Dialektik der Ordnung

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Die Bedeutung des Zivilisationsprozesses

Die Vorstellung, Humanität sei aus präsozialer Barbarei erwachsen, wirkt moralisch aufbauend und ist als diagnostischer Mythos tief in das Bewußtsein unserer westlichen Kultur eingegraben. Dieser Mythos macht den Reiz und die Popularität mancher einflußreichen soziologischen Theorie und mancher historischen Abhandlung aus, wurde von diesen umgekehrt aber auch wissenschaftlich-intellektuell untermauert; jüngstes Beispiel ist Berühmtheit und überraschender Erfolg des von Elias beschriebenen »Zivilisationsprozesses«. Abweichlerische Sozialforscher wie etwa Michael Mann oder Anthony Giddens, die sich aus historisch-vergleichender beziehungsweise analytisch-theoretischer Sicht gründlich mit dem vielschichtigen Zivilisationsprozeß befaßt haben und im Gegensatz dazu die Zunahme militärischer Gewalt und staatlicher Repressalien als entscheidende Attribute einer sich entwickelnden Zivilisation sehen, haben es entsprechend schwer, diesen Mythos aus dem Handbuchwissen der wissenschaftlichen Zunft oder gar dem öffentlichen Bewußtsein zu verdrängen. Der Volksglaube ist von jeher nahezu immun gegen die Anfechtung seiner Mythen. Der traditionelle Zivilisationsbegriff wird getragen von einer großen Koalition wissenschaftlich-intellektueller Lehrmeinungen, zu der die liberalkonservative Vorstellung vom glorreichen Ringen zwischen Vernunft und Aberglauben zählt; Max Webers Konzept von der Zweckrationalität, die immer mehr mit immer weniger Aufwand erreicht; das psychoanalytische Versprechen, das Animalische im Menschen zu entlarven, zu packen und zu bändigen; die Marxsche Prophezeiung, Leben und Geschichte würden schließlich, seien die Beschränkungen der Produktivkräfte nur erst abgeworfen, vom Menschen beherrscht; die Zivilisationstheorie von Norbert Elias, die eine Verdrängung der Gewalt aus dem Alltagsleben annimmt; und nicht zuletzt die zahllosen Fachleute, die versichern, soziale Probleme könnten durch vernünftige Politik behoben werden. Im Kern stützt sich diese Allianz auf eine Vorstellung vom »Gartenstaat«, die die regierte Gesellschaft als Feld der Planung, Veredelung und Unkrautvernichtung begreift.

Wie sollte man unter dem Einfluß dieses im modernen Alltagsbewußtsein tief verwurzelten Mythos den Holocaust anders beschreiben denn als Entgleisung der Zivilisation (und damit des zweckrationalen, vernunftgeleiteten menschlichen Handelns) bei der Bändigung aggressiver Triebreste? Mit anderen Worten: Die Hobbessche Vision gilt nach wie vor, das Hobbessche Dilemma ist noch immer nicht bewältigt. Oder: Wir haben noch nicht genug Zivilisation, der Zivilisationsprozeß harrt noch seiner Vollendung. Die wichtigste Lehre aus dem organisierten Massenmord wäre demnach: Größere zivilisatorische Anstrengungen sind vonnöten, sollen derartige Rückfälle in die Barbarei vermieden werden. Zweifel an der Wirksamkeit solcher Bemühungen und deren Ergebnis sind selten. Wir wähnen uns auf dem richtigen Kurs, alles andere ist eine Frage des Tempos.

In dem Maße, wie die historische Forschung die Fakten freilegt, gewinnt eine alternative, womöglich glaubwürdigere Interpretation des Holocaust an Kontur: Der Holocaust habe gezeigt, wie schwach und zerbrechlich die menschliche Natur (das heißt die natürliche Abscheu und Abneigung gegenüber Mord und Gewalt, die Angst vor Schuldbewußtsein und immanentes Verantwortungsgefühl) sich erwiesen habe, konfrontiert mit der nüchtern-sachlichen Effizienz der gepriesenen Produkte der Zivilisation: der Technologie, den rationalen Entscheidungskriterien und der Tendenz, Denken und Handeln rational zu begründen und berechenbar zu machen. Die Hobbessche Dimension des Holocaust erhob sich nicht aus einem zu flach geratenen Grab und kam nicht in einem Tumult irrationaler Gefühle über die Menschen. Der Holocaust kam in einer Gestalt, die Hobbes ganz und gar fremd gewesen wäre, auf einem fabrikneuen Vehikel, mit Waffen, die fortschrittlichste Wissenschaft erst ermöglicht hatte, und nach einem wissenschaftlicher Präzision folgenden Schlachtplan. Die moderne Zivilisation war gewiß nicht die einzige, mit größter Wahrscheinlichkeit aber eine notwendige Voraussetzung des Holocaust. Ohne die Zivilisation ist der Holocaust undenkbar. Erst die rational bestimmte Welt der modernen Zivilisation macht den Holocaust möglich. »Der von den Nazis verübte Massenmord an den europäischen Juden stützte sich nicht nur auf die technologischen Errungenschaften der Industriegesellschaft, sondern auch auf die organisatorische Effizienz ihrer Bürokratie.«17 Man führe sich vor Augen, wodurch der Holocaust einzigartig in der Zivilisationsgeschichte wird, die an Beispielen von Massenmord nicht gerade arm ist:

Aus der Beamtenschaft gewann das hierarchische System das Organisationstalent und die bürokratische Gründlichkeit. Vom Militär übernahm die Vernichtungsmaschinerie Präzision, Disziplin und die Affektlosigkeit. Der Einfluß der Industrie machte sich in der Betonung von genauer Buchführung, Wirtschaftlichkeit und optimaler Verwertung sowie in der industriellen Effizienz der Todeslager bemerkbar. Die Partei schließlich durchtränkte den gesamten Apparat mit ›Idealismus‹, ›Sendungsbewußtsein‹ und einem Gefühl historischer Bedeutung …

Wir haben es hier in der Tat mit gesellschaftlichen Organisationsstrukturen in einer ganz spezifischen Variante zu tun. Obwohl es um einen Massenmord ungeheuren Ausmaßes ging, kümmerte sich der riesige Beamtenapparat um die korrekten bürokratischen Verfahren, feilte an präzisen Begriffsbestimmungen und regulativen Details und sorgte sich um die Einhaltung bestehender Gesetze und Verordnungen.18

Die Abteilung der SS-Führung, die mit der Vernichtung der europäischen Juden befaßt war, hieß offiziell Wirtschaftsverwaltungshauptamt (WVHA) – das war nur zum Teil als Deckname gedacht und nur zum Teil erklärbar als »Sprachregelung« mit dem Zweck, zufällige Beobachter von außen zu täuschen, oder um die weniger Hartgesottenen in den eigenen Reihen zu beruhigen. Die Bezeichnung spiegelt auch getreu den organisatorischen Charakter der Abteilung wider und ist daher um so beunruhigender. Von der Abscheulichkeit ihrer Aufgabe (oder genaugenommen der moralischen Größenordnung) abgesehen, ähnelten die Maßnahmen der Abteilung in formaler Hinsicht (der einzigen bürokratisch legitimen Form von Sinngebung) denen »normaler«, geplanter und durchorganisierter Maßnahmen in Verwaltung oder Wirtschaft. Denn für jede Handlung, die einer bürokratischen Rationalisierung unterzogen werden kann, ist Max Webers nüchterne Charakterisierung der modernen Verwaltung zutreffend:

Genauigkeit, Schnelligkeit, Eindeutigkeit, Kenntnis der Akten, Kontinuität, Diskretion, Einmütigkeit, strenger Gehorsam, reduzierte Reibungsverluste sowie Material- und Personalkosten – all das erreicht in einer streng bürokratischen Verwaltung einen Kulminationspunkt … Die Bürokratisierung bietet zuallererst die Möglichkeit der Spezialisierung von Verwaltungsfunktionen auf der Basis völlig objektiver Kriterien. … ›Objektive‹ Amtsausübung richtet sich nach berechenbaren Regeln und wird ›ohne Ansehen der Person‹ vollzogen.19

Die Übertragung dieser Definition von Bürokratie auf den Holocaust mag vielen als furchterregende Travestie oder als Zynismus besonderer Grausamkeit erscheinen.

Und doch: Der Holocaust liefert eine wichtige Hilfe zum Verständnis der modernen bürokratischen Rationalisierung, und zwar nicht nur, weil daran erkennbar wird, was ohnehin jedermann weiß, daß nämlich bürokratisches Streben nach Effizienz mit formaler und ethischer Blindheit erkauft wird. Die Bedeutung des Holocaust erschöpft sich ebensowenig darin, daß wir erkennen, in welchem Maße dieser beispiellose Massenmord hochentwikkelte Qualifikation und präzise Arbeitsteilung voraussetzte, den reibungslosen Fluß von Anweisung und Information ebenso wie die unpersönliche und perfekt synchronisierte Einzelaktion – mit einem Wort all jene Qualifikationen und Fähigkeiten, die in einer Büro- und Verwaltungsatmosphäre kultiviert werden. Nein, der Holocaust rückt unser Wissen von der bürokratischen Rationalität in ein viel grelleres Licht, sobald wir uns bewußt werden, daß das Konzept der Endlösung* geradezu als Ergebnis der bürokratischen Kultur zu betrachten ist.

Karl Schleuner20 verdanken wir die Einsicht, daß die physische Vernichtung der europäischen Juden einen sehr komplexen Verlauf nahm. Die Endlösung entsprang weder der Vision eines wahnsinnigen Monsters, noch vollzog sie sich nach wohlüberlegten Entscheidungen im Sinne einer »Problemlösung« ideologisch motivierter Führer. Der Gedanke der Endlösung entwickelte sich allmählich und nahm in jedem Stadium Richtungswechsel vor, dabei auf Krisen reagierend und vorangetrieben von der »Entschlossenheit, jedes sich bietende Hindernis zu überwinden«. Schleuners Konzept faßt anschaulich die Erkenntnisse der »Funktionalisten« unter den Historikern des Holocaust zusammen, die sich in den letzten Jahren zunehmend gegen die »Intentionalisten« durchsetzten, deren Kausalerklärung des Holocaust, das heißt die Vorstellung einer dem Genozid an den Juden eigenen Motivationslogik oder Konsistenz, kaum noch haltbar ist.

Die Funktionalisten sehen die Dinge so: Hitler benannte das Ziel des Nazismus: »Entfernung der Juden, das heißt ein judenfreies* deutsches Reich* – legte jedoch nicht fest, wie dieses Ziel zu verwirklichen sei.21 In dem Augenblick, als Klarheit über das Ziel herrschte, folgte alles dem von Max Weber hellsichtig beschriebenen Schema: »Der ›politische Führer‹ sieht sich in der Rolle des ›Dilettanten‹, konfrontiert mit dem ›Fachmann‹, einem ausgebildeten Technokraten aus den Reihen der Verwaltungshierarchie.«22 Der Befehl lautete, das Ziel zu verwirklichen, das »Wie« richtete sich nach den Umständen, nach der »fachmännischen« Beurteilung von Durchführbarkeit, nach Kostengesichtspunkten sowie alternativen Lösungsmodellen. So entschied man sich zunächst für die Emigration als praktische Umsetzung der Wünsche des Führers; hätten sich andere Länder aufnahmebereiter gegenüber den jüdischen Flüchtlingen gezeigt, wäre das judenfreie* Deutschland vielleicht auf diese Weise zu verwirklichen gewesen. Nach dem »Anschluß« Österreichs verdiente sich Eichmann erste Lorbeeren mit der Forcierung der jüdischen Massenemigration. Aber das von den Nazis beherrschte Territorium wuchs. Zunächst schwebte der Nazi-Bürokratie die Eroberung und Verwendung semikolonialer Territorien als Wunschlösung im Sinne des Führers vor: Generalgouvernements* schienen die geeigneten Auffangräume für die Juden aus dem rassisch zu säubernden Reichsgebiet. Als künftiges »Judenreservat« war Nisko in Mittelpolen (Westgalizien) im Gespräch. Die deutsche Bürokratie in den eroberten polnischen Gebieten stellte sich jedoch quer. Man hatte zu viele Probleme mit den »eigenen« Juden. Eichmann beschäftigte sich nun ein ganzes Jahr mit dem Madagaskar-Projekt: Warum nicht jetzt, da Frankreich besiegt war, die ferne Kolonie in einen Judenstaat verwandeln, der in Europa nicht realisierbar war? Dieses Projekt wurde jedoch für undurchführbar erklärt, zu groß waren die Entfernung und die damit verbundenen logistischen Probleme, zumal angesichts britischer Präsenz auf den Weltmeeren. Unterdessen vergrößerte sich das okkupierte Gebiet und damit die Zahl der unter Naziherrschaft geratenden Juden weiter. Ein von den Nazis beherrschtes Gesamteuropa (nicht nur ein neuerliches »Großdeutschland«) zeichnete sich ab, das »Tausendjährige Reich«* nahm allmählich aber unaufhaltsam die Gestalt des deutsch beherschten Europa an. Die Forderung eines judenfreien Deutschlands geriet in diesen Sog und wandelte sich fast unmerklich zur Vision eines judenfreien* Europa. Für ein derartig monumentales Projekt reichte eine »Überseelösung« nicht aus. (Eberhard Jäckel verweist jedoch darauf, daß es noch im Juli 1941, als Hitler mit der Bezwingung der Sowjetunion binnen weniger Wochen rechnete, Pläne gab, alle europäischen Juden in die russischen Weiten jenseits der Linie Archangelsk-Astrachan zu deportieren.) Als sich der Zusammenbruch Rußlands hinauszögerte und alternative Lösungen mit der wachsenden Dringlichkeit des Problems nicht Schritt hielten, ordnete Himmler am 1. Oktober 1941 die Beendigung sämtlicher Emigrationsmaßnahmen an. Die »Entfernung der Juden« wurde auf andere Weise angestrebt: Die Massenvernichtung wurde als einzig praktikables und effizientes Mittel für die ursprüngliche, inzwischen aber erweiterte Zielsetzung erkoren. Alles andere war nur noch eine Frage der Kooperation der beteiligten bürokratischen Abteilungen; eine Frage der minutiösen Planung, der Entwicklung geeigneter Technologien und Geräte, der finanziellen Etats und Bereitstellung notwendiger Ressourcen – das heißt also, eine bürokratische Routineangelegenheit.

 

Das ist die erschütterndste Lehre aus der Analyse des »komplexen Phänomens Auschwitz«, die Tatsache, daß die Wahl physischer Vernichtung als des richtigen Mittels zur Entfernung* der Juden das Ergebnis eines bürokratischen Entscheidungsprozesses war, bei dem Kosten-Nutzen-Überlegungen, Finanzfragen und einheitliche Regelauslegung eine Rolle spielten. Um es noch deutlicher zu formulieren: Die Entscheidung wurde im ernsthaften Bemühen um möglichst rationelle Lösungen für sich verändernde Problemstellungen getroffen. Auch die vielzitierte Tendenz der Bürokratie zur Erweiterung von Zielsetzungen – so normal wie bürokratische Routine – hatte daran wesentlichen Anteil. Allein die Tatsache, daß es Funktionäre mit speziellen Aufgaben gab, hatte zur Folge, daß immer neue Initiativen ergriffen und die ursprünglichen Ziele ständig höher gesteckt wurden. Das Expertenwissen – das eigentlich nur instrumentellen Charakter hatte – bewies wieder einmal seine Eigendynamik und eine ausgeprägte Neigung, die ursprünglich gesetzten Ziele zu übertreffen und umzudefinieren.

Allein die Tatsache, daß es eine Gruppe von Fachleuten für Judenfragen gab, verlieh der nazistischen Judenpolitik eine bürokratische Eigendynamik. Noch 1942, als Deportationen und Massenmord bereits begonnen hatten, wurde es den Juden gesetzlich untersagt, Haustiere zu halten, arische Friseure aufzusuchen oder das Reichssportabzeichen zu erwerben. Es bedurfte keiner besonderen Weisungen von oben – das Aufgabengebiet eines »Fachmannes« für Judenfragen bot die Gewähr, daß die Kontinuität der diskriminierenden Gesetzgebung nicht abriß.23

Zu keinem Zeitpunkt ihrer langen, qualvollen Vollstreckung geriet die Endlösung in Widerspruch zu den Grundsätzen der Rationalität. In keiner Phase kollidierte die »Endlösung« mit dem rationalistischen Credo effizienter, optimaler Zielverwirklichung. Im Gegenteil, der Holocaust entsprang genuin rationalistischen Überlegungen und wurde von einer Bürokratie in Reinkultur produziert. Die Menschheit hat Massaker, Pogrome und Massenmorde in der Nähe des Genozids erlebt, die ohne moderne bürokratische Unterstützung, ohne deren administrativ-technische Möglichkeiten und rational begründete Organisationsstrukturen vollzogen wurden. Der Holocaust war ohne eine solche Bürokratie jedoch undenkbar. Er ist keineswegs das irrationale Hervorbrechen nicht überwundener Relikte prämoderner Barbarei. Der Holocaust ist ein legitimer Bewohner im Haus der Moderne, er könnte in der Tat in keinem anderen je zu Hause sein.

Das soll nicht heißen, der Holocaust sei durch die moderne Bürokratie oder die in ihr verkörperte Kultur des instrumentellen Rationalismus determiniert gewesen; die moderne Bürokatie bringt nicht notwendig holocaustartige Phänomene hervor. Dennoch, so lautet meine These, sind die Grundsätze eines instrumentellen Rationalismus eindeutig ungeeignet, derartige Phänomene zu verhindern; auf der Ebene dieser Grundsätze lassen sich die Methoden des Holocaust nicht von »sauberem Social Engineering« trennen, weil nämlich deren irrationaler Charakter unerkannt bleibt. Ich gehe noch weiter: Gerade die bürokratische Kultur, die Gesellschaft ja als administratives Objekt und Konglomerat von »Problemen« begreift, die einer Lösung harren, schuf die Atmosphäre, in welcher der Gedanke des Holocaust langsam, aber kontinuierlich reifen und zur Vollstreckung gebracht werden konnte. Die Problemstellungen, deren Lösung das »Social Engineering« in Angriff nimmt, entsprechen einer »Natur«, die »beherrscht«, »gebändigt«, und »gebessert« oder »umgestaltet« werden muß wie ein Garten, dessen Planung notfalls gewaltsam durchzusetzen und zu sichern ist (in der Terminologie des Gärtners besteht eine strenge Trennung zwischen »Kulturpflanzen« und »Unkraut», das ausgemerzt werden muß). Ich behaupte schließlich, daß der Geist des instrumentellen Rationalismus und seine moderne bürokratisch-institutionalisierte Ausprägung die Lösungmöglichkeiten in der Art des Holocaust nicht nur ermöglichte, sondern »rational« begründbar machte – und damit die Wahrscheinlichkeit erhöhte, daß man sich für sie entschied. Unterstützt wurde diese Tendenz nicht zuletzt durch die Fähigkeit moderner bürokratischer Systeme, das Handeln vieler, an sich ethisch eingestellter Individuen derart zu koordinieren, daß am Ende jedes noch so unethische Ziel zu verwirklichen ist.

Die soziale Erzeugung moralischer Indifferenz

Dr. Servatius, der Verteidiger Eichmanns in Jerusalem, faßte seine Verteidigungslinie so zusammen: Eichmann beging Taten, für die man als Sieger dekoriert, als Unterlegener aber an den Galgen kommt. Die Botschaft dieser Aussage – zynischere hat es in diesem an provozierenden Einsichten nicht gerade armen Jahrhundert kaum gegeben – ist banal: Wer die Macht hat, hat das Recht.

Die zweite Botschaft, versteckter, jedoch nicht weniger zynisch und viel alarmierender ist diese: Eichmann habe im Prinzip nichts getan, was nicht auch auf seiten der Sieger geschehen sei. Handeln an sich hat keine ethische Dimension und kann daher auch nicht unmoralisch sein. Die moralische Beurteilung wird der Handlung von außen aufgepfropft und ist grundsätzlich anderen Kriterien unterworfen, als jene es sind, die das Handeln selbst bestimmen.

Das Beunruhigende an der Botschaft des Dr. Servatius ist, daß sie – losgelöst von den Umständen, unter denen sie formuliert wurde, und reduziert auf ihren überindividuellen, universalen Kern – von den traditionellen Thesen der Soziologie nicht zu unterscheiden ist, mehr noch: nicht zu unterscheiden von dem, was das Selbstverständnis unserer – kaum je hinterfragten, geschweige denn umstrittenen – modernen rationalistischen Gesellschaft ist. Das ist der eigentliche Grund dafür, daß die Aussage von Dr. Servatius so schockierend ist. Sie enthält eine »Wahrheit«, vor der wir lieber die Augen schließen: Legt man diese Überzeugung der Wahrheitsfindung zugrunde, dann kann auch der Fall Eichmann, soziologisch gesehen, von dieser Wahrheit nicht ausgenommen werden.

Der Holocaust kann mittlerweile nicht mehr, wie anfänglich, als Greueltat von geborenen Verbrechern, Sadisten, Psychopathen, Soziopathen oder moralisch defekten Individuen interpretiert werden. Die Fakten widerlegen diese Theorie, obwohl die historische Forschung zu diesem Komplex keineswegs als abgeschlossen gelten kann. Repräsentativ für den gegenwärtigen Stand der Forschung sind Kren und Rappoport:

Legt man herkömmliche klinische Kriterien zugrunde, könnte man höchstens 10 Prozent der SS-Leute als ›anomal‹ bezeichnen. Diese Beobachtung läßt sich mit Aussagen von KZ-Überlebenden belegen, denen zufolge in den meisten Lagern nur einige wenige SS-Aufseher wegen besonders sadistischer Grausamkeiten berüchtigt waren. Galten die übrigen auch nicht unbedingt als anständig, so doch zumindest als berechenbar …

Wir sind der Überzeugung, daß die überwiegende Mehrheit der SS-Männer, Führer sowohl als Mannschaften, ohne Probleme die Anforderungen der psychologischen Standardtests für amerikanische Rekruten oder Polizisten erfüllt hätten.24

Daß die Mehrzahl der Vollstrecker des Genozids normale Menschen waren, die man selbst mit strengen herkömmlichen psychologischen Tests nicht hätte aussieben können, verletzt unser moralisches Empfinden. Aus wissenschaftlicher Sicht muß ferner zu denken geben, daß gleichzeitig auch die organisatorisch-administrativen Strukturen, die individuelles Handeln zu dem Gesamtprojekt Genozid zusammenfaßten, ganz »normal« waren. Wir haben bereits gesehen, daß die für den Holocaust verantwortlichen Institutionen zwar kriminelle, jedoch im eigentlichen soziologischen Sinn keine pathologischen oder anomalen Merkmale aufwiesen. Und nun erkennen wir, daß auch die handelnden Personen im wesentlichen nicht von der Norm abwichen. Dieses theoretische Dilemma zwingt uns, die vermeintlich unproblematischen, normalen Muster modernen, rationalen Handelns genauer zu durchleuchten, denn sie tragen in sich ein Potential, das im Holocaust so dramatisch ans Licht getreten ist.

Nach dem berühmt gewordenen Wort von Hannah Arendt bestand das größte (allerdings mit erstaunlichem Erfolg gemeisterte) Problem der Urheber der Endlösung* darin, »das animalische Mitleid auszuschalten, das jeder normale Mensch angesichts physischer Leiden empfindet«25. Die Personen, die den an der Massenvernichtung direkt involvierten Organisationen angehörten, waren weder anomal sadistisch veranlagt, noch ausgesprochene Fanatiker. Man darf annehmen, daß sie die instinktive menschliche Aversion gegen das Zufügen von Leid besaßen und höchstwahrscheinlich auch die universale Tötungshemmung. Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang, daß übereifrige, emotionalisierte und ideologisch fanatisierte Personen aus den Reihen der Einsatzgruppen* und ähnlicher Einheiten, die direkt an Tötungsaktionen teilnahmen, ausgemustert wurden. Man wollte die individuelle Initiative bremsen und bemühte sich um eine betont sachliche, unpersönliche »Erledigung« der Aufgabe. Persönliche Bereicherung und persönliche Motive waren unter Strafandrohung verboten. Wurden »niedere Beweggründe« – und nicht die befohlene organisierte Aktion – als Motiv nachgewiesen, führte dies (zumindest auf dem Papier) zu einer Bestrafung wegen Mordes oder Totschlags. Himmler hat bei zahlreichen Anlässen eine aller Wahrscheinlichkeit nach echte Besorgnis geäußert, wie die geistige Gesundheit und Moral seiner tagtäglich mit dem inhumanen Geschäft befaßten Untergebenen aufrechtzuerhalten sei; bei anderer Gelegenheit zeigte er sich sichtlich stolz, daß Gesundheit und Moral seiner Männer unter dieser Belastungsprobe nicht gelitten hätten. Die SS distanzierte sich gerade wegen ihrer Sachlichkeit* von ›emotionalen‹ Typen wie Streicher, dem »unrealistischen Narren«, und auch von gewissen »Parteibonzen, die sich teutonisch-germanisch gebärdeten, als wären sie mit Hörnern und Fell bekleidet«.26 Die SS-Führung wußte, warum sie sich lieber auf organisatorische Routine verließ als auf individuellen Eifer; Disziplin war wichtiger als ideologisches Engagement. Die pflichtgetreue Durchführung des blutigen Geschäfts ließ sich in der Tat nur mit bedingungsloser Funktionalität im Rahmen der Organisation absichern.

 

Man konnte »animalisches Mitleid« nicht ausschalten, indem man andere primitive Instikte freisetzte; diese mußten sich eher störend auf organisatorische Handlungsfähigkeit auswirken. Blutrünstige, mordlüsterne Horden können sich mit der kalten Effizienz eines kleinen, disziplinierten und streng durchorganisierten bürokratischen Stabes nicht messen. Eine aktive Beteiligung am Töten hätten die Tausende von normalen Beamten und Fachleuten, ohne deren Mitwirken auf den verschiedensten Ebenen dieses gigantische Unternehmen undurchführbar gewesen wäre, weit von sich gewiesen. Hilberg schreibt dazu:

Die Täter wurden unter der deutschen Bevölkerung nicht eigens ausgewählt … Es lag in der Natur der administrativen Organisation, des juristischen Systems und der Finanzverwaltung, daß eine spezielle Auswahl und Schulung gar nicht nötig war. Jedes Mitglied der Ordnungspolizei konnte als Aufseher eines Ghettos oder Deportationszuges eingesetzt werden. Von jedem Juristen des Reichssicherheitshauptamtes wurde erwartet, eine Einsatzgruppe führen zu können. Und jeder Finanzfachmann des Wirtschaftsverwaltungshauptamtes hatte die Vorausetzungen für den Dienst in einem Todeslager. Die gesamte Aufgabe ließ sich also mit dem bereits vorhandenen Personal bewältigen.27

Und wie wurden ganz normale Deutsche zu Massenmördern? Folgt man Herbert C. Kelman28, so werden moralische Hemmungen gegen Gewalt und Greueltaten abgebaut, wenn drei Bedingungen erfüllt sind, ganz gleich ob diese einzeln oder in Kombination auftreten. Die Gewalt muß durch Befehl von oben autorisiert sein, die Handlungen müssen Routinesache sein (durch eine regelbestimme Praxis und exakte Aufgabenzuweisung) und die Opfer müssen einem Prozeß der Dehumanisierung unterliegen (durch ideologische Definition und Indoktrination). Mit der dritten Bedingung werden wir uns erst später befassen, doch die beiden ersten klingen vertraut. Wir kennen sie als Prinzipien rationalen Handelns, in denen die repräsentativsten Institutionen der Moderne universal verankert sind.

Das erste für unsere Fragestellung offensichtlich relevante Prinzip innerhalb bürokratischer Apparate ist das der Disziplin, konkret also der Anspruch, alle Handlungsantriebe dem Gehorsam gegenüber Vorgesetzten unterzuordnen und sich dem durch Anweisung des Vorgesetzten definierten Funktionieren des Apparates mit ausschließlicher Hingabe zu widmen. Unter den möglichen »externen« Störfaktoren gelten persönliche Ansichten und Vorlieben als besonders bedenklich, daher werden sie unterdrückt und möglichst beseitigt. Idealerweise strebt die Disziplin eine totale Identifikation mit dem Apparat an oder, anders ausgedrückt, die Bereitschaft, die eigene Identität und die eigenen Ziele zu opfern (sofern sie nicht sowieso schon in den Zielen des Apparates aufgehen). In der Ideologie von Apparaten wird die Bereitschaft zu dieser extremen Form der Selbstaufopferung als moralische Tugend bezeichnet, und zwar als Kardinaltugend, die jeden anderen moralischen Anspruch verdrängt. Die selbstlose Unterordnung unter diese Tugend wird mit Max Webers berühmtem Wort zur »Ehre des Beamten«: »Die Ebene des Beamten liegt begründet in seiner Fähigkeit, die Befehle seiner Vorgesetzten so auszuführen, als beruhten sie auf eigener Überzeugung. Das gilt auch dann, wenn der Befehl ihm falsch erscheint und der Vorgesetzte trotz der Einwände des Beamten daran festhält.« Diese Verhaltensweise erfordere vom Beamten »moralische Disziplin und hochgradige Selbstverleugnung«29. Im Begriff der Ehre wird moralische Verantwortung durch Disziplin ersetzt. Die Legitimierung allein durch Geist und Buchstaben der Regeln des Apparates und, verbunden damit, die Entmachtung der autoritativen Kraft des Gewissens gelten als höchste Tugend. Unbehagen bei der praktischen Umsetzung ist nicht grundsätzlich auszuschließen, kann aber durch die Zusicherung des Vorgesetzten im Lot gehalten werden, er allein trage die Verantwortung für das Handeln des Untergebenen (solange der Befehl genau ausgeführt wird). Max Weber hob in seiner umfassenden Darstellung der Beamtenehre die »ausschließliche persönliche Verantwortung« des Vorgesetzten hervor, die dieser »nicht verweigern oder übertragen kann und darf«. Als Ohlendorf während der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse gefragt wurde, warum er von seinem Posten als Leiter der Einsatzgruppe*, deren Aktionen er persönlich mißbilligte, nicht zurückgetreten sei, berief er sich auf dieses Verantwortungsprinzip: Um sich der verhaßten Verantwortung entziehen zu können, hätte er die Taten seiner Einheiten aufdecken und seine Männer »falschen Anschuldigungen« aussetzen müssen. Ohlendorf zählte andererseits auf die gleiche fürsorgliche Einstellung seitens seiner eigenen Vorgesetzten, so daß er sich entsprechend von moralischen Skrupeln entlastet fühlte – diese überließ er getrost den eigenen Befehlsgebern – »Ich glaube, ich bin nicht in der Lage zu beurteilen, ob die mir befohlenen Maßnahmen … moralisch einwandfrei waren. Gewissensfragen konnte ich mir als Soldat mit niedrigem Dienstgrad und daher als Rad in einer großen Maschinerie nicht erlauben.«30

So wie alles, was Midas berührte, zu Gold wurde, so verwandelte die SS-Verwaltung alles, was in ihren Machtbereich geriet – einschließlich der Opfer – ihren hierarchischen Befehlsstrukturen an, in denen strenge Disziplin und moralisch gesehen ein Vakuum herrschte. Der Genozid war eine Kollektivproduktion; wie Hilberg gezeigt hat, gehörten dazu die von Deutschen begangenen Taten und die – auf deutschen Befehl, aber mit an Selbstaufgabe grenzendem Gehorsam geleistete – Mitwirkung der jüdischen Opfer. Besonders darin erweist sich die technische Überlegenheit einer zielgerichteten, rationell organisierten Massenvernichtung gegenüber ungeordnet gewalttätigen Ausschreitungen. Die Mitwirkung der Opfer eines Pogroms ist schlechterdings nicht vorstellbar. Die Unterstützung der SS-Bürokratie im Holocaust durch die Opfer war vorausgeplant und sogar eine entscheidende Voraussetzung für dessen Gelingen. »Der gesamte Prozeß hing in großem Maße von der jüdischen Mitwirkung ab – sowohl in individueller Form als auch organisiert seitens der Judenräte … die deutschen Behörden verlangten von den Judenräten Informationen, Geld, Arbeits- oder Ordnungskräfte, und diese wurden zur Verfügung gestellt.« Die Ausweitung der bürokratischen Regeln, bei der gleichzeitig jedes andere Loyalitätsverhältnis und jedes moralische Motiv zum Schaden der Opfer dieser Bürokratie kriminalisiert wurde, um sie schließlich mit deren eigener Intelligenz und Arbeitskraft zu vernichten, entsetzt. Entsprechende Mechanismen lassen sich aber in jeder Form von Bürokratie, ob nun bösartig oder mildtätig, entdecken. Im Fall des Holocaust gelang dies zum einen durch die Organisation der Ghettos, die die Judenräte und die Ghettobewohner in jeder Hinsicht den »funktionalen« Zwecken der Deutschen unterwarf. »Was die Lebensfähigkeit [des Ghettos] aufrechterhielt, diente automatisch deutschen Zielen… das jüdische Geschick bei der Zuteilung von Wohnraum oder der Verteilung der Lebensmittelrationen erhöhte die deutsche Effizienz. Jüdische Rigorosität in der Steuereintreibung oder bei der Arbeitseinteilung diente der Durchsetzung deutscher Härte, selbst die Unbestechlichkeit konnte der deutschen Verwaltung noch nützlich sein.« Zum zweiten wurde in jeder Etappe der Vernichtung Wert darauf gelegt, den Opfern eine Wahlmöglichkeit nach Maßgabe rationaler Kriterien zu bieten, wobei die rational sinnvolle Entscheidung automatisch dem »geplanten Ziel« diente. »Die phasenweise Deportation der Juden war raffiniert, weil diejenigen, die zunächst verschont geblieben waren, sich damit trösten konnten, manchmal müßten einige Wenige für die Gesamtheit geopfert werden.« Selbst den Deportierten ließ man bis zu ihrem Ende zum Schein die Möglichkeit rationaler Entscheidung. Die Gaskammern wurden als »Waschräume« bezeichnet – nach Tagen in überfüllten, verdreckten Viehwaggons eine willkommene Vorstellung. Und selbst diejenigen, die sich keiner Illusion mehr hingaben, konnten entscheiden zwischen dem »schnellen und schmerzlosen« Tod oder dem zusätzlichen unsäglichen Leiden, das die Widerspenstigen erwartete. Nicht nur die von den Opfern unbeeinflußte Einbindung der Ghettos in die Vernichtungsmaschinerie war bis ins Detail durchgeplant; man machte sich auch die rationalen Fähigkeiten der »Funktionsträger« zunutze, um Verhalten zu erzeugen, das von Pflichterfüllung und Kooperation im Sinne des bürokratisch definierten Zwecks erfüllt war.

Купите 3 книги одновременно и выберите четвёртую в подарок!

Чтобы воспользоваться акцией, добавьте нужные книги в корзину. Сделать это можно на странице каждой книги, либо в общем списке:

  1. Нажмите на многоточие
    рядом с книгой
  2. Выберите пункт
    «Добавить в корзину»