gerade ein leckerer Filterkaffee am machen.“

Doktor Mauritz mochte auch diese eigenwillige Grammatik, wenngleich er es sich nicht zutraute, sie jemals fehlerfrei zu beherrschen.

2

Montag, 5. Mai, 17.10 Uhr

„Riiiita. Riiiiita.“ Borowkas verärgerte Stimme jagte durch die gut geschnittene 65-Quadratmeter-Wohnung. „Wo sind meine Stutzen?“ Richard Borowka war in Eile. Er musste dringend zum Training. Mit seinem Fußballverein SV Grün-Gelb Saffelen II befand er sich kurz vor Saisonende im toben den Abstiegskampf und da konnte er sich keinen Trainingsrückstand erlauben. Wobei das mit dem Abstiegskampf nicht ganz richtig war, denn der SV Saffelen spielte in der Kreisliga C, aus der man ohnehin nicht mehr absteigen konnte. Richard Borowka war mit seinen 34 Jahren der Star der Saffelener Mannschaft. Die C-Jugendlichen des Vereins schauten zu ihm auf. Borowka galt als einer der kompromisslosesten Vorstopper im Umkreis von 50 Kilometern. Er hatte in seiner Karriere weit mehr Kreuzbandrisse verursacht als Tore geschossen. Und nun stand diese lebende Fußball-Legende, der Mann, der allen seinen Mitspielern ein Vorbild an Einsatz und Härte war, der Mann, der das versteckte Foulspiel perfektio niert hatte, stand vor seinem Kleiderschrank und fand seine Stutzen nicht. Nicht, dass ihm das Tragen von Stutzen beim Training wichtig gewesen wäre. Schienbeinschoner waren in seinen Augen ohnehin nur etwas für Mädchen. Das Problem war, dass jeder, der seine Stutzen vergaß, fünf Euro in die Mannschaftskasse zahlen musste. Und Borowka war mal wieder sehr pleite.

„Riiita!“ Wütend riss er die Tür zum Wohnzimmer auf. Rita saß auf der abgewetzten Zweier-Couch und lackierte sich hochkonzentriert ihre langen, angeklebten Fingernägel. Zwischendurch kontrollierte sie immer wieder aus dem Augenwinkel, ob die Asche der Zigarette, die zwischen ihren Lippen hing, nicht auf ihre rosa Leggins fiel. Sie hatte Richard nicht rufen hören, da der Fernseher viel zu laut eingestellt war. Frauke Ludowig moderierte gerade einige Paparazzi-Urlaubsbilder von Cora Schumacher an.

„Rita, wo sind meine blöden Stutzen?“

Rita sah irritiert auf. Borowka hatte sich vor ihr aufgebaut. Er trug eine verwaschene, graue Trainingshose und ein T-Shirt mit der Aufschrift „Ich kann auch ohne Spaß Alkohol haben“. Sein blondes Haar trug er sorgfältig gefönt vorne kurz und hinten lang. Ein paar kaum merkliche braune Strähnchen durchzogen sein Haupthaar. Rita lächelte glücklich. Das war der Mann, in den sie sich vor nunmehr 16 Jahren unsterblich verliebt hatte, als er ihr um zwei Uhr nachts hinter dem Saffelener Schützenzelt seine Liebe gestanden hatte. Nervös, aber durch den Alkohol ein wenig aufgelockert, hatte er ihr das schönste Kompliment gemacht, das ihr jemals ein Mann ge macht hatte. Er hatte es ihr nicht nur gesagt, er hatte es in die Nacht hinausgeschrieen. Oder besser gesagt, er hatte es ihr ins Ohr gebrüllt, weil die Musik aus dem Festzelt so laut gewesen war. Im Schein Tausender funkelnder Sterne hatte er gebrüllt: „Rita, von allen Frauen hier im Festzelt finde ich dich noch mit am besten.“ Seitdem waren sie ein Paar, seit vier Jahren sogar verheiratet. Nie würde sie das Lied vergessen, das in diesem magischen Moment von der Bühne hinaus in die vom Vollmond aufgehellte Nacht geweht wurde: „Es war in Königswinter, nicht davor und nicht dahinter ...“ Es war bis heute ihr gemeinsames Lied.

„Was sagst du, Richard?“

Borowka war genervt: „Sag mal, sprech ich Kisuaheli? Mach doch mal der Fernseher leiser. Wo sind meine Stutzen?“

Rita fingerte sich vorsichtig mit der rechten Hand die Zigarette aus dem Mund und legte sie im übervollen Aschen becher ab. „Mutter hatte nicht genug Buntwäsche zusammen. Die Stutzen liegen noch im Waschkeller.“

Bevor Borowka antwor ten konnte, klingelte es an der Haustür Sturm. Sie sah ihn mit großen Augen an. „Geh du mal, Richard. Meine Fingernägel sind noch nicht trocken.“

Vor der Tür stand Fredi Jaspers. Seine ganze Körperhaltung verhieß nichts Gutes. Die Schultern hingen schlaff herunter. Sein volles, braunes Haar, das er wie sein Gegenüber vorne kurz und hinten lang trug, war ungekämmt, seine Augen glasig. „Kann ich reinkommen? Mir geht es nicht gut.“

Obwohl Borowka es eilig hatte, brachte er es nicht übers Herz, seinen besten Kumpel, mit dem er seit der Schulzeit befreundet war, abzuweisen. Im Flur fragte er routiniert: „Martina?“

Fredi nickte stumm. Sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Hastig kramte er ein großes Stofftaschentuch aus seiner blauen Röhrenjeans mit den braunen Lederaufsätzen hervor und schnäuzte sich laut vernehmlich die Nase.

Borowka wusste, dass er nun psychologisch vorgehen musste. Dass er die richtigen Worte finden musste, um seinem besten Freund wirklich eine Hilfe zu sein. Er nahm Fredi bei den Schultern, schüttelte ihn und sagte: „Bist du eigentlich nur bekloppt? Wie oft soll ich dir eigentlich noch sagen: Vergess die blöde Tante. Die hat sie doch nicht mehr alle.“

Fredi sah Borowka trotzig an. „Meinst du etwa, das wär alles so einfach für mich? Martina hat mich doch erst im Januar verlassen.“

Borowka verdrehte die Augen. „Jaaa, Fredi! Aber im Januar vor zwei Jahren. Kapier es doch endlich. Das ist vorbei. Ende, aus, Micky Maus. Mein Gott, wie lange ist das jetzt her, dass die bei dir ausgezogen ist?“

Fredi antwortete ohne zu zögern: „27 Monate, 7 Tage und 15 Stunden.“

Borowka schüttelte den Kopf und stemmte die Hände in die Hüften. „Fredi, so leid es mir tut. Ich muss los, zum Fußball. Ich bin sowieso schon viel zu spät dran. Wir können uns ja morgen nochmal ...“

Ohne vom Boden aufzusehen, presste Fredi mit tränener stickter Stimme hervor: „Die hat ein neuer Freund. Der heißt Sascha, kommt aus Mönchengladbach und fährt ein Audi A8.“

Borowka war wie vom Donner gerührt. Was das bedeutete, wurde ihm schlagartig klar. Zum ersten Mal seit der Trennung von Fredi hatte Martina einen neuen Freund. Konnte Fredi sich bisher noch mit der theoretischen Möglichkeit der Wiedervereinigung trösten, war seine Hoffnung nun in weite Ferne ge rückt. Borowka schob Fredi vorsichtig ins Wohnzimmer, wie einen Blinden, den man durch ein Minenfeld führt. Als Rita aufsah, gab er ihr mit einem verschwörerischen Handzeichen zu verstehen, dass sie verschwinden soll. Bei Fredis desolatem Anblick verstand sie sofort, blies sich noch einmal kurz über die Fingernägel und verschwand lautlos in Richtung Küche. Borowka bugsierte Fredi auf die Couch und setzte sich daneben. Er schlug ihm aufmunternd, aber behutsam auf die Schulter: „Weißt du was, Fredi? Wir trinken jetzt erst mal zwei, drei Bier und dann fahren wir zusammen zum Fußball. Es wird sowieso langsam Zeit, dass du mal wieder mitspielst. Und dann treten wir der Tonne und der Spargel mal richtig in die Beine, für uns abzureagieren. So wie früher immer. Was meinst du?“

Fredi schüttelte nur schwach den Kopf. „Weißt du, Borowka, dazu bin ich mental noch nicht in der Lage – und vom Kopf her schon mal gar nicht.“

3

Montag, 5. Mai, 17.25 Uhr

Schwarz und schwer tropfte der frische Filterkaffee in die Glas kanne und verbreitete einen angenehm-würzigen Geruch. Ein will kommener Kontrast zur Duftnote im schlecht be lüfteten Kuhstall, wie Doktor Mauritz erfreut feststellte, als er die Küche der Hastenraths betrat. Er hatte sich noch schnell die Hände gewa schen in dem kleinen, weiß gekachelten Raum neben dem großen Milchtank, in den die Melkmaschinen die frische Milch aus dem Stall über oberirdisch verlegte Hartplastikrohre hineinpumpten. Im Tank wurde die Milch gekühlt und ständig von einem rie sigen Schwenkarm in Bewegung gehalten. Jeden zweiten Tag zu den unterschiedlichsten Zeiten fuhr ein großer Tankwagen mit der Aufschrift „Eifeljuwel“ am Hof der Hastenraths vor. Der Fah rer öffnete eine Klappe an der Hauswand, führte einen großen Schlauch durch ein Loch in der Wand zum Milchsammelbecken und schloss ihn dort an. Nur etwa drei Minuten dauerte es, bis 800 Liter Milch abgepumpt waren. Dann fuhr er weiter.

Als Doktor Mauritz die Küche betrat, hatte Hastenraths Will bereits am großen Eichentisch Platz genommen und rieb sich erwartungsfroh die Hände. Da Doktor Mauritz viele Landwirte regelmäßig besuchte, war ihm der in solchen Küchen typische Stilmix nur allzu vertraut. Es hätte ihn geradezu irritiert, wenn alle Geräte und Schränke in dieser Küche zueinander gepasst hätten. Ein alter Gasherd stand neben einem modernen, schlanken Kühlschrank mit extra großem Tiefkühlfach. Dane ben ein Backofen von AEG, der, seiner Verblendung nach zu urteilen, aus derselben Serie stammte wie ein großer, brauner Vorratsschrank, der auf der anderen Seite des Raumes stand. Die zu dieser Serie gehörige Spüle meinte Doktor Mauritz einmal im Vorraum des Schweinestalls entdeckt zu haben. Will hatte darin damals mit seinen Händen das Schweinefutter an gerührt.

 

Doktor Mauritz lächelte selig, mochte er doch diese ganz spezielle Gemütlichkeit und natürlich auch die Herzlichkeit, die ihm in Person von Marlene Hastenrath entgegensprang, kaum dass er die Küche betreten hatte. Marlene war die Frau, mit der Will seit fast vierzig Jahren verheiratet war und die einen Großteil der Ländereien mit in die Ehe gebracht hatte. Nun wischte sie ihre Hände an ihrem geblümten Arbeitskittel ab und begrüßte den Doktor mit aufrichtiger Freude.

„Guten Morgen, Herr Doktor. Wie geht es Ihnen und unsere Kühe?“

„Guten Morgen, Frau Hastenrath. Mir geht es gut. Den Kühen im Großen und Ganzen auch. Bei zweien habe ich je doch eine akute Mastitis festgestellt. Also eine sehr schmerz hafte Euterentzündung, die wir ...“

Marlene Hastenrath schlug die Hände vors Gesicht und schüttelte besorgt den Kopf. „Mein Gott. Damit ist nicht zu spaßen. Das hatte Schlömer Lisabeth auch schon mal.“

Doktor Mauritz war sprachlos. Sein Mund stand offen und er war außerstande, etwas Sinnvolles zu entgegnen.

Hastenraths Will rief ungerührt vom Küchentisch herüber: „Mastritis, Marlene. Nicht Gastritis. Kommen Sie, Herr Dok tor, setzen Sie sich hier am Tisch.“

Doktor Mauritz ging, immer noch leicht konsterniert, zum Tisch und nahm auf der rustikalen Eckbank Platz. Marlene wendete sich erleichtert ihrer Küchenzeile zu. Während sie den duftenden Kaffee in eine weiße Porzellankanne mit rosa Ornamenten goss, plapperte sie unverdrossen weiter: „Da kenn ich nix von, Herr Doktor. Für mich sind das alles römische Dörfer. Aber das kriegen Sie im Griff, oder?“

Doktor Mauritz nickte: „Gar kein Problem. Ein paar Tage müssen Sie eine Salbe auftragen und dann müsste es den Kühen wieder besser gehen. Sie schreien dann auch bestimmt nachts nicht mehr rum. Sie können also bald wieder gut schlafen, Frau Hastenrath.“

„Ach, Herr Doktor“, Marlene winkte ab, „mich stört das Brüllen nicht. Ich hör es ja sowieso kaum, weil der Will im Nebenzimmer so laut schnarcht.“ Sie nahm die volle Kaffeekanne und kam damit an den Tisch. Sie goss zuerst dem Doktor, dann Will und schließlich sich selbst eine Tasse ein. Die Tassen standen bereits auf dem Tisch und stammten ganz offensichtlich aus einer anderen Produktionsserie als die Kanne, wie Doktor Mauritz schmunzelnd feststellte. Die Kanne stellte Marlene in der Mitte des Tischs ab, genau unter einem entrollten Klebeband, das lang von der Decke herun terhing. Daran klebten Hunderte von Fliegen – die meisten davon tot.

Marlene Hastenrath war eine sehr tüchtige und lebensfrohe Frau. Auf 168 Zentimetern verteilten sich relativ gleichmäßig gut 100 Kilo. Bei ihrer täglichen Arbeit auf dem Hof und im Haushalt trug sie am liebsten praktische Kittel. Zu offiziellen Anlässen jedoch, wie beim sonntäglichen Kirchenbesuch, liebte sie es, sich schick zu machen. Dann trug sie Kleider, Schmuck und sogar Make-up, im Winter elegante Pelzmäntel. Dass ihr Mann Will sie dann immer „Zirkuspferd“ nannte, überhörte sie geflissentlich. Auch wenn Will sich nichts aus Mode machte, so wusste sie genau, dass sie als Frau des Ortsvorstehers, sozusagen als First Lady von Saffelen, auch eine repräsentative Aufgabe wahrzunehmen hatte. Neben ihren verschiedenen Vereinsaktivitäten, wie etwa als Vorsitzende der katholischen Strickfrauen Saffelen, übernahm sie im Ort auch karitative Aufgaben. Sie kümmerte sich beispielsweise ehrenamtlich um die Organisation des Pfarrfestes, das in wenigen Tagen anstand. Der Erlös war für einen guten Zweck bestimmt, für den Kegelausflug der Strickfrauen nach Boppard.

Doktor Mauritz mochte die etwas burschikos anmutende Frau, insbesondere, weil es ihr mit ihrer ruhigen und ausgleich enden, manchmal vielleicht auch naiven Art meistens gelang, Will auf den Boden zurückzuholen, wenn dieser mal wieder übers Ziel hinausgeschossen war. Das einzige Problem war, dass man sich sehr geschickt in ein Gespräch mit Marlene einfädeln musste, um überhaupt selbst zu Wort zu kommen. Diese Kunst hatte Doktor Mauritz in den letzten Jahren perfektioniert. Er nannte sie stolz die „Apropos“-Methode.

Gerade holte Marlene wieder zu einer weitschweifigen Er klä rung zu einigen Umbaumaßnahmen auf dem Hof aus: „Bei der alte Hühnerstall war uns ja wegen die Statistik das Dach eingebrochen. Da hab ich für der Will gesagt ...“

„Apropos Einbruch“, ging Doktor Mauritz prompt dazwi schen, „gibt es eigentlich Neuigkeiten zu dieser unheimli chen Einbruchsserie in Saffelen?“

Die Einbrüche waren in der Tat unheimlich. Nachdem es in den vergangenen Jahrzehnten, abgesehen von ein paar jugendlichen Vandalismus-Aktionen in der Mainacht, in Saffelen so gut wie keine Kriminalität gegeben hatte, war in den letzten beiden Wochen insgesamt viermal gewaltsam in Häuser ein gebrochen worden. Die Polizei vermutete einen Serieneinbrecher, weil jeder Einbruch die gleiche Handschrift trug. Immer kam der Täter durch die Haustür, die er fachmännisch mit einem Dietrich geöffnet hatte.

Wieder war Marlene schneller mit der Antwort: „Ist das nicht schlimm, Herr Doktor? Vor allem bei der Witwe von Gerhard Geiser. Die arme Frau. Da ist ihr Mann gerade mal eine Woche tot, da wird auch noch in der ihr Haus eingebro chen. Bestimmt weil die bei der Beerdigung so einen teuren Pelzmantel anhatte mit so ein umgehängter toter Fuchs. Den hatte die gekauft bei ...“

„Apropos tot. Wer war denn noch mal Gerhard Geiser? Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.“

„Was? Sie kennen Gerhard Geiser nicht?“ Jetzt hatte Wills Stunde geschlagen. „Gerhard Geiser war der wichtigste Mann, der in Saffelen je gelebt hat. Er ...“

„Jetzt übertreib es nicht schon wieder, Will“, ging Marlene dazwischen. Doch dieses Mal ließ er sich nicht von seiner Frau bremsen.

„Gerhard Geiser war über 45 Jahre lang der Ortsvorsteher von Saffelen und fast genauso lang der erste Vorsitzende von fast alle Vereine in Saffelen, abgesehen von den katholischen Strickfrauen – da war der nur im Aufsichtsrat gewesen. Der Mann war eine Lichtgestalt, eine lebendige Legende. Als er mir vor fünf Jahre das Amt des Ortsvorstehers übertragen hat, da war das eine Ehre für mich. Ein paar Monate vor sein Tod ist er sogar noch zum Ehrenbürger des Kreises gewählt worden. Völlig zu Recht. Ich durfte ihn sogar nach dem Kreishaus hinfahren.“

„Ja ja“, ergänzte Marlene, „weil der vorher sein Führerschein aus Altersgründe abgeben musste. Wissen Sie, Herr Doktor, Gerhard Geiser war zwar ein einflussreicher und geachteter Mann, aber er war auch ein ganz schöner Sturkopf. Der ist das auch schuld mit die Euterentzündung.“

Doktor Mauritz zog die Augenbrauen hoch. Will winkte grimmig ab, sagte aber nichts.

„Der war es nämlich“, fuhr Marlene fort, „der der Will überredet hat, die Melkmaschine umprogrammieren zu lassen, dass die was stärker ist. Der Will hat immer alles gemacht, was der Gerhard gesagt hat. Der hat sogar ein gerahmtes Bild von Gerhard Geiser überm Telefon aufgehängt, das muss man sich mal vorstellen. Aber ich mochte der Gerhard nie so richtig, Herr Doktor. Dafür mag ich dem seine Frau umso lieber. Und die war sehr niedergeschlagen, als der Gerhard vor drei Wochen gestorben ist. Die wollte noch nicht mal meine Kiwi-Jägermeister-Torte ...“

„Apropos niedergeschlagen. Ist nicht bei einem dieser Einbrüche sogar jemand niedergeschlagen worden?“

„Das stimmt, Herr Doktor“, Will nickte ernst, „Eidams Theo hatte der Täter nachts im Flur überrascht und in ein mutiger Zweikampf versucht, dem zu überwältigen. Aber der Einbrecher war stärker und hat dem brutal mit ein schwerer Gegenstand auf der Kopf geschlagen. Das musste mit zwölf Stiche genäht werden. Der hat viel Glück gehabt, hat der Arzt gesagt“, Will war nachdenklich geworden, während er so sprach, „und wenn ich so da drüber überleg. Ich glaube, ich sollte in meiner Funktion als Ortsvorsteher eine ,Aktuelle Stunde‘ in der Gaststätte Harry Aretz einberufen. Und zwar mit sofortiger Wirkung. Für mal zu überlegen, wie wir auf die Einbrüche reagieren können.“

Marlene verschränkte die Arme vor der Brust und verzog verächtlich den Mund: „Pff. Aktuelle Stunde. Dass ich nicht lache. Ihr wollt doch bloß wieder blöde rumquatschen und am Ende seid ihr wieder alle voll wie die Eimer. Aber eins sag ich dir ...“

Doktor Mauritz sah demonstrativ auf die Uhr: „Apropos voll. Mein Terminkalender ist übervoll. Ich muss los.“ Der Doktor bedankte sich für den Kaffee, nahm seine Arzttasche und verabschiedete sich.

Aber Will hörte schon nicht mehr zu. Er überlegte bereits, mit welchen Worten er die „Aktuelle Stunde“ eröffnen würde. Schließlich ging es ja diesmal um ein wirklich wichtiges Thema. Allerdings ahnte Hastenraths Will zu diesem Zeit punkt noch nicht, dass er bereits mitten drin steckte – im größten Kriminalfall, der Saffelen je erschüttert hatte.

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