Katzmann und die Dämonen des Krieges

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Dresden, am 16. Januar 1920



Der Militärbefehlshaber des Wehrkreises IV.



Gez. Maercker F. d. R.: Zimmermann, Major im Generalstab



«Das ist ja unglaublich!» Katzmann gab das Blatt zurück und trank sein Bier in einem Zug aus. Sofort winkte er beim Wirt nach einem neuen.



Die Kneipe wurde noch voller. Inzwischen drängten sich die Männer um die Tische, auf engen Holzstühlen, die der Wirt in einem Raum neben der Toilette in großen Mengen gehortet zu haben schien.



Heinz Eggebrecht musste schreien, um gegen den Lärm anzukommen. «Wir haben uns an das Verbot langsam gewöhnt. Aber eine Frechheit bleibt natürlich eine Frechheit!»



Schlagartig wurde es still in der Kneipe. Das zweite «Frechheit» hatte Eggebrecht wohl mit zu viel Kraft herausgeschleudert. Dutzende Augen schauten zu ihm, zu Katzmann … Die Blicke stellten Fragen, forderten Antworten - mit dem Selbstverständnis von Gläubigern, die einen überfälligen Anspruch auf viel Geld erheben. Selbst die Rauchschwaden von den Selbstgedrehten schienen in der Luft stehenzubleiben …



«Es ist nichts passiert, Leute! Wir reden über die LVZ .» Heinz Eggebrecht winkte mit dem Extrablatt.



Das Gemurmel kehrte in die Kneipe zurück, Wortfetzen ragten aus dem Gebrumm: «Scheißregierung in Dresden…», «Verräter…», «Alle erschießen!»



«O Mann, hier herrscht ja eine Stimmung.» Katzmann kratzte sich an der Stirn.



«Streiks, Versammlungen, Schießereien… Ein Funke, und hier brennt tatsächlich die Luft.»



«Und da wollen die gerade mich hier haben - einen Dresdner, einen Gemäßigten? Das macht mir Sorgen.»



«Ach was, Sie sind ein Unabhängiger. Das reicht denen. Die schicken mich zu Ihnen. Mich, den der Kuckuck ins Nest gelegt hat. Ich glaube, die wollen einfach ihre besten Leute hier haben. Es braut sich was zusammen.» Heinz Eggebrecht schaute sich im Raum um. Die Männer tranken wieder, als hätten sie nie etwas anders getan. Vermutlich war die Situation in Leipzig deshalb so brisant, weil diese Normalität von einem Moment zum nächsten platzen konnte wie ein explodierender Zeppelin.



«Und welcher Kuckuck hat Sie zur LVZ gebracht?»



«Das ist eine lange Geschichte.»



«Na, dann erzählen Sie am besten die Kurzform.» Katzmann grinste, trank und schwenkte dann sein Bier wie zur Aufforderung.



«Also gut. Ich war beim Photographen Schulze in der Lehre. Anderthalb Jahre, bis zum Krieg. Dann kam ich zur Truppe. Und als ich 1918 nach Leipzig zurückkam, war Schulze pleite und konnte mich nicht weiter beschäftigen. Keine gute Zeit für Photographen. Tote Soldaten heiraten nicht, und große Familienfeiern wurden auch seltener. Schulze war ein Unabhängiger der ersten Stunde, und so haben die Genossen mich bei der LVZ genommen. Und nun darf ich Anzeigen lithographieren. Für einen Lehrlingslohn. Mit über zwanzig. Das ist die Kurzfassung.»



Katzmann lachte, nickte und trank. Dann setzte er das Bier ab und sagte: «Da sind Sie ja ein richtiger Glückspilz! Und ich habe einen erwachsenen Mitstreiter. Fein. Ich bin damals um den Krieg herumgekommen …»



«Wie denn das?»



«Ausgemustert. Die Lunge. Asthma nennt der Arzt die Krankheit. Eigentlich soll ich auch nicht rauchen.»



«Na dann …» Heinz Eggebrecht blickte auf den Aschenbecher in der Mitte des Tisches und den Hügel ausgedrückter Zigaretten darin.



Katzmann richtete seinen Rücken auf, als wolle er eine Rede halten, und streckte die rechte Hand über den Tisch. «Ich heiße übrigens Konrad.»




ZWEI

 Samstag, 14. Februar 1920



DER SCHWARZE zog das Messer aus dem Gürtel und beugte sich über Preßburgs Leiche. Er zog den Kopf an den Haaren vom Körper weg, setzte die Klinge an, schnitt. Das Messer fuhr durch die graue Haut, durch das Fleisch, durch den Kehlkopf, als würde es Gelee zerteilen. Erst an der Wirbelsäule blieb der Stahl stecken. Der Schwarze sägte, zerrte, drehte den Kopf und bekam ihn schließlich vom Körper los. Er hielt ihn in die Höhe wie eine Trophäe. Kein Blut. Nur eine Kruste am Schnitt. Aus dem Kopf starrten tote Augen gen Decke.



Der Schwarze wandte die dunklen Augen zum Fenster. Er schritt durch den Raum, vorbei an den dicken Ordnern mit den Vertragssachen der Jahre 1900 bis 1913, passierte die schmalen Hefter der Jahre 1914 bis 1917 und erreichte das Fenster. Die Flügel klangen beim Öffnen wie die Holztür eines Hexenhauses.



Der Schwarze schwang sich in die Luft, flog los, Preßburgs Kopf an der ausgestreckten Hand vornweg.



Am Boden rauschte der Karl-Heine-Kanal durch das Dämmerlicht. Die Plagwitzer Klinkerbauten sahen aus wie die Zitadellenanlage eines Raubrittergeschlechts. Nebel schmeichelte sich um Schornsteine und um die Lastkraftwagen auf den Höfen, die an schlafende Ungeheuer erinnerten. Der Wind pfiff ein krankes Lied.



Die Häuser bekamen prächtigere Fassaden: Ornamente, Figuren auf Fenstersimsen und über Toreinfahrten, Erker. Schleußig. Dann der Park.



Über den Wipfeln der ersten Bäume warf der Schwarze den Kopf nach oben. Als der Schädel wieder fiel, trat er mit voller Kraft gegen ihn und schoss ihn Richtung Scheibenholz.



Kein Mensch spazierte durch den Park an diesem Morgen. Keiner sah, wie der Kopf auf die Wiese neben der Pferderennbahn plumpste, über das taufrische Gras kullerte. Als der Kopf zum Liegen gekommen war, nahm der Schwarze Anlauf zum nächsten Volleyschuss.



Der Kopf flog in hohem Bogen über den Zaun der Rennbahn, landete vor der Haupttribüne.



Der Schwarze machte einen Satz, mit einem Sprung landete auch er im Rund des Scheibenholzes, wandte sich zur Tribüne. Unter den beiden Türmen des massiven Steinkolosses saßen Skelette. Tausende. Sie klapperten Beifall. Es klang, als würde eine Ladung Besenstiele von einem Laster fallen.



Nach einer Verbeugung nahm der Schwarze den Kopf auf und hielt ihn in die Höhe. Aus seinem Mantel holte er Kürbismasken. Die Fratzen grinsten wie breitgezerrte Wölfe in einem Hohlspiegel.



Der Schwarze jonglierte. Der Applaus toste lauter. Die ersten Gerippe standen von ihren Sitzen auf, klapperten mit allen Knochen.



Nach ein paar Runden schoss der Schwarze die Kürbisse nacheinander gen Tribüne, wo sie an den Säulen der Restaurantanlage im Erdgeschoss zerbarsten. Die Menge tobte. Die Skelette sprangen, fielen sich in die Arme - ein paar Gebeine flogen in die Luft.



Der Schwarze verbeugte sich tief, winkte seinen Zuschauern zu, wandte sich dem linken Flügel der Tribüne zu, der Mitte, der rechten Seite. Noch einmal beugte er sich mit dem Kopf fast bis zum Boden. Dann streckte er Preßburgs Kopf abermals in die Höhe und schwang sich zum Himmel hinauf. Flog zurück über den Park, über Schleußig hinweg, nach Plagwitz. Rasend schnell.



Das Licht blieb diffus, die Sonne schien die Dämmerung nicht beenden zu können - ganz, als sei die Zeit stehengeblieben.



Der Schwarze erreichte die Weißenfelser Straße, stoppte seinen Flug vor einer der schmucklosen Mietskasernen. Er blickte durch das Fenster im dritten Stockwerk auf das schlafende Mädchen.



Sie hatte die Daunendecke bis über ihr Kinn gezogen, wie ein Schild, das sie vor der Unbill der Welt schützen sollte. Der Schwarze kniete sich auf den Fenstersims, legte Preßburgs Kopf neben sich ab, presste die linke Hand auf die Scheibe. An seiner rechten wuchs ein Nagel aus dem Zeigefinger, scharf wie eine frischgeschliffene Klinge. Er zog mit dem Fingernagel einen Kreis - so groß wie ein Küchentablett - um die linke Hand.



Das Glas klebte an der Linken, als er es vorsichtig aus der Fensterscheibe löste. Mit einem Schwung schleuderte der Schwarze das Glas gen Himmel - es flatterte im Flug und erinnerte dabei an einen Hut, den ein feiner Herr auf einen Garderobenständer wirft. In hohem Bogen pfiff das Glas über das Haus gegenüber und verschwand.



Der Schwarze nahm den Kopf auf und schwebte durch das Loch, näherte sich dem Bett des Mädchens, legte Preßburgs Kopf auf das Kissen.



Liesbeth Weymann schrie, so laut sie konnte. Mit einem Ruck schoss sie in ihrem Bett hoch. Die Decke flog zum Fußende.



Sie riss die Augen auf. Stille. Kein Schwarzer da. Sie blickte über ihre Schultern auf das Kopfkissen. Kein Kopf. Das Fenster unversehrt.



Auf ihrer Stirn rann der Schweiß, verwandelte Haare und Augenbrauen in feuchtes Gewebe. Das Herz raste, die Schläge unter der Haut klangen wie ein Pochen an der Tür.



Es pochte an der Tür.



Liesbeth Weymann griff nach der Decke, zog sie über das Nachthemd.



Poch, Poch!



Sie sah, wie sich die Klinke bewegte, die Tür geöffnet wurde.



«Mama!»



«Kind, warum schreist du denn so? Da gefriert einem ja die Haut.»



Mokka, Zeitung, Zigarette - Heinz Eggebrecht genoss seinen Luxus. Der Tisch stand direkt am offenen Fenster, und viel Platz bis zur Tür in seinem Rücken blieb nicht. Aber er konnte immerhin auf die Zeitzer Straße schauen.



Auf das möblierte Zimmer musste er einen großen Teil seines Lehrlingslohnes verwenden, dafür konnte Heinz Eggebrecht in der Südvorstadt wohnen, zwischen all den Handwerkern, kleinen Ladenbesitzern, Lehrern - dem Leipziger Mittelstand.



Nicht wenige seiner Kollegen bei der LVZ wohnten in den Mietskasernen im Osten der Stadt. Vielleicht, weil sie es so nicht weit bis zur Redaktion in der Tauchaer Straße hatten, sicher aber auch aus Überzeugung. Dabei waren viele von ihnen durchaus bürgerlicher Herkunft. Zwar kam nicht jeder aus so gutem Hause wie Katzmann, aber das Gymnasium hatten sie fast alle besucht.



Heinz Eggebrecht trank einen Schluck Mokka. Diese Delikatesse verdankte er seiner Stelle bei der Zeitung. Die Anzeige für den Kolonialwarenhändler war ihm tatsächlich gut gelungen, deshalb hatte Heinz Eggebrecht auch kein schlechtes Gewissen, das Päckchen mit dem schwarzen Mokkapulver anzunehmen. Auch die feinen englischen Zigaretten kamen von einem Kunden. Die Kollegen sahen die kleinen Präsente zwar nicht gern, sagten aber auch nichts. Sicher werteten sie seinen jämmerlichen Lehrlingslohn als mildernden Umstand.

 



Das Getränk lag auf der Zunge wie ein winziger Teich, Bitterkeit breitete sich im Rachen aus, belebte den Gaumen. Herrlich! Noch ein Zug von der Zigarette. Ein perfekter Samstagvormittag.



Unten auf der Straße kauften die Leute Waren ein. Hier oben klangen die Menschen, als schnatterten Enten im Stimmbruch. Gelegentlich klang eine Türglocke von einem der zahllosen Ladengeschäfte in der Zeitzer Straße herauf.



Heinz Eggebrecht nahm die Morgenausgabe der Leipziger Neuesten Nachrichten und las. Er begann mit einem kurzen Artikel über Die Aussichten der Frühjahrsmesse, ganz oben auf der Titelseite: Über 11 500 Aussteller seien bereits angemeldet, 40 000 Einkäufer hätten sich beim Messeamt eingetragen. Es schien also wieder aufwärts zu gehen, mit der Wirtschaft, mit dem Leben.



Die Berichte aus der lokalen Wirtschaft las Heinz Eggebrecht in den Neuesten Nachrichten gerne. Die endlosen Börsenberichte interessierten ihn mangels Vermögen nicht, die Hinweise auf die Versammlungen der Deutschnationalen ignorierte er. Die Zeitung bekam er von der Vermieterin kostenlos, wenn diese sie gelesen hatte. Er schaute in das großbürgerliche Blatt aber auch, um zu wissen, was die anderen so trieben.



Zum Beispiel ging es um die Auslieferung der deutschen Kriegsverbrecher an die Ententestaaten. Die Neuesten Nachrichten behandelten dieses Thema seit Wochen fast täglich auf dem Titel. Auch heute berichteten sie, dass der Leipziger Studentenausschuss gestern auf einer Versammlung gegen die Auslieferung protestiert hatte. Es gehe um die Ehre Deutschlands, wurde Rektor Brandenburg zitiert.



Heinz Eggebrecht dachte an den Krieg, sah die von deutschen Soldaten gehängten Zivilisten vor seinem inneren Auge, wie sie an den Galgen zappelten. Die Schreie vor den Erschießungen, schrill wie berstendes Glas. Die Leichenberge. Der Gestank …



Ehre ? Ekel spürte er. Aber waren die Sieger tatsächlich besser, oder konnten sie nur die Moralischen spielen, weil sie den Krieg gewonnen hatten?



Schnell blätterte er weiter, während er an der Zigarette zog. Auf Seite drei fand er einen kurzen Bericht über Stresemann und den Wiederaufbau Deutschlands. Stresemanns Rede vor der Leipziger Ortsgruppe des Industriellenverbandes wurde zitiert: Sozialisierung sei gefährlich, Politik solle aus den Betrieben herausgehalten werden - lauter Thesen, die in der LVZ sicher heftig bekämpft würden, könnte sie erscheinen. Am Ende wurde Stresemann optimistisch: Die Arbeitslust im Lande sei wieder vorhanden. Auch der Wunsch nach Autorität.



Ersteres konnte Heinz Eggebrecht nachvollziehen, von Autorität allerdings hatte er seit dem Krieg die Nase gestrichen voll.



Schnell umblättern. Ein Schluck aus der Tasse. Er trank so hastig, dass er kurz husten musste. Da, die Meldungen aus Leipzig…



Das Wetter sollte weiter mild bleiben, gelegentlicher Regen. Heinz Eggebrecht überflog die Seite, blieb hängen an einer kurzen Meldung:



Großhändler im Bureau erschossen

 Am Freitagmittag wurde der Unternehmer August Preßburg in seinem Bureau tot aufgefunden. Wie die Polizei mitteilte, ist der Inhaber des Großhandels Preßburg erschossen worden. Die Sekretärin habe den Leichnam nach der Mittagspause entdeckt. Vom Täter fehlt bislang jede Spur.



Heinz Eggebrecht legte die Zeitung auf den Tisch. Er blies einen Rauchkringel zum offenen Fenster hinaus. Den Namen Preßburg hatte er schon mal gehört. Aber wo?



Der letzte Schluck Mokka aus der Tasse half auch nicht. Nein, spontan fiel ihm nichts ein zu dem Namen. Das musste er in der Redaktion klären.



Die Kartoffelsuppe dampfte im Kochtopf und roch nach Kindheit. Die zeitige Samstagsschicht steckte Liesbeth Weymann noch in den Knochen, und sie war hungrig. Im Betrieb galt der Achtstundentag. Die Arbeiter hatten sich das Mehr an Wochenende durch die frühe Schicht erkämpft, deshalb musste Familie Weymann schon um fünf Uhr aufstehen. Und heute auch noch mit Alptraum.



Sie stellte Teller auf den viel zu großen Tisch. Früher hatte die Familie kaum in die Küche gepasst. Doch Albert und Karl, die beiden Brüder, waren im Krieg geblieben, und nun lebte die Familie zu dritt in der Wohnung. Liesbeth Weymann hatte ihr eigenes Zimmer, und drei Löffel reichten für das Weymann’sche Mittagsmahl.



Käthe Weymann rührte mit einer Holzkelle im Topf. Sie hatte sich in den letzten Jahren so sehr verändert, dass Lisbeth Weymann angst und bange wurde. Mama sah aus wie eine alte Frau: lief gebeugt wie eine Oma, die Haare ergraut, tiefe Falten auf Stirn und Wangen.



Ludwig Weymann trat in die Essküche. Auch bei ihm hatten sich graue Strähnen an die Schläfen gemogelt. Doch der Vater strotzte vor Kraft, schien zu blühen. Er schlang den Arm um die Taille seiner Frau, gab ihr einen flüchtigen Kuss auf den Schopf, beugte seine Nase über den Topf. «Hm, wie das riecht …»



Käthe Weymann kicherte. Sie wuchtete mit einer Drehung aus der Hüfte den Topf auf den Esstisch. Durch ihr Lächeln wirkte sie gleich um Jahre jünger, fand Liesbeth Weymann. Das freute sie, auch wenn die Zärtlichkeiten ihrer Eltern ihr unangenehm waren - sie kam sich dabei immer so vor, als würde sie im Schlafzimmerschrank der Eltern durchs Schlüsselloch linsen.



Die Mutter verteilte die Suppe und faltete die Hände zum Gebet, der Vater verdrehte die Augen. Liesbeth Weymann senkte den Blick, bevor Vater sie ansehen konnte. Das Ritual vorm gemeinsamen Essen.



Frau Weymann seufzte leise.



«Nun aber Mahlzeit!» Ludwig Weymann hielt den Löffel aufrecht in der Hand.



Liesbeth Weymann murmelte: «Guten Appetit!» Sie begannen zu essen. Die Suppe war cremig. Seit Liesbeth und der Vater Geld nach Hause brachten, konnte Mama mehr Kartoffeln in die Suppe schnippeln. Da war schon wieder der Gedanke an das Bureau. An Preßburgs Leiche …



«Wo hat der Bastard eigentlich das Loch im Kopf gehabt?» Der Vater schien auch nicht von dem Mord loszukommen.



«So spricht man nicht über Tote!», mahnte Mama.



«Vom Sterben wird so einer auch nicht besser», brummte Ludwig Weymann, aß einen Löffel Suppe und blickte zu seiner Tochter.



Ach ja, die Frage nach dem Loch im Kopf. «Mitten auf der Stirn.» Auch Liesbeth Weymann aß etwas von der Suppe. Sie zögerte. «Und Herr Preßburg war immer nett zu mir. Urteile nicht zu hart über ihn, Vati!» Sie hoffte, dass der Kosename seinen Zorn milderte.



«Lieschen, er zahlt Hungerlöhne, und beim kleinsten Fehler gibt es noch Abzüge. Die Überstunden werden auch nicht bezahlt. Er ist ein Ausbeuter!»



«Aber Ludwig, er ist doch tot. Lass ihn ruhen!»



«Außerdem war er ein rechter Hund. Wenn es deinen Gott gibt, schmort er in der Hölle.»



«Nun ist aber gut, Ludwig! Wenn du schimpfen willst, such dir einen lebendigen Gegner!» Die Mutter legte den Löffel neben den Teller.



Liesbeth Weymann überlegte, wie sie die Situation entspannen konnte. Vater und seine Politik, da schaltete er auf stur. Dabei war Herr Preßburg seinen Verkäufern ein guter Chef gewesen: immer für sie zu sprechen, stets einen guten Hinweis parat. Aber das würde ihr Vater niemals gelten lassen - für ihn war er schlicht ein Ausbeuter, ein rechter Hund …



Und Mama? Die kochte schon fast über vor Ärger. Liesbeth Weymann musste das Thema wechseln …



«Ich gehe morgen übrigens ins Lichtspielhaus.»



Mama schaute sie an, Liesbeth kam sich vor, als habe sie eine exotische Fremdsprache benutzt, Chinesisch vielleicht. Aber immerhin, es schien zu wirken: Mama schüttelte nur den Kopf und aß weiter. Dabei bewegten sich ihre Wangenknochen, als müssten sie Kieselsteine zermahlen. «Das ist doch nichts für Mädchen.» Und mit einem Blick zum Vater: «Sag doch auch mal was, Ludwig!»



«Ach Käthchen, das Kind ist doch erwachsen.» Der Vater brummte die Worte, ohne aufzuschauen.



«Aber man hört so schreckliche Sachen über diese Filme … «



«Du musst nicht immer alles glauben, was so getratscht wird. Unsere Tochter weiß schon, wo sie hingeht.»



«Wir sind immer noch ihre Eltern!»



Am liebsten hätte Liesbeth Weymann laut protestiert. Konnten ihre Eltern nicht mit ihr reden? Sie saß doch hier am Tisch. Der Vater musste ihren Ärger bemerkt haben - er schaute sie an, als hätte er zu ihrem Geburtstag die Blumen vergessen. Dann blickte er zu seiner Frau. Die schüttelte immer noch den Kopf.



«Lieschen, mit wem gehst du denn?»



«Mit Frieda. Wir treffen uns auf dem Markt, und dann spazieren wir zum Colosseum auf dem Roßplatz.»



«Das klingt nach einem schönen Sonntag. Das sollten wir auch mal machen, Käthe.»



«Ach Ludwig.» Käthe Weymann kicherte wieder. «Das überlass mal den jungen Leuten.»



«24.» Helmut Cramer lächelte in sich hinein, versteckte sein Grinsen ganz tief im Rachen. Nur keine Regung nach außen zeigen!



Der Rauch seiner Zigarette stieg zur Decke, schimmerte wie ein dünner Streifen Seide, der die Fallrichtung verwechselt hatte. Das Kneipengemurmel gab ihm ein gutes Gefühl: Heimat, Sicherheit.



Er hatte das Blatt gegeben, ein bisschen getrickst, wusste nun, dass der Eichel-Bube im Skat lag. Ede konnte nicht mitreizen. Und wenn sein Gegenüber, Hans oder Franz oder so, zu lange im Rennen blieb, würde er sich überreizen und verlieren. Stieg Hans/Franz aus, gingen die Trümpfe an ihn, den Schönen, den Gewinner. Der Alte würde gut zum grünen Buben auf seiner Hand passen. Genau wie das Grün-Ass, das auch im Skat wartete. Hier konnte nichts schiefgehen.



Hans/Franz nickte, und dann ging alles ganz schnell.



«30.»



Nicken.



«33.»



Nicken.



Das Grün ließ sich auch mit den beiden höchsten Buben nicht mehr spielen. Hans/Franz würde gleich den Skat aufnehmen, den Eichel-Buben finden und merken, dass er sich überreizt hatte. Jetzt nur die Ruhe! Helmut Cramer hob sein Blatt vor die Augen, drehte es leicht hin und her, so, als müsse er die einzelnen Karten auf ihr Gewicht hin prüfen. Er schloss kurz die Augen, neigte den Kopf ein wenig nach hinten, so, wie er sich vorstellte, dass ein Denker seiner Tätigkeit nachgeht. Die Bewegungen blieben spärlich, das hatte er zu Hause vor dem Spiegel geübt. Große Gesten wirkten immer unecht, es musste aussehen, als sei jede seiner Regungen eine unwillkürliche Reaktion auf den Spielverlauf.



«Dein Spiel.» Helmut Cramer hörte seine Worte, das vermeintliche Bedauern in ihnen - er war stolz auf sich.



«Eichel-Hand.»



Verflixt! Eichel-Hand war 36 wert, Hans/Franz hatte ihn gefoppt! Spielte der auch falsch?



Hans/Franz trank einen Schluck Bier, guckte arglos wie ein pflanzenfressender Waldbewohner, ein Reh vielleicht.



Jetzt ging es um Schadensbegrenzung. Mit Edes Skatkünsten rechnete er lieber nicht, der spielte an diesem Tisch das Opfer. Aber auch wenn er das Spiel abschrieb, lag er noch gut im Plus.



Alles lief schief. Hans/Franz spielte seine Trümpfe gekonnt aus. Kleine Stiche nutzte er, um lästige Karten abzuwerfen und Ede nach vorn kommen zu lassen.



Erst ganz zum Schluss reichten die Trümpfe nicht mehr. Mit den letzten beiden Stichen rettete Helmut Cramer sich und Ede aus dem Schneider.



«Da haben wir aber Glück gehabt.» Ede zählte ihre gewonnenen Stiche.



Der zählte während des Spiels nicht mal mit.



Helmut Cramer trank einen winzigen Schluck Bier. Hier in der Kanalschenke musste er natürlich Alkohol trinken, sonst würde er auffallen. Aber Geld mit Skat ließ sich nun mal nur in nüchternem Zustand machen. Nur mit voller Konzentration.



Ede mischte die Karten neu, legte den Stapel vor Helmut Cramer zum Abheben hin und trank einen großen Schluck von seinem Bier.



Helmut Cramer nahm die Karten in die Hand und schaute Ede an. Er ließ die Ecken der Karten schnippen und teilte den Stapel. Aus dem Augenwinkel konnte er erkennen, wie zwei Buben und das Rot-Ass in seinen Händen kurz vors untere Ende des neuen Blattes wanderten. Ohne den Blick von ihm zu lassen, schob er die Karten wieder zu Ede.



Erst als der gab, trank Helmut Cramer einen weiteren Schluck und sah beiläufig zu Hans/Franz hinüber. Nur kurz. Dann drehte er seinen Kopf, als würde er sich vor lauter Langeweile umgucken. Hans/Franz wirkte arglos. Die Kneipensitzer interessierten ihn nicht, auch nicht der Kollege seines Bruders aus dem Großhandel, der in der Ecke mit großer Geste Reden schwang. Aber dieser feine Pinkel dort - wieso starrte der ihn so an?

 



«He, Schöner, du sagst an! Hannes hört.» Ede riss ihn aus den Gedanken. Und Hans/Franz hieß also Hannes.



«Immer mit der Ruhe.» Helmut Cramer nahm sein Blatt auf. Eichel-Bube, Schell-Bube, Rot-Ass lagen ganz unten. Den grünen Buben fand er auch und die Rot-Zehn, das Eichel-Ass. Ja, er half dem Glück ein bisschen auf die Sprünge, aber es ließ sich auch gerne helfen.



«18.»



«Nach einem guten Spiel soll man passen.» Hannes sprach die Worte selbstsicher wie ein Richter sein Urteil, verzog keine Miene, als er Ede zunickte.



«20.» Ede spuckte die Zahl aus, als hätten sich die Ziffern beim Warten im Rachen angesammelt.



«Ja.» Helmut Cramer wunderte sich kurz über Edes Elan. Aber sein Grand mit Zweien würde der nicht überbieten können. Keine Gefahr.



«Zwei.»



«Ja.»



«Drei.»



«Ja.»



Ede zögerte. Wollte der Null spielen? Das bedeutete, dass Ede nur kleine Karten hatte und Hannes ein schlechtes Blatt. Helmut Cramer versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie er sich fühlte. Wie ein Primaner, der durch Abschreiben eine Eins in Mathe kassiert hatte. Er lehnte sich zurück, schaute ins Kneipenrund, der Lackaffe war ins Gespräch mit seinem Tischgesellen vertieft. Was für ein Pärchen! Der Pinkel redete auf einen Lockenkopf ein - der steckte in einem zerknitterten Jackett, das vielleicht zur Konfirmation mal gepasst hatte.



«Sieben.» Ede schnaufte beim Sprechen wie ein Pferd.



«Ja.»



«30?»



«Ja.»



«33?»



«Ja.»



«Und … äh … 35?»



«Ja.»



«Ach Mann, dann spiel den Scheiß!» Ede sah aus, als hätte der Wirt ihm gesagt, dass er heute Abend nicht anschreiben dürfe.



Helmut Cramer nahm den Skat auf: Schell-Bube und Rot-Ass. Unglaublich! Heute schienen alle Götter aus Himmel und Hölle freigenommen zu haben, um sich um sein Skatspiel zu kümmern.



«Grand. Schneider angesagt!» Er ließ den Worten das Rot-Ass folgen.



«Ist in Ordnung, ich zahle heute Abend!» Konrad Katzmann untermalte seine Worte mit einer Armbewegung, als wolle er die ganze Kneipe einladen.



Die Worte galten selbstverständlich ihm, Heinz Eggebrecht. Er hätte sonst nach diesem Bier den Heimweg antreten müssen, mehr ließ seine Lehrlingslohntüte einfach nicht zu.



Nun konnten sie ihre Diskussion über die Photographie fortsetzen, Konrad Katzmann spendierte das Bier wohl auch aus einem gewissen Eigennutz heraus.



«Ich danke dir! Der Photographie gehört trotzdem die Zukunft.»



«Schon gut, du lädst mich ein, wenn du ein berühmter Photograph geworden bist. Aber eins musst du mir erklären: Was soll eine Photographie denn zeigen, was ein Text nicht schildern kann?»



Dagegen ließ sich schwer argumentieren. Auch Heinz Eggebrecht konnte ein gut geschriebenes Buch oft nicht aus der Hand legen, las die Nacht hindurch, bis zum Ende des Textes.



Er nahm eine Zigarette aus dem Etui, das Konrad Katzmann vorhin auf den Tisch gelegt hatte. Das Streichholz warf eine fingerhohe Flamme, der Tabak glimmte mit dem Rot eines Spätsommer-Sonnenuntergangs. Ein Schluck Bier, ein perfekter Moment. Jetzt fiel ihm das entscheidende Argument ein: «Menschen glauben am ehesten, was sie selbst sehen. Das aber liefert ihnen nur die Photographie, nicht der Text.»



Katzmann schien einen Moment überlegen zu müssen. In seinem Gesicht arbeitete es wie auf einer Baustelle, der Mund war schmal wie ein Graben, und auf der Stirn schienen kleine Schaufeln ihr Werk zu tun.



«Eine Photographie zeigt immer nur den Moment. Der Text aber beschreibt den Prozess, zeigt die Zusammenhänge auf, beleuchtet die Hintergründe. Der intelligente Leser weiß das.»



«Natürlich wird es immer Texte in der Zeitung geben, Nachrichten, Reportagen. Aber es wird der Tag kommen, an dem keine Zeitung mehr ohne Photographien erscheint.»



«Ah, der junge Mann ist also Hellseher!» Katzmann grinste von Ohr zu Ohr. «Photographien sind teuer. Wer soll eine Zeitung bezahlen, in der jeden Tag welche abgedruckt werden? Die Leute hier?» Sein Arm beschrieb einen Kreis, der den Gastraum umfasste.



Der Punkt ging schon wieder an ihn. Für die Arbeiter hier waren bereits die 2,75 Reichsmark für das Selbstabholerabonnement kein Pappenstiel. Teurer dürfte die Zeitung wirklich nicht werden.



Auch Konrad Katzmann nahm sich eine weitere Zigarette. Zwei Rauchsäulen stiegen vom Tisch auf, verschmolzen unter der Decke

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