Читать книгу: «Hiob», страница 3

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Auf einmal stürzte ein furchtbares Schweigen über die Stube, in der eben noch die Stimmen der Kinder geklungen hatten, ein Schweigen ohne Grenzen, um vieles gewaltiger als der Raum, der seine Beute geworden war und dennoch geboren aus dem kleinen Wort »genommen«, das Jonas eben ausgesprochen hatte. Mitten im halben Wort, das sie memoriert hatten, brachen die Kinder das Lernen ab. Mendel, der auf und ab durch die Stube gewandert war, blieb stehn, sah in die Luft, erhob die Arme und ließ sie wieder sinken. Die Mutter Deborah setzte sich auf einen der zwei Schemel, die immer in der Nähe des Ofens stan­den, als hätten sie schon seit Langem auf die Ge­legenheit gewartet, eine trauernde Mutter aufzu­nehmen. Mirjam, die Tochter, hatte sich rück­wärts tastend in die Ecke geschoben, laut pochte ihr Herz, sie glaubte, alle müssten es hören. Die Kinder saßen festgenagelt auf ihren Plätzen. Ihre Beine in wollenen buntbereiften Strümpfen, die unaufhörlich während des Lernens gebaumelt hatten, hingen leblos unter dem Tisch. Draußen schneite es unaufhörlich, und das weiche Weiß der Flocken strömte einen fahlen Schimmer durch das Fenster in die Stube und auf die Gesichter der Schweigenden. Ein paar Mal hörte man verkohlte Holzreste im Ofen knistern und ein leises Knattern an den Türpfosten, wenn der Wind an ihnen rüttelte. Die Stöcke noch über den Schultern, die weißen Bündel noch an den Stöcken, standen die Brüder an der Tür. Boten des Unglücks und seine Kinder. Plötzlich schrie Deborah: »Mendel, geh lauf’ und frag’ die Leute um Rat!« Mendel Singer fasste nach seinem Bart. Das Schweigen war verbannt, die Beine der Kin­der fingen an, sachte zu baumeln, die Brüder legten ihre Bündel und ihre Stöcke ab und nä­herten sich dem Tisch.

»Was redest du für Dummheiten?« sagte Mendel Singer. »Wohin soll ich gehn? Und wen soll ich um Rat fragen? Wer hilft einem armen Lehrer und womit soll man mir helfen? Welche Hilfe erwartest du von den Menschen, wo Gott uns gestraft hat?«

Deborah antwortete nicht. Eine Weile saß sie noch ganz still auf dem Schemel. Dann erhob sie sich, stieß ihn mit dem Fuß, wie einen Hund, dass er mit Gepolter hintorkelte, ergriff ihren braunen Schal, der wie ein Hügel aus Wolle auf dem Fuß­boden gelegen hatte, umwickelte Kopf und Hals, knüpfte die Fransen im Nacken zu einem starken Knoten, mit einer wütenden Bewegung, als wollte sie sich erwürgen, wurde rot im Gesicht, stand da, zischend und wie gefüllt von siedendem Was­ser, und spuckte plötzlich aus, weißen Speichel feuerte sie wie ein giftiges Geschoss vor Mendel Singers Füße. Und als hätte sie damit allein ihre Verachtung nicht genügend bewiesen, schickte sie dem Speichel noch einen Schrei nach, der wie ein Pfui! klang, der aber nicht genau ver­standen werden konnte. Ehe sich die Verblüfften gefasst hatten, schlug sie die Tür auf. Ein böser Windstoß schüttete weiße Flocken ins Zimmer, blies Mendel Singer ins Gesicht, griff den Kin­dern an die hängenden Beine. Dann knallte die Tür wieder zu. Deborah war fort. Sie lief, ohne Ziel, durch die Gassen, immer in der Mitte, ein schwarzbrauner Koloss raste sie durch den weißen Schnee, bis sie in ihm versank. Sie verwickelte sich in den Kleidern, stürzte, er­hob sich mit erstaunlicher Hurtigkeit, lief wei­ter, noch wusste sie nicht, wohin, aber es war ihr, als liefen die Füße schon selbst zu einem Ziel, das ihr Kopf noch nicht kannte. Die Dämmerung fiel schneller als die Flocken, die ersten gelben Lichter erglommen, die spärlichen Menschen, die aus den Häusern traten, um die Fensterläden zu schließen, drehten die Köpfe nach Deborah und sahen ihr lange nach, obwohl sie froren. Debo­rah lief in die Richtung des Friedhofs. Als sie das hölzerne kleine Gitter erreichte, fiel sie noch einmal nieder. Sie raffte sich auf, die Tür wollte nicht weichen, Schnee hatte sie festgeklemmt, Deborah rannte mit den Schultern gegen das Gitter. Jetzt war sie drinnen. Der Wind heulte über die Gräber. Toter als sonst schienen heute die Toten. Aus der Dämmerung wuchs schnell die Nacht, schwarz, schwarz und durchleuchtet vom Schnee. Vor einem der ersten Grabsteine in der ersten Reihe ließ sich Deborah nieder. Mit klammen Fäusten befreite sie ihn vom Schnee, als wollte sie sich vergewissern, dass ihre Stimme leichter zu dem Toten dringen würde, wenn die dämpfende Schicht zwischen ihrem Ge­bet und dem Ohr des Seligen fortgeräumt wäre. Und dann brach ein Schrei aus Deborah, der klang wie aus einem Horn, in dem ein menschliches Herz eingebaut ist. Diesen Schrei hörte man im ganzen Städtchen, aber man vergaß ihn sofort. Denn die Stille, die hinter ihm folgte, wurde nicht mehr gehört. Nur ein leises Wimmern stieß Deborah in kurzen Abständen hervor, ein leises mütterliches Wimmern, das die Nacht ver­schlang, das der Schnee begrub und das nur die Toten vernahmen.

IV

Nicht weit von den Kluczýsker Verwandten Men­del Singers lebte Kapturak, ein Mann ohne Alter, ohne Familie, ohne Freunde, flink und vielbe­schäftigt und mit den Behörden vertraut. Seine Hilfe zu erreichen bemühte sich Deborah. Von den siebzig Rubeln, die Kapturak einforderte, ehe er sich mit seinen Klienten in Verbindung setzte, besaß sie erst knapp fünfundzwanzig, ge­heim erspart in den langen Jahren der Mühsal, im haltbaren Lederbeutel aufbewahrt unter einem Dielenbrett, das ihr allein vertraut war. Jeden Freitag hob sie es sachte auf, wenn sie den Fuß­boden scheuerte. Ihrer mütterlichen Hoffnung erschien die Differenz von fünfundvierzig Ru­beln geringer als die Summe, die sie bereits be­saß. Denn zu dieser addierte sie die Jahre, in denen sich das Geld angehäuft hatte, die Entbeh­rungen, denen jeder halbe Rubel seine Dauer verdankte, und die vielen stillen und heißen Freuden des Nachzählens. Vergeblich versuchte ihr Mendel Singer die Un­zugänglichkeit Kapturaks zu schildern, sein har­tes Herz und seinen hungrigen Beutel. »Was willst du, Deborah«, sagte Mendel Singer, »die Armen sind ohnmächtig, Gott wirft ihnen keine goldenen Steine vom Himmel, in der Lotte­rie gewinnen sie nicht, und ihr Los müssen sie in Ergebenheit tragen. Dem einen gibt Er und dem andern nimmt Er. Ich weiß nicht, wofür Er uns straft, zuerst mit dem kranken Menuchim und jetzt mit den gesunden Kindern. Ach, dem Armen geht es schlecht, wenn er gesündigt hat und wenn er krank ist, geht es ihm schlecht. Man soll sein Schicksal tragen! Lass die Söhne ein­rücken, sie werden nicht verkommen! Gegen den Willen des Himmels gibt es keine Gewalt. ›Von ihm donnert es und blitzt es, er wölbt sich über die ganze Erde, vor ihm kann man nicht davon­laufen‹ – so steht es geschrieben.« Deborah aber antwortete, die Hand in die Hüfte gestemmt, über den Bund rostiger Schlüssel: »Der Mensch muss sich zu helfen suchen, und Gott wird ihm helfen. So steht es geschrieben, Mendel! Immer weißt du die falschen Sätze aus­wendig. Viele tausend Sätze sind geschrieben wor­den, die überflüssigen merkst du dir alle! Du bist so töricht geworden, weil du Kinder unter­richtest! Du gibst ihnen dein bisschen Verstand, und sie lassen bei dir ihre ganze Dummheit. Ein Lehrer bist du, Mendel, ein Lehrer!« Mendel Singer war nicht eitel auf seinen Ver­stand und auf seinen Beruf. Dennoch wurmten ihn die Reden Deborahs, ihre Vorwürfe zernagten langsam seine Gutmütigkeit, und in seinem Her­zen züngelten bereits die weißen Stichflämmchen der Empörung. Er wandte sich ab, um das Angesicht seiner Frau nicht länger anzusehn. Es war ihm, als kannte er es schon lange, weit län­ger als seit der Hochzeit, seit der Kindheit viel­leicht. Lange Jahre war es ihm gleich erschie­nen, wie am Tage seiner Heirat. Er hatte nicht ge­sehen, wie das Fleisch abbröckelte von den Wan­gen, schöngetünchter Mörtel von einer Wand, wie die Haut sich um die Nase spannte, um desto lockerer unter dem Kinn zu zerflattern, wie die Lider sich runzelten zu Netzen über den Augen und wie deren Schwärze ermattete zu einem kühlen und nüchternen Braun, kühl, verständig und hoffnungslos. Eines Tages, er erinnerte sich nicht, wann es gewesen sein konnte (vielleicht war es auch an jenem Morgen geschehen, an dem er selbst geschlafen und nur eines seiner Augen Debo­rah vor dem Spiegel überrascht hatte) eines Tages also war die Erkenntnis über ihn gekommen. Es war wie eine zweite, eine wiederholte Ehe, dies­mal mit der Hässlichkeit, mit der Bitterkeit, mit dem fortschreitenden Alter seiner Frau. Näher empfand er sie zwar, beinahe ihm einverleibt, untrennbar und auf ewig, aber unerträglich, quä­lend und ein bisschen auch gehasst. Sie war aus einem Weib, mit dem man sich nur in der Fin­sternis verbindet, gleichsam eine Krankheit ge­worden, mit der man Tag und Nacht verbunden ist, die einem ganz angehört, die man nicht mehr mit der Welt zu teilen braucht und an deren treuer Feindschaft man zugrunde geht. Gewiss, er war nur ein Lehrer! Auch sein Vater war ein Lehrer gewesen, sein Großvater auch. Er selbst konnte eben nichts anderes sein. Man griff also sein Dasein an, wenn man seinen Beruf tadelte, man versuchte ihn auszulöschen aus der Liste der Welt. Dagegen wehrte sich Mendel Singer.

Eigentlich freute er sich, dass Deborah wegfuhr. Jetzt schon, während sie die Vorbereitungen zur Abreise traf, war das Haus leer, Jonas und Sche­marjah trieben sich in den Gassen herum, Mirjam saß bei den Nachbarn oder ging spazieren. Zu Hause, um die Stunde des Mittags, bevor die Schüler wiederkamen, blieben nur Mendel und Menuchim. Mendel aß eine Graupensuppe, die er selbst gekocht hatte, und ließ in seinem irdenen Teller einen erheblichen Rest für Menuchim übrig. Er schob den Riegel vor, damit der Kleine nicht vor die Tür krieche, wie es seine Art war. Dann ging der Vater in die Ecke, hob das Kind hoch, setzte es auf seine Knie und begann es zu füttern.

Er liebte diese stillen Stunden. Er blieb gern allein mit seinem Sohn. Ja, manchmal überleg­te er, ob es nicht besser wäre, wenn sie über­haupt zusammen blieben, ohne Mutter, ohne Ge­schwister. Nachdem Menuchim Löffel um Löf­fel die Graupensuppe verschluckt hatte, setzte ihn der Vater auf den Tisch, blieb hart vor ihm sitzen und vertiefte sich mit zärtlicher Neugier in das breite blassgelbe Angesicht mit den vielen Run­zeln auf der Stirn, den vielfach gefältelten Augen­lidern und dem schlaffen Doppelkinn. Er bemühte sich, zu erraten, was in diesem breiten Schädel vorgehn mochte, durch die Augen wie durch Fenster in das Gehirn hineinzusehen und durch ein bald leises, bald lautes Sprechen dem stump­fen Knaben irgendein Zeichen zu entlocken. Er nannte zehnmal hintereinander Menuchims Na­men, mit langsamen Lippen zeichnete er die Laute in die Luft, damit Menuchim sie erblickte, wenn er sie schon nicht hören konnte. Aber Menuchim regte sich nicht. Dann ergriff Mendel seinen Löf­fel, schlug damit gegen ein Teeglas, und sofort wandte Menuchim den Kopf, und ein kleines Lichtlein flammte in seinen großen, grauen, her­vorquellenden Augen auf. Mendel klingelte wei­ter, begann ein Liedchen zu singen und mit dem Löffel an das Glas den Takt zu läuten, und Me­nuchim offenbarte eine deutliche Unruhe, wen­dete den großen Kopf mit einiger Mühe und bau­melte mit den Beinen. »Mama, Mama!« rief er dazwischen. Mendel stand auf, holte das schwarze Buch der Bibel, hielt die erste Seite aufgeschlagen vor Menuchims Angesicht und intonierte in der Melodie, in der er seine Schüler zu unterrichten pflegte, den ersten Satz: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde.« Er wartete einen Augenblick, in der Hoffnung, dass Menuchim die Worte nach­sprechen würde. Aber Menuchim regte sich nicht. Nur in seinen Augen stand noch das lauschende Licht. Da legte Mendel das Buch weg, blickte seinen Sohn traurig an und fuhr in dem mono­tonen Singsang fort:

»Hör mich, Menuchim, ich bin allein! Deine Brüder sind groß und fremd geworden, sie gehn zu den Soldaten. Deine Mutter ist ein Weib, was kann ich von ihr verlangen. Du bist mein jüngster Sohn, meine letzte und jüngste Hoffnung habe ich in dich gepflanzt. Warum schweigst du, Me­nuchim? Du bist mein wirklicher Sohn! Sieh her, Menuchim, und wiederhole die Worte: »Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde ...« Mendel wartete noch einen Augenblick. Menu­chim rührte sich nicht. Da klingelte Mendel wie­der mit dem Löffel an das Glas. Menuchim drehte sich um, und Mendel ergriff wie mit beiden Hän­den den Moment der Wachheit und sang wieder: »Hör mich, Menuchim! Ich bin alt, du bleibst mir allein von allen Kindern, Menuchim! Hör zu und sprich mir nach: Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde ...« Aber Menuchim rührte sich nicht. Da ließ Mendel mit einem schweren Seufzer Me­nuchim wieder auf den Boden. Er schob den Rie­gel zurück und trat vor die Tür, um seine Schü­ler zu erwarten. Menuchim kroch ihm nach und blieb auf der Schwelle hocken. Von der Turm­uhr schlug es sieben Schläge, vier tiefe und drei helle. Da rief Menuchim: »Mama, Mama!« Und als Mendel sich zu ihm umwandte, sah er, dass der Kleine den Kopf in die Luft streckte, als atmete er den nachhallenden Gesang der Glocken ein.

»Wofür bin ich so gestraft?« dachte Mendel. Und er durchforschte sein Gehirn nach irgendeiner Sünde und fand keine schwere. Die Schüler kamen. Er kehrte mit ihnen ins Haus zurück, und während er auf und ab durch die Stube wanderte, den und jenen ermahnte, den auf die Finger schlug und jenem einen leichten Stoß in die Rippen versetzte, dachte er unaufhör­lich: Wo ist die Sünde? Wo steckt die Sünde?

Deborah ging indessen zum Fuhrmann Sameschkin und fragte ihn, ob er sie in der nächsten Zeit umsonst nach Kluczýsk mitnehmen könnte.

»Ja«, sagte der Kutscher Sameschkin, er saß auf der blanken Ofenbank, ohne sich zu rühren, die Füße in graugelben Säcken, mit Stricken um­wickelt, und er duftete nach selbstgebrautem Schnaps. Deborah roch den Branntwein wie einen Feind. Es war der gefährliche Geruch der Bauern, der Vorbote unbegreiflicher Leidenschaften und der Begleiter der Pogromstimmungen. »Ja«, sagte Sameschkin, »wenn die Wege besser wären!« »Du hast mich einmal auch schon im Herbst mitgenommen, als die Wege noch schlechter waren.« »Ich erinnere mich nicht«, sagte Sameschkin, »du irrst dich, es wird ein trockener Sommertag gewesen sein.« »Kei­neswegs«, erwiderte Deborah, »es war Herbst, und es regnete, und ich fuhr zum Rabbi.« »Siehst du«, sagte Sameschkin, und seine bei­den Füße in den Säcken begannen sachte zu bau­meln, denn die Ofenbank war ziemlich hoch und Sameschkin ziemlich klein von Wuchs, – »siehst du«, sagte er, »damals fuhrst du zum Rabbi, es war vor euren hohen Feiertagen, und da nahm ich dich eben mit. Heute aber fährst du nicht zum Rabbi!« »Ich fahre in einer wichtigen Angelegenheit«, sagte Deborah, »Jonas und Schemarjah sollen niemals Soldaten werden!« »Auch ich war Soldat«, meinte Samesch­kin, »sieben Jahre, davon saß ich zwei im Zuchthaus, denn ich hatte gestohlen. Eine Kleinig­keit übrigens!« Er brachte Deborah zur Verzweif­lung. Seine Erzählungen bewiesen ihr nur, wie fremd er ihr war, ihr und ihren Söhnen, die nicht stehlen und auch nicht im Zuchthaus sitzen sollten. Also entschloss sie sich, schnell zu han­deln: »Wie viel soll ich dir zahlen?« »Gar ­nichts!« – »Ich verlange kein Geld, ich will auch nicht fahren! Der Schimmel ist alt, der Braune hat gleich auf einmal zwei Hufeisen verloren. Übrigens frisst er den ganzen Tag Hafer, wenn er einmal nur zwei Werst gelaufen ist. Ich kann ihn nicht mehr halten, ich will ihn verkaufen. Es ist überhaupt kein Leben, Fuhrmann sein!«

»Jonas wird den Braunen selbst zum Schmied führen«, sagte beharrlich Deborah , »er wird selbst die Hufeisen bezahlen.« »Viel­leicht!« erwiderte Sameschkin. »Wenn Jonas das selbst machen will, dann muss er aber auch ein Rad beschlagen lassen.« »Auch das!« versprach Deborah. »Wir fahren also nächste Woche!«

Also reiste sie nach Kluczýsk, zu dem unheim­lichen Kapturak. Viel lieber wäre sie eigentlich beim Rabbi eingetreten, denn gewiss war ein Wort aus seinem heiligen dünnen Mund mehr wert als eine Protektion Kapturaks. Aber der Rabbi empfing nicht zwischen Ostern und Pfing­sten, es sei denn in dringenden Fällen, in denen es sich um Leben und Tod handelte. Sie traf Kap­turak in der Schenke, wo er umringt von Bauern und Juden in der Ecke am Fenster saß und schrieb. Seine offene Mütze, mit dem aufwärts gekehrten Unterfutter, lag auf dem Tisch, neben den Papieren, wie eine ausgestreckte Hand, und viele Silbermünzen ruhten bereits in der Mütze und zogen die Augen aller Umstehenden an. Kap­turak kontrollierte sie von Zeit zu Zeit, obwohl er wusste, dass niemand wagen würde, ihm auch nur eine Kopeke zu entwenden. Er schrieb Ge­suche, Liebesbriefe und Postanweisungen für je­den Analphabeten – (außerdem konnte er Zähne ziehen und Haare schneiden).

»Ich habe mit dir eine wichtige Sache zu be­sprechen«, sagte Deborah über die Köpfe der Umstehenden hinweg. Kapturak schob mit einem Ruck alle Papiere von sich, die Menschen zer­streuten sich, er langte nach der Mütze, schüttete das Geld in die hohle Hand und knüpfte es in ein Taschentuch. Dann lud er Deborah ein, sich zu setzen.

Sie sah in seine harten kleinen Augen, wie in starre helle Knöpfchen aus Horn. »Meine Söhne müssen einrücken!«, sagte sie. »Du bist eine arme Frau«, sagte Kapturak mit einer fernen singenden Stimme, als läse er aus den Karten. »Du hast kein Geld sparen können, und kein Mensch kann dir helfen.« »Doch, ich habe ge­spart.« »Wie viel?« »Vierundzwanzig Rubel und siebzig Kopeken. Davon habe ich schon einen Rubel ausgegeben, um dich zu sehn.« »Das macht also nur dreiundzwanzig Rubel!« »Drei­undzwanzig Rubel und siebzig Kopeken!« ver­besserte Deborah. Kapturak hob die rechte Hand, spreizte Mittel- und Zeigefinger und fragte: »Und zwei Söhne?« »Zwei«, flüsterte Deborah. »Fünfundzwanzig kostet schon ein einziger!« »Für mich?« – »Auch für dich!«

Sie handelten eine halbe Stunde. Dann erklärte sich Kapturak mit fünfundzwanzig für einen zufrieden. »Wenigstens einer!« dachte Debo­rah.

Aber unterwegs, während sie auf der Fuhre Sameschkins saß und die Räder durch ihre Einge­weide und ihren armen Kopf holperten, erschien ihr die Lage noch elender als zuvor. Wie konnte sie ihre Söhne voneinander unterscheiden? Jonas oder Schemarjah? fragte sie sich unermüdlich. Besser einer als beide, sagte ihr Verstand, wehklagte ihr Herz.

Als sie nach Hause kam und ihren Söhnen das Urteil Kapturaks zu berichten anfing, unterbrach sie Jonas, der Ältere, mit den Worten: »Ich gehe gern zu den Soldaten!«

Deborah, die Tochter Mirjam, Schemarjah und Mendel Singer warteten, wie Hölzer. Endlich, da Jonas nichts weiter sprach, sagte Schemarjah: »Du bist ein Bruder! Ein guter Bruder bist du!« »Nein«, erwiderte Jonas, »ich will zu den Soldaten!«

»Vielleicht kommst du ein halbes Jahr später frei!« tröstete der Vater.

»Nein«, sagte Jonas, »ich will gar nicht freikommen! Ich bleibe bei den Soldaten!« Alle murmelten das Nachtgebet. Schweigsam entkleideten sie sich. Dann ging Mirjam im Hemd und auf koketten Zehen zur Lampe und pustete sie aus. Sie legten sich schlafen.

*

Am nächsten Morgen war Jonas verschwunden. Sie suchten nach ihm, den ganzen Vormittag. Erst am späten Abend erblickte ihn Mirjam. Er ritt einen Schimmel, trug eine braune Joppe und eine Soldatenmütze. »Bist du schon Soldat?« rief Mirjam. »Noch nicht«, sagte Jonas und hielt den Schimmel an. »Grüß’ Vater und Mutter. Ich bin bei Sameschkin, vorläufig, bis ich einrücke. Sag’, ich konnte es nicht bei euch aushalten, aber ich hab’ euch alle ganz gern!« Er ließ daraufhin eine Weidengerte pfeifen, zog an den Zügeln und ritt weiter. Von nun an war er Pferdeknecht beim Fuhrmann Sameschkin. Er striegelte den Schimmel und den Braunen, schlief bei ihnen im Stall, sog mit of­fenen genießenden Nasenlöchern ihren beizenden Urinduft ein und den sauren Schweiß. Er besorgte den Hafer und den Tränkeimer, flickte die Kop­peln, beschnitt die Schwänze, hängte neue Glöckchen an das Joch, füllte die Tröge, wechselte das faule Heu in den zwei Fuhren gegen trockenes aus, trank Samogonka mit Sameschkin, war be­trunken und befruchtete die Mägde. Man beweinte ihn zu Hause als einen Verlorenen, aber man vergaß ihn nicht. Der Sommer brach an, heiß und trocken. Die Abende sanken spät und golden über das Land. Vor der Hütte Sameschkins saß Jonas und spielte Ziehharmonika. Er war sehr betrunken und er erkannte seinen eigenen Vater nicht, der manchmal zögernd vor­beischlich, ein Schatten, der sich vor sich selbst fürchtet, ein Vater, der nicht aufhörte zu stau­nen, dass dieser Sohn seinen eigenen Lenden entsprossen war.

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9783843800006
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