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Der Wahn und die Träume in W. Jensens »Gradiva«

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Wenn Norbert Hanold eine aus dem Leben geholte Persönlichkeit wäre, die so die Liebe und die Erinnerung an seine Kinderfreundschaft durch die Archäologie vertrieben hätte, so wäre es nur gesetzmäßig und korrekt, daß gerade ein antikes Relief die vergessene Erinnerung an die mit kindlichen Gefühlen Geliebte in ihm erweckt; es wäre sein wohlverdientes Schicksal, daß er sich in das Steinbild der Gradiva verliebt, hinter welchem vermöge einer nicht aufgeklärten Ähnlichkeit die lebende und von ihm vernachlässigte Zoë zur Wirkung kommt.

Fräulein Zoë scheint selbst unsere Auffassung von dem Wahn des jungen Archäologen zu teilen, denn das Wohlgefallen, dem sie am Ende ihrer »rückhaltlosen, ausführlichen und lehrreichen Strafrede« Ausdruck gegeben, läßt sich kaum anders als durch die Bereitwilligkeit begründen, sein Interesse für die Gradiva von allem Anfang an auf ihre Person zu beziehen. Dieses war es eben, was sie ihm nicht zugetraut hatte, und was sie trotz aller Wahnverkleidung doch als solches erkannte. An ihm aber hatte nun die psychische Behandlung von ihrer Seite ihre wohltätige Wirkung vollbracht; er fühlte sich frei, da nun der Wahn durch dasjenige ersetzt war, wovon er doch nur eine entstellte und ungenügende Abbildung sein konnte. Er zögerte jetzt auch nicht, sich zu erinnern und sie als seine gute, fröhliche, klugsinnige Kameradin zu erkennen, die sich im Grunde gar nicht verändert habe. Aber etwas anderes fand er höchst sonderbar –

»Daß jemand erst sterben muß, um lebendig zu werden«, meinte das Mädchen. »Aber für die Archäologen ist das wohl notwendig.« (G. p. 141.) Sie hatte ihm offenbar den Umweg noch nicht verziehen, den er von der Kinderfreundschaft bis zu dem neu sich knüpfenden Verhältnis über die Altertumswissenschaft eingeschlagen hatte.

»Nein, ich meine dein Name … Weil Bertgang mit Gradiva gleichbedeutend ist und ›die im Schreiten Glänzende‹ bezeichnet.« (G. p. 142.)

Darauf waren nun auch wir nicht vorbereitet. Unser Held beginnt sich aus seiner Demütigung zu erheben und eine aktive Rolle zu spielen. Er ist offenbar von seinem Wahn völlig geheilt, über ihn erhoben, und beweist dies, indem er die letzten Fäden des Wahngespinstes selbständig zerreißt. Genau so benehmen sich auch die Kranken, denen man den Zwang ihrer wahnhaften Gedanken durch Aufdeckung des dahintersteckenden Verdrängten gelockert hat. Haben sie begriffen, so bringen sie für die letzten und bedeutsamsten Rätsel ihres sonderbaren Zustandes selbst die Lösungen in plötzlich auftauchenden Einfällen. Wir hatten ja bereits vermutet, daß die griechische Abkunft der fabelhaften Gradiva eine dunkle Nachwirkung des griechischen Namens Zoë sei, aber an den Namen »Gradiva« selbst hatten wir uns nicht herangewagt, ihn hatten wir als freie Schöpfung der Phantasie Norbert Hanolds gelten lassen. Und siehe da, gerade dieser Name erweist sich nun als Abkomme, ja eigentlich als Übersetzung des verdrängten Familiennamens der angeblich vergessenen Kindergeliebten!

Die Herleitung und die Auflösung des Wahnes sind nun vollendet. Was noch beim Dichter folgt, darf wohl dem harmonischen Abschluß der Erzählung dienen. Es kann uns im Hinblick auf Zukünftiges nur wohltuend berühren, wenn die Rehabilitierung des Mannes, der früher eine so klägliche Rolle als Heilungsbedürftiger spielen mußte, weiterschreitet und es ihm nun gelingt, etwas von den Affekten, die er bisher erduldet, bei ihr zu erwecken. So trifft es sich, daß er sie eifersüchtig macht durch die Erwähnung der sympathischen jungen Dame, die vorhin ihr Beisammensein im Hause des Meleager gestört, und durch das Geständnis, daß diese die erste gewesen, die ihm vortrefflich gefallen hat. Wenn Zoë dann einen kühlen Abschied mit der Bemerkung nehmen will: jetzt sei ja alles wieder zur Vernunft gekommen, sie selbst nicht am wenigsten; er könne Gisa Hartleben, oder wie sie jetzt heiße, wieder aufsuchen, um ihr bei dem Zweck ihres Aufenthaltes in Pompeji wissenschaftlich behilflich zu sein; sie aber müsse jetzt in den Albergo del Sole, wo der Vater mit dem Mittagessen auf sie wartet; vielleicht sähen sie sich beide noch einmal in einer Gesellschaft in Deutschland oder auf dem Monde: so mag er wieder die lästige Fliege zum Vorwand nehmen, um sich zuerst ihrer Wange und dann ihrer Lippen zu bemächtigen und die Aggression, die nun einmal Pflicht des Mannes im Liebesspiel ist, ins Werk zu setzen. Ein einziges Mal noch scheint ein Schatten auf ihr Glück zu fallen, als Zoë mahnt, jetzt müsse sie aber wirklich zu ihrem Vater, der sonst im Sole verhungert. »Dein Vater – was wird der –?« (G. p. 147.) Aber das kluge Mädchen weiß die Sorge rasch zu beschwichtigen: »Wahrscheinlich wird er nichts, ich bin kein unentbehrliches Stück in seiner zoologischen Sammlung; wär' ich das, hätte sich mein Herz vielleicht nicht so unklug an dich gehängt.« Sollte der Vater aber ausnahmsweise anderer Meinung sein wollen als sie, so gäbe es ein sicheres Mittel. Hanold brauchte nur nach Capri hinüberzufahren, dort eine Lacerta faraglionensis zu fangen, wofür er die Technik an ihrem kleinen Finger einüben könne, das Tier dann hier freizulassen, vor den Augen des Zoologen wieder einzufangen und ihm die Wahl zu lassen zwischen der Faraglionensis auf dem Festlande und der Tochter. Ein Vorschlag, in dem der Spott, wie man leicht merkt, mit Bitterkeit vermengt ist, eine Mahnung gleichsam an den Bräutigam, sich nicht allzu getreu an das Vorbild zu halten, nach dem ihn die Geliebte ausgewählt hat. Norbert Hanold beruhigt uns auch hierüber, indem er die große Umwandlung, die mit ihm vorgefallen ist, in allerlei scheinbar kleinen Anzeichen zum Ausdruck bringt. Er spricht den Vorsatz aus, die Hochzeitsreise mit seiner Zoë nach Italien und nach Pompeji zu machen, als hätte er sich niemals über die Hochzeitsreisenden August und Grete entrüstet. Es ist ihm ganz aus dem Gedächtnis geschwunden, was er gegen diese glücklichen Paare gefühlt, die sich so überflüssigerweise mehr als hundert Meilen von ihrer deutschen Heimat entfernt haben. Gewiß hat der Dichter recht, wenn er solche Gedächtnisschwächung als das wertvollste Zeichen einer Sinnesänderung aufführt. Zoë erwidert auf den kundgegebenen Reisezielwunsch ihres »gewissermaßen gleichfalls aus der Verschüttung wieder ausgegrabenen Kindheitsfreundes« (G. p. 150), sie fühle sich zu solcher geographischen Entscheidung doch noch nicht völlig lebendig genug.

Die schöne Wirklichkeit hat nun den Wahn besiegt, doch harrt des letzteren, ehe die Beiden Pompeji verlassen, noch eine Ehrung. An dem Herkulestor angekommen, wo am Anfang der Strada consolare alte Trittsteine die Straße überkreuzen, hält Norbert Hanold an und bittet das Mädchen voranzugehen. Sie versteht ihn, »und mit der Linken das Kleid ein wenig raffend, schreitet die Gradiva rediviva Zoë Bertgang von ihm mit traumhaft dreinblickenden Augen umfaßt, in ihrer ruhig-behenden Gangart durch den Sonnenglanz über die Trittsteine zur anderen Straßenseite hinüber«. Mit dem Triumph der Erotik kommt jetzt zur Anerkennung, was auch am Wahne schön und wertvoll war.

Mit dem letzten Gleichnis von dem »aus der Verschüttung ausgegrabenen Kindheitsfreunde« hat uns aber der Dichter den Schlüssel zur Symbolik in die Hand gegeben, dessen sich der Wahn des Helden bei der Verkleidung der verdrängten Erinnerung bediente. Es gibt wirklich keine bessere Analogie für die Verdrängung, die etwas Seelisches zugleich unzugänglich macht und konserviert, als die Verschüttung, wie sie Pompeji zum Schicksal geworden ist, und aus der die Stadt durch die Arbeit des Spatens wieder erstehen konnte. Darum mußte der junge Archäologe das Urbild des Reliefs, welches ihn an seine vergessene Jugendgeliebte mahnte, in der Phantasie nach Pompeji versetzen. Der Dichter aber hatte ein gutes Recht, bei der wertvollen Ähnlichkeit zu verweilen, die sein feiner Sinn zwischen einem Stück des seelischen Geschehens beim Einzelnen und einem vereinzelten historischen Vorgang in der Geschichte der Menschheit aufgespürt.

II

Es war doch eigentlich nur unsere Absicht, die zwei oder drei Träume, die sich in der Erzählung »Gradiva« eingestreut finden, mit Hilfe gewisser analytischer Methoden zu untersuchen; wie kam es denn, daß wir uns zur Zergliederung der ganzen Geschichte und zur Prüfung der seelischen Vorgänge bei den beiden Hauptpersonen fortreißen ließen? Nun, das war kein überflüssiges Stück Arbeit, sondern eine notwendige Vorarbeit. Auch wenn wir die wirklichen Träume einer realen Person verstehen wollen, müssen wir uns intensiv um den Charakter und die Schicksale dieser Person kümmern, nicht nur ihre Erlebnisse kurz vor dem Traume, sondern auch solche in entlegener Vergangenheit in Erfahrung bringen. Ich meine sogar, wir sind noch immer nicht frei, uns unserer eigentlichen Aufgabe zuzuwenden, müssen noch bei der Dichtung selbst verweilen und weitere Vorarbeiten erledigen.

Unsere Leser werden gewiß mit Befremden bemerkt haben, daß wir Norbert Hanold und Zoë Bertgang in allen ihren seelischen Äußerungen und Tätigkeiten bisher behandelt haben, als wären sie wirkliche Individuen und nicht Geschöpfe eines Dichters, als wäre der Sinn des Dichters ein absolut durchlässiges, nicht ein brechendes oder trübendes Medium. Und um so befremdender muß unser Vorgehen erscheinen, als der Dichter auf die Wirklichkeitsschilderung ausdrücklich verzichtet, indem er seine Erzählung ein »Phantasiestück« benennt. Wir finden aber alle seine Schilderungen der Wirklichkeit so getreulich nachgebildet, daß wir keinen Widerspruch äußern würden, wenn die »Gradiva« nicht ein Phantasiestück, sondern eine psychiatrische Studie hieße. Nur in zwei Punkten hat sich der Dichter der ihm zustehenden Freiheit bedient, um Voraussetzungen zu schaffen, die nicht im Boden der realen Gesetzmäßigkeit zu wurzeln scheinen. Das erstemal, indem er den jungen Archäologen ein unzweifelhaft antikes Reliefbildnis finden läßt, welches nicht nur in der Besonderheit der Fußstellung beim Schreiten, sondern in allen Details der Gesichtsbildung und Körperhaltung eine so viel später lebende Person nachahmt, so daß er die leibliche Erscheinung dieser Person für das lebend gewordene Steinbild halten kann. Das zweitemal, indem er ihn die Lebende gerade in Pompeji treffen läßt, wohin nur seine Phantasie die Verstorbene versetzte, während er sich eben durch die Reise nach Pompeji von der Lebenden, die er auf der Straße seines Wohnortes bemerkt hatte, entfernte. Allein diese zweite Verfügung des Dichters ist keine gewaltsame Abweichung von der Lebensmöglichkeit; sie nimmt eben nur den Zufall zur Hilfe, der unbestritten bei so vielen menschlichen Schicksalen mitspielt, und verleiht ihm überdies einen guten Sinn, da dieser Zufall das Verhängnis widerspiegelt, welches bestimmt hat, daß man gerade durch das Mittel der Flucht sich dem ausliefert, vor dem man flieht. Phantastischer und völlig der Willkür des Dichters entsprungen erscheint die erste Voraussetzung, welche alle weiteren Begebenheiten trägt, die so weitgehende Ähnlichkeit des Steinbildes mit dem lebenden Mädchen, wo die Nüchternheit die Übereinstimmung auf den einen Zug der Fußhaltung beim Schreiten einschränken möchte. Man wäre versucht, hier zur Anknüpfung an die Realität die eigene Phantasie spielen zu lassen. Der Name Bertgang könnte darauf deuten, daß sich die Frauen dieser Familie schon in alten Zeiten durch solche Eigentümlichkeit des schönen Ganges ausgezeichnet haben, und durch Geschlechtsabfolge hingen die germanischen Bertgang mit jenen Römern zusammen, von deren Stamm eine Frau den antiken Künstler veranlaßt hatte, die Eigentümlichkeit ihres Ganges im Steinbild festzuhalten. Da aber die einzelnen Variationen der menschlichen Gestaltung nicht unabhängig von einander sind, und tatsächlich auch in unserer Mitte immer wieder die antiken Typen auftauchen, die wir in den Sammlungen antreffen, so wäre es nicht ganz unmöglich, daß eine moderne Bertgang die Gestalt ihrer antiken Ahnfrau auch in allen anderen Zügen ihrer körperlichen Bildung wiederholte. Klüger als solche Spekulation dürfte wohl sein, sich bei dem Dichter selbst nach den Quellen zu erkundigen, aus denen ihm dieses Stück seiner Schöpfung erflossen ist; es ergäbe sich uns dann eine gute Aussicht, wiederum ein Stück vermeintlicher Willkür in Gesetzmäßigkeit aufzulösen. Da uns aber der Zugang zu den Quellen im Seelenleben des Dichters nicht frei steht, so lassen wir ihm das Recht ungeschmälert, eine durchaus lebenswahre Entwicklung auf eine unwahrscheinliche Voraussetzung aufzubauen, ein Recht, das z. B. auch Shakespeare im »King Lear« in Anspruch genommen hat.

 

Sonst aber, das wollen wir wiederholen, hat uns der Dichter eine völlig korrekte psychiatrische Studie geliefert, an welcher wir unser Verständnis des Seelenlebens messen dürfen, eine Kranken- und Heilungsgeschichte, wie zur Einschärfung gewisser fundamentaler Lehren der ärztlichen Seelenkunde bestimmt. Sonderbar genug, daß der Dichter dies getan haben sollte! Wie nun, wenn er auf Befragen diese Absicht ganz und gar in Abrede stellte? Es ist so leicht anzugleichen und unterzulegen; sind es nicht vielmehr wir, die in die schöne poetische Erzählung einen Sinn hineingeheimnissen, der dem Dichter sehr ferne liegt? Möglich; wir wollen später noch darauf zurückkommen. Vorläufig aber haben wir versucht, uns vor solch tendenziöser Ausdeutung selbst zu bewahren, indem wir die Erzählung fast durchwegs aus den eigenen Worten des Dichter wiedergaben, Text wie Kommentar von ihm selbst besorgen ließen. Wer unsere Reproduktion mit dem Wortlaut der »Gradiva« vergleichen will, wird uns dies zugestehen müssen.

Vielleicht erweisen wir unserem Dichter auch einen schlechten Dienst im Urteil der allermeisten, wenn wir sein Werk für eine psychiatrische Studie erklären. Der Dichter soll der Berührung mit der Psychiatrie aus dem Wege gehen, hören wir sagen, und die Schilderung krankhafter Seelenzustände den Ärzten überlassen. In Wahrheit hat kein richtiger Dichter je dieses Gebot geachtet. Die Schilderung des menschlichen Seelenlebens ist ja seine eigentlichste Domäne; er war jederzeit der Vorläufer der Wissenschaft und so auch der wissenschaftlichen Psychologie. Die Grenze aber zwischen den normal und krankhaft benannten Seelenzuständen ist zum Teil eine konventionelle, zum anderen eine so fließende, daß wahrscheinlich jeder von uns sie im Laufe eines Tages mehrmals überschreitet. Anderseits täte die Psychiatrie unrecht, wenn sie sich dauernd auf das Studium jener schweren und düsteren Erkrankungen einschränken wollte, die durch grobe Beschädigungen des feinen Seelenapparats entstehen. Die leiseren und ausgleichsfähigen Abweichungen vom Gesunden, die wir heute nicht weiter als bis zu Störungen im psychischen Kräftespiel zurückverfolgen können, fallen nicht weniger unter ihr Interesse; ja erst mittels dieser kann sie die Gesundheit wie die Erscheinungen der schweren Krankheit verstehen. So kann der Dichter dem Psychiater, der Psychiater dem Dichter nicht ausweichen, und die poetische Behandlung eines psychiatrischen Themas darf ohne Einbuße an Schönheit korrekt ausfallen.

Korrekt ist nun wirklich diese dichterische Darstellung einer Krankheits- und Behandlungsgeschichte, die wir nach Abschluß der Erzählung und Sättigung der eigenen Spannung besser übersehen können und nun mit den technischen Ausdrücken unserer Wissenschaft reproduzieren wollen, wobei uns die Nötigung zur Wiederholung von bereits Gesagtem nicht stören soll.

Der Zustand Norbert Hanolds wird vom Dichter oft genug ein »Wahn« genannt, und auch wir haben keinen Grund, diese Bezeichnung zu verwerfen. Zwei Hauptcharaktere können wir vom »Wahn« angeben, durch welche er zwar nicht erschöpfend beschrieben, aber doch von anderen Störungen kenntlich gesondert ist. Er gehört erstens zu jener Gruppe von Krankheitszuständen, denen eine unmittelbare Einwirkung aufs Körperliche nicht zukommt, sondern die sich nur durch seelische Anzeichen ausdrücken, und er ist zweitens durch die Tatsache gekennzeichnet, daß bei ihm »Phantasien« zur Oberherrschaft gelangt sind, d. h. Glauben gefunden und Einfluß auf das Handeln genommen haben. Erinnern wir uns der Reise nach Pompeji, um in der Asche nach den besonders gestalteten Fußabdrücken der Gradiva zu suchen, so haben wir in ihr ein prächtiges Beispiel einer Handlung unter der Herrschaft des Wahnes. Der Psychiater würde den Wahn Norbert Hanolds vielleicht der großen Gruppe Paranoia zurechnen und etwa als eine »fetischistische Erotomanie« bezeichnen, weil ihm die Verliebtheit in das Steinbild das Auffälligste wäre, und weil seiner alles vergröbernden Auffassung das Interesse des jungen Archäologen für die Füße und Fußstellungen weiblicher Personen als »Fetischismus« verdächtig erscheinen muß. Indes haben alle solche Benennungen und Einteilungen der verschiedenen Arten von Wahn nach ihrem Inhalt etwas Mißliches und Unfruchtbares an sich.2

Der gestrenge Psychiater würde ferner unseren Helden als Person, die fähig ist, auf Grund so sonderbarer Vorliebe einen Wahn zu entwickeln, sofort zum Dégénéré stempeln und nach der Heredität forschen, die ihn unerbittlich in solches Schicksal getrieben hat. Hierin folgt ihm aber der Dichter nicht; mit gutem Grunde. Er will uns ja den Helden näher bringen, uns die »Einfühlung« erleichtern; mit der Diagnose »Dégénéré«, mag sie nun wissenschaftlich zu rechtfertigen sein oder nicht, ist uns der junge Archäologe sofort ferne gerückt; denn wir Leser sind ja die Normalmenschen und das Maß der Menschheit. Auch die hereditären und konstitutionellen Vorbedingungen des Zustandes kümmern den Dichter wenig; dafür vertieft er sich in die persönliche seelische Verfassung, die einem solchen Wahn den Ursprung geben kann.

Norbert Hanold verhält sich in einem wichtigen Punkte ganz anders als ein gewöhnliches Menschenkind. Er hat kein Interesse für das lebende Weib; die Wissenschaft, der er dient, hat ihm dieses Interesse genommen und es auf die Weiber von Stein oder Bronze verschoben. Man halte dies nicht für eine gleichgültige Eigentümlichkeit; sie ist vielmehr die Grundvoraussetzung der erzählten Begebenheit, denn eines Tages ereignet es sich, daß ein einzelnes solches Steinbild alles Interesse für sich beansprucht, das sonst nur dem lebenden Weib gebührt, und damit ist der Wahn gegeben. Vor unseren Augen entrollt sich dann, wie dieser Wahn durch eine glückliche Fügung geheilt, das Interesse vom Stein wieder auf eine Lebende zurückgeschoben wird. Durch welche Einwirkungen unser Held in den Zustand der Abwendung vom Weibe geraten ist, läßt uns der Dichter nicht verfolgen; er gibt uns nur an, solches Verhalten sei nicht durch seine Anlage erklärt, die vielmehr ein Stück phantastisches – wir dürfen ergänzen: erotisches – Bedürfnis mit einschließt. Auch ersehen wir von später her, daß er in seiner Kindheit nicht von anderen Kindern abwich; er hielt damals eine Kinderfreundschaft mit einem kleinen Mädchen, war unzertrennlich von ihr, teilte mit ihr seine kleinen Mahlzeiten, puffte sie auch und ließ sich von ihr zausen. In solcher Anhänglichkeit, solcher Vereinigung von Zärtlichkeit und Aggression äußert sich die unfertige Erotik des Kinderlebens, die ihre Wirkungen erst nachträglich, aber dann unwiderstehlich äußert, und die während der Kinderzeit selbst nur der Arzt und der Dichter als Erotik zu erkennen pflegen. Unser Dichter gibt uns deutlich zu verstehen, daß auch er es nicht anders meint, denn er läßt bei seinem Helden bei geeignetem Anlaß plötzlich ein lebhaftes Interesse für Gang und Fußhaltung der Frauen erwachen, das ihn bei der Wissenschaft wie bei den Frauen seines Wohnortes in den Verruf eines Fußfetischisten bringen muß, das sich uns aber notwendig aus der Erinnerung an diese Kindergespielin ableitet. Dieses Mädchen zeigte gewiß schon als Kind die Eigenheit des schönen Ganges mit fast senkrecht aufgestellter Fußspitze beim Schreiten, und durch die Darstellung eben dieses Ganges gewinnt später ein antikes Steinrelief für Norbert Hanold jene große Bedeutung. Fügen wir übrigens gleich hinzu, daß der Dichter sich bei der Ableitung der merkwürdigen Erscheinung des Fetischismus sich in voller Übereinstimmung mit der Wissenschaft befindet. Seit A. Binet versuchen wir wirklich, den Fetischismus auf erotische Kindheitseindrücke zurückzuführen.

Der Zustand der dauernden Abwendung vom Weibe ergibt die persönliche Eignung, wie wir zu sagen pflegen: die Disposition für die Bildung eines Wahnes. Die Entwicklung der Seelenstörung setzt mit dem Momente ein, da ein zufälliger Eindruck die vergessenen und wenigstens spurweise erotisch betonten Kindererlebnisse aufweckt. Aufweckt ist aber gewiß nicht die richtige Bezeichnung, wenn wir, was weiter erfolgt, in Betracht ziehen. Wir müssen die korrekte Darstellung des Dichters in kunstgerechter psychologischer Ausdrucksweise wiedergeben. Norbert Hanold erinnert sich nicht beim Anblick des Reliefs, daß er solche Fußstellung schon bei seiner Jugendfreundin gesehen hat; er erinnert sich überhaupt nicht, und doch rührt alle Wirkung des Reliefs von solcher Anknüpfung an den Eindruck in der Kindheit her. Der Kindheitseindruck wird also rege, wird aktiv gemacht, so daß er Wirkungen zu äußern beginnt, er kommt aber nicht zum Bewußtsein, er bleibt »unbewußt«, wie wir mit einem in der Psychopathologie unvermeidlich gewordenen Terminus heute zu sagen pflegen. Dieses Unbewußte möchten wir allen Streitigkeiten der Philosophen und Naturphilosophen, die oft nur etymologische Bedeutung haben, entzogen sehen. Für psychische Vorgänge, die sich aktiv benehmen und dabei doch nicht zum Bewußtsein der betreffenden Person gelangen, haben wir vorläufig keinen besseren Namen, und nichts anderes meinen wir mit unserem »Unbewußtsein«. Wenn manche Denker uns die Existenz eines solchen Unbewußten als widersinnig bestreiten wollen, so glauben wir, sie hätten sich niemals mit den entsprechenden seelischen Phänomenen beschäftigt, stünden im Banne der regelmäßigen Erfahrung, daß alles Seelische, was aktiv und intensiv wird, damit gleichzeitig auch bewußt wird, und hätten eben noch zu lernen, was unser Dichter sehr wohl weiß, daß es allerdings seelische Vorgänge gibt, die, trotzdem sie intensiv sind und energische Wirkungen äußern, dennoch dem Bewußtsein ferne bleiben.

Wir haben vorhin einmal ausgesprochen, die Erinnerungen an den Kinderverkehr mit Zoë befinden sich bei Norbert Hanold im Zustande der »Verdrängung«; nun haben wir sie »unbewußte« Erinnerungen geheißen. Da müssen wir wohl dem Verhältnis der beiden Kunstworte, die ja im Sinne zusammenzufallen scheinen, einige Aufmerksamkeit zuwenden. Es ist nicht schwer, darüber Aufklärung zu geben. »Unbewußt« ist der weitere Begriff, »verdrängt« der engere. Alles was verdrängt ist, ist unbewußt; aber nicht von allem Unbewußten können wir behaupten, daß es verdrängt sei. Hätte Hanold beim Anblick des Reliefs sich der Gangart seiner Zoë erinnert, so wäre eine früher unbewußte Erinnerung bei ihm gleichzeitig aktiv und bewußt geworden und hätte so gezeigt, daß sie früher nicht verdrängt war. »Unbewußt« ist ein rein deskriptiver, in mancher Hinsicht unbestimmter, ein sozusagen statischer Terminus, »verdrängt« ist ein dynamischer Ausdruck, der auf das seelische Kräftespiel Rücksicht nimmt und besagt, es sei ein Bestreben vorhanden, alle psychischen Wirkungen, darunter auch die des Bewußtwerdens, zu äußern, aber auch eine Gegenkraft, ein Widerstand, der einen Teil dieser psychischen Wirkungen, darunter wieder das Bewußtwerden, zu verhindern vermöge. Kennzeichen des Verdrängten bleibt eben, daß es sich trotz seiner Intensität nicht zum Bewußtsein zu bringen vermag. In dem Falle Hanolds handelt es sich also von dem Auftauchen des Reliefs an um ein verdrängtes Unbewußtes, kurzweg um ein Verdrängtes.

 

Verdrängt sind bei Norbert Hanold die Erinnerungen an seinen Kinderverkehr mit dem schön schreitenden Mädchen, aber dies ist noch nicht die richtige Betrachtung der psychologischen Sachlage. Wir bleiben an der Oberfläche, so lange wir nur von Erinnerungen und Vorstellungen handeln. Das einzig Wertbare im Seelenleben sind vielmehr die Gefühle; alle Seelenkräfte sind nur durch ihre Eignung, Gefühle zu erwecken, bedeutsam. Vorstellungen werden nur verdrängt, weil sie an Gefühlsentbindungen geknüpft sind, die nicht zu stande kommen sollen; es wäre richtiger zu sagen, die Verdrängung betreffe die Gefühle, nur sind uns diese nicht anders als in ihrer Bindung an Vorstellungen faßbar. Verdrängt sind bei Norbert Hanold also die erotischen Gefühle, und da seine Erotik kein anderes Objekt kennt oder gekannt hat, als in seiner Kindheit die Zoë Bertgang, so sind die Erinnerungen an diese vergessen. Das antike Reliefbild weckt die schlummernde Erotik in ihm auf und macht die Kindheitserinnerungen aktiv. Wegen eines in ihm bestehenden Widerstandes gegen die Erotik können diese Erinnerungen nur als unbewußte wirksam werden. Was sich nun weiter in ihm abspielt, ist ein Kampf zwischen der Macht der Erotik und den sie verdrängenden Kräften; was sich von diesem Kampf äußert, ist ein Wahn.

Unser Dichter hat zu motivieren unterlassen, woher die Verdrängung des Liebeslebens bei seinem Helden rührt; die Beschäftigung mit der Wissenschaft ist ja nur das Mittel, dessen sich die Verdrängung bedient; der Arzt müßte hier tiefer gründen, vielleicht ohne in seinem Falle auf den Grund zu geraten. Wohl aber hat der Dichter, wie wir mit Bewunderung hervorgehoben haben, uns darzustellen nicht versäumt, wie die Erweckung der verdrängten Erotik gerade aus dem Kreise der zur Verdrängung dienenden Mittel erfolgt. Es ist mit Recht eine Antike, das Steinbild eines Weibes, durch welches unser Archäologe aus seiner Abwendung von der Liebe gerissen und gemahnt wird, dem Leben die Schuld abzutragen, mit der wir von unserer Geburt an belastet sind.

Die ersten Äußerungen des nun in Hanold durch das Reliefbild angeregten Prozesses sind Phantasien, welche mit der so dargestellten Person spielen. Als etwas »Heutiges« im besten Sinne erscheint ihm das Modell, als hätte der Künstler die auf der Straße Schreitende »nach dem Leben« festgehalten. Den Namen »Gradiva« verleiht er dem antiken Mädchen, den er nach dem Beiwort des zum Kampfe ausschreitenden Kriegsgottes, des Mars Gradivus, gebildet; mit immer mehr Bestimmungen stattet er ihre Persönlichkeit aus. Sie mag die Tochter eines angesehenen Mannes sein, vielleicht eines Patriziers, der mit dem Tempeldienst einer Gottheit in Verbindung stand, griechische Herkunft glaubt er ihren Zügen abzusehen, und endlich drängt es ihn, sie ferne vom Getriebe einer Großstadt in das stillere Pompeji zu versetzen, wo er sie über die Lavatrittsteine schreiten läßt, die den Übergang von einer Seite der Straße zur anderen ermöglichen. Willkürlich genug erscheinen diese Leistungen der Phantasie und doch wieder harmlos unverdächtig. Ja noch dann, als sich aus ihnen zum erstenmal ein Antrieb zum Handeln ergibt, als der Archäologe von dem Problem bedrückt, ob solche Fußstellung auch der Wirklichkeit entspreche, Beobachtungen nach dem Leben anzustellen beginnt, um den zeitgenössischen Frauen und Mädchen auf die Füße zu sehen, deckt sich dieses Tun durch ihm bewußte wissenschaftliche Motive, als wäre alles Interesse für das Steinbild der Gradiva aus dem Boden seiner fachlichen Beschäftigung mit der Archäologie entsprossen. Die Frauen und Mädchen auf der Straße, die er zu Objekten seiner Untersuchung nimmt, müssen freilich eine andere, grob erotische Auffassung seines Treibens wählen, und wir müssen ihnen recht geben. Für uns leidet es keinen Zweifel, daß Hanold die Motive seiner Forschung so wenig kennt wie die Herkunft seiner Phantasien über die Gradiva. Diese letzteren sind, wie wir später erfahren, Anklänge an seine Erinnerungen an die Jugendgeliebte, Abkömmlinge dieser Erinnerungen, Umwandlungen und Entstellungen derselben, nachdem es ihnen nicht gelungen ist, sich in unveränderter Form zum Bewußtsein zu bringen. Das vorgeblich ästhetische Urteil, das Steinbild stelle etwas »Heutiges« dar, ersetzt das Wissen, daß solcher Gang einem ihm bekannten, in der Gegenwart über die Straße schreitenden Mädchen angehöre; hinter dem Eindruck »nach dem Leben« und der Phantasie ihres Griechentums verbirgt sich die Erinnerung an ihren Namen Zoë, der auf Griechisch Leben bedeutet; Gradiva ist, wie uns der am Ende vom Wahn Geheilte aufklärt, eine gute Übersetzung ihres Familiennamens Bertgang, welcher so viel bedeutet wie »im Schreiten glänzend oder prächtig«; die Bestimmungen über ihren Vater stammen von der Kenntnis, daß Zoë Bertgang die Tochter eines angesehenen Lehrers der Universität sei, die sich wohl als Tempeldienst in die Antike übersetzen läßt. Nach Pompeji endlich versetzt sie seine Phantasie, nicht »weil ihre ruhige, stille Art es zu fordern schien«, sondern weil sich in seiner Wissenschaft keine andere und keine bessere Analogie mit dem merkwürdigen Zustand finden läßt, in dem er durch eine dunkle Kundschaft seine Erinnerungen an seine Kinderfreundschaft verspürt. Hat er einmal, was ihm so nahe liegt, die eigene Kindheit mit der klassischen Vergangenheit zur Deckung gebracht, so ergibt die Verschüttung Pompejis, dies Verschwinden mit Erhaltung des Vergangenen, eine treffliche Ähnlichkeit mit der Verdrängung, von der er durch sozusagen »endopsychische« Wahrnehmung Kenntnis hat. Es arbeitet dabei in ihm dieselbe Symbolik, die zum Schlusse der Erzählung der Dichter das Mädchen bewußterweise gebrauchen läßt.

»Ich sagte mir, irgend etwas Interessantes würde ich wohl schon allein hier ausgraben. Freilich auf den Fund, den ich gemacht, … hatte ich mit keinem Gedanken gerechnet.« (G. p. 124.) – Zu Ende (G. p. 150) antwortet dann das Mädchen auf den Reisezielwunsch »ihres gewissermaßen gleichfalls aus der Verschüttung wieder ausgegrabenen Kindheitsfreundes«.

So finden wir also schon bei den ersten Leistungen von Hanolds Wahnphantasien und Handlungen eine zweifache Determinierung, eine Ableitbarkeit aus zwei verschiedenen Quellen. Die eine Determinierung ist die, welche Hanold selbst erscheint, die andere die, welche sich uns bei der Nachprüfung seiner seelischen Vorgänge enthüllt. Die eine ist, auf die Person Hanolds bezogen, die ihm bewußte, die andere, die ihm völlig unbewußte. Die eine stammt ganz aus dem Vorstellungskreis der archäologischen Wissenschaft, die andere aber rührt von dem in ihm rege gewordenen verdrängten Kindheitserinnerungen und den an ihnen haftenden Gefühlstrieben her. Die eine ist wie oberflächlich und verdeckt die andere, die sich gleichsam hinter ihr verbirgt. Man könnte sagen, die wissenschaftliche Motivierung diene der unbewußten erotischen zum Vorwand, und die Wissenschaft habe sich ganz in den Dienst des Wahnes gestellt. Aber man darf auch nicht vergessen, daß die unbewußte Determinierung nichts anderes durchzusetzen vermag, als was gleichzeitig der bewußten wissenschaftlichen genügt. Die Symptome des Wahnes – Phantasien wie Handlungen – sind eben Ergebnisse eines Kompromisses zwischen den beiden seelischen Strömungen, und bei einem Kompromiß ist den Anforderungen eines jeden der beiden Teile Rechnung getragen worden; ein jeder Teil hat aber auch auf ein Stück dessen, was er durchsetzen wollte, verzichten müssen. Wo ein Kompromiß zu stande gekommen, da gab es einen Kampf, hier den von uns angenommenen Konflikt zwischen der unterdrückten Erotik und den sie in der Verdrängung erhaltenden Mächten. Bei der Bildung eines Wahnes geht dieser Kampf eigentlich nie zu Ende. Ansturm und Widerstand erneuern sich nach jeder Kompromißbildung, die sozusagen niemals voll genügt. Dies weiß auch unser Dichter und darum läßt er ein Gefühl der Unbefriedigung, eine eigentümliche Unruhe dieses Stadium der Störung bei seinem Helden beherrschen, als Vorläufer und als Bürgschaft weiterer Entwicklungen.

2Der Fall N. H. müßte in Wirklichkeit als hysterischer, nicht als paranoischer Wahn bezeichnet werden. Die Kennzeichen der Paranoia werden hier vermißt.
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