Der ermordete Gärtner

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«Wie heißt Ihr Vater?»

«Eggebrecht.»

Bölke sah ihn an, als wolle er ihn am liebsten einkerkern.

«Paul, Paul Eggebrecht.»

Bölke wandte sich zur Kleingärtner-Ausgabe von Patachon. «Den kennen Sie aber, Herr Zebulke.»

«Natürlich kenne ich den Eggebrecht-Paul. Hält seinen Garten in Ordnung, der Paule. Vielleicht könnte die Hütte mal einen Anstrich vertragen.»

«Dann lassen Sie uns doch schauen, ob die Diebe auch Ihren Garten besucht haben», sagte Bölke.

«Die Bande hat den ganzen Weg herunter marodiert», erklärte Zebulke. «Oben beim Hempel-Adam haben sie den Geräteschuppen aufgebrochen, bei mir waren sie in der Laube und dann auch noch beim armen Gebhardt-Franz.»

Bölke sah den Dürren böse an, aber der bemerkte das nicht und redete weiter. «Übel haben sie den Gebhardt-Franz zugerichtet, die Strolche. Ich habe ihn heute Morgen gefunden.» Bei seinen letzten Worten zeigte Zebulke hinter sich zum Garten, in dem sich der Photograph und die Spurensucher tummelten.

«Und der Herr Gebhardt war über Nacht in seiner Laube?», fragte Eggebrecht.

«Werter Herr Eggebrecht», Bölke blieb stehen und sprach laut, als hielte er eine Ansprache, «ich kann Ihnen bestätigen, dass wir Ermittlungen wegen eines Tötungsdeliktes aufgenommen haben. Und Herr Zebulke hat es Ihnen gesagt, wir haben Anlass zur Annahme, dass es sich bei dem Toten um Herrn Franz Gebhardt handelt. Mehr gibt es im Augenblick nicht zu sagen. Auch nichts zum Zeitpunkt einer etwaigen Tat.»

Bölke lief wieder los. Eggebrecht und Zebulke trotteten hinterher. Für einen Moment war nur das Knirschen ihrer Schritte zu hören.

In Höhe der Eggebrecht’schen Hecke sagte Bölke zu Zebulke: «Ich möchte Sie bitten, keine Gerüchte in Umlauf zu bringen.» An Eggebrecht gewandt fuhr er fort: «Und wenn Sie oder Ihr schreibender Freund Katzmann Informationen brauchen, dann melden Sie sich bitte bei mir. Ausschließlich bei mir!»

Zebulke nickte, Eggebrecht auch.

«Na, dann ist ja alles klar.» Bölke blickte über das Gartentor zur Laube des alten Eggebrecht. «Ich schicke Ihnen einen Beamten, der mit Ihnen den Schaden an Ihrer Laubentür protokolliert.»

Konrad Katzmann saß in seinem Bureau und starrte auf seine Schreibmaschine. Die Erika hatte er sich im vorigen Jahr geleistet, das zusammenklappbare Modell konnte er auf Reportagereisen oder nach Dresden mitnehmen. Im Augenblick war die Walze leer. Und selbst wenn er einen Bogen Papier einspannen würde, fiele ihm bestimmt nichts ein. Seine Gedanken waren nicht in diesem Bureau …

Er nahm den Stapel Papier in die Hand, den Leistner ihm vorhin übergeben hatte. Der Chefredakteur wollte, dass er die wichtigsten Artikel der heutigen Ausgabe las, bevor die Leipziger Volkszeitung am Nachmittag erschien. Katzmann überflog die erste Seite. Parteitag der Volkspartei. In dem Artikel lobte der Vorsitzende der Deutschen Volkspartei das Ende des politischen Tauziehens um den Youngplan, der dem Deutschen Reich gewisse Entlastungen bei den Reparationszahlungen aus dem Ersten Weltkrieg verschaffte. Jetzt müsse die Deutsche Volkspartei für die innere Sanierung der deutschen Wirtschaft und der Finanzen ernsthaft Sorge tragen. Er blätterte weiter. Brotgesetz und Zollerhöhung. Der Einspalter, der neben den Aufmacher auf die erste Seite sollte, prangerte einen Gesetzentwurf an, der Getreideimporte aus Russland verteuern sollte. Eingestandenermaßen hat der Gesetzentwurf nur den einen Zweck: Steigerung des Roggenbrotkonsums zugunsten des tiefverschuldeten roggenbauenden Großgrundbesitzes östlich der Elbe.

Katzmann konnte sich nicht konzentrieren. Am besten bat er Leistner um ein paar Tage Urlaub und setzte sich in den nächsten Zug zurück nach Dresden. Oder noch besser, er tat so, als ob er für eine Geschichte in Dresden recherchieren müsse. Dort versuchte der Präsident des sächsischen Staatsrechnungshofes, Walther Schieck, ein Kabinett aus parteilosen Fachministern zusammenzustellen. Bestimmt fand Katzmann einen kleinen Mitarbeiter in einem Ministerium, an dessen Beispiel er die Ränkespiele der Macht schildern konnte.

Wenn er gleich zu Leistner ging, schaffte er vielleicht noch den 11.35-Uhr-Zug und wäre gegen drei Uhr nachmittags in Dresden. Katzmann stand auf, durchquerte mit wenigen Schritten seine Schreibstube und trat auf den Flur.

Das Bureau des Chefredakteurs lag schräg gegenüber. Leistners Tür war geschlossen, also klopfte Katzmann an. Drinnen blieb es still. Vorsichtig drückte er die Klinke und zog die Tür einen Spaltbreit auf.

Leistner hielt den Hörer seines Fernsprechapparates in der Hand und nickte, als könne sein Gesprächspartner ihn sehen. Oder bat er Katzmann herein? Nein, Leistner blickte jetzt auf, sah Katzmann und gab ihm per Handzeichen zu verstehen, dass er beschäftigt sei. Dabei versuchte der Chefradakteur, gleichzeitig den Kopf zu schütteln und seinem Anrufer zuzunicken. Beim Versuch, durch das Spreizen der Finger eine Zehn zu zeigen, rutschte Leistner der Hörer beinahe aus der Hand. Katzmann schloss die Tür.

In seiner Schreibstube klingelte der Telephonapparat. Versprach das Ablenkung, oder drohte Arbeit? Und wollte er das überhaupt herausfinden? Er trottete langsam zurück zu seinem Sekretär, auf dem der Fernsprecher stand. Der Anrufer schien Geduld zu haben, es klingelte mittlerweile bestimmt zum fünften Mal …

Katzmann ließ sich auf seinen Stuhl fallen und hob den Hörer ab. Das Fräulein vom Amt meldete einen Anruf von Herrn Eggebrecht … Heinz Eggebrecht, der alte Kumpel – seit Monaten hatten sie keinen Kontakt gehabt. Und nun meldete er sich am Montagvormittag per Telephon. Was konnte es so Dringendes geben?

«Konrad, du glaubst ja nicht, was mir gerade passiert ist …»

«Guten Tag, Heinz!»

«Ach ja, Tag auch, Konrad! Du glaubst ja nicht …»

«Nun mach mal langsam, Heinz! Wie geht’s dir denn so?»

«Gut. Aber eben … Ich habe Bölke getroffen.»

Bölke, Oberkommissar Bölke – der Name rief bei Katzmann mehrere Mordfälle in Erinnerung. Wann waren die gewesen? Der letzte lag vier Jahre zurück, 1926. Seit dem anderen Fall mit Bölke waren bestimmt zehn Jahre vergangen.

«Und wo Bölke ist, was gibt es da?»

Was stellte Eggebrecht für dumme Fragen? Was sollte es bei Bölke schon geben? Polizeiautos? Dienstmützen?

«Eine Leiche. Ganz frisch tot. Mord. Bestimmt. Vom Täter ist nichts bekannt.»

«Das sagt Bölke? Mord? Bestimmt?»

«Ach Konrad, du kennst doch den dicken Kerl. Der sagt nichts. Jedenfalls nichts, womit man etwas anfangen könnte.»

«So …»

«Aber ich habe einen Kopf mit Augen und Ohren, und eins und eins krieg ich auch zusammengezählt.»

«Du kannst rechnen. Und deswegen rufst du mich an?» In der Leitung war es still. Katzmann überlegte, ob er zu weit gegangen war. Eggebrecht konnte nichts für seine schlechte Stimmung. «Tut mir leid, Heinz.»

«Ich habe jedenfalls Photographien vom Tatort aufgenommen. Gleich nachdem die Polizisten weg waren. Da hat jemand eine hübsche Sauerei veranstaltet.»

Katzmann brummelte: «Hm.»

«Ich zeige dir die Bilder gern.»

«Hm.»

«Und dann schauen wir, ob da eine Geschichte hinter dem Blutbad lauert.»

Vielleicht hatte der alte Freund recht. Möglicherweise lag in einem Mordfall die Abwechslung, die Katzmanns Kopf lüftete. Wenn er sich um das Leid anderer Leute kümmerte, musste er nicht an die eigenen Sorgen denken. Außerdem schaffte er es bis zum 11.35-Uhr-Zug ohnehin nicht mehr, Leistner von wichtigen Geschichten in Dresden zu überzeugen.

«Also, was ist, Konrad», fragte Eggebrecht, «bist du dabei?»

«In Ordnung. Ich frage Leistner, ob ich ein bisschen Platz für die Sache bekomme. Wir treffen uns, und du erzählst mir alles.»

«Wie wär’s mal wieder mit ’nem Bier?»

«Gut, wir treffen uns heute Abend. Bis dahin hab ich mir die offizielle Version von Bölke geholt.» Katzmann merkte, wie seine Gedanken in Schwung kamen. Er sah schon einen kleinen Vierzeiler vor sich. Den konnte er noch in die morgige Ausgabe bringen. In den kommenden Tagen würde er sich ein bisschen umhören. «Wo bist du eigentlich über die Leiche gestolpert?», fragte er Eggebrecht.

«Bei uns im Garten!»

«Wo?» Katzmann traute seinen Ohren nicht.

«Mein Vater hat seit ein paar Jahren eine Parzelle in der Schrebergartenanlage. Und dort lag der Tote in einer Laube. Als ich heute Morgen ankam, hab ich die Polizisten gesehen.» Eggebrecht zögerte kurz. «Ich erzähle dir heute Abend alles in Ruhe. Kommst du mit deinem Knatterofen zu mir in den Westen?»

Manni fasste an seine Jacke. Die Waffe steckte noch in der Innentasche. Genauso wie vor zwei Minuten, vor fünf Minuten, vor zehn Minuten. Er stand auf der Plagwitzer Brücke und sah hinunter zum Klingerhain. Dort war er mit Höker-Hannes verabredet. Die Glocken der Heilandskirche schlugen dreimal. Ihm blieb also noch eine Viertelstunde bis zum Treffen um zwei.

Keine Polente. Manni hatte einen Blick dafür. Die Gegend war sauber wie ein frisch geputzter Lackschuh.

Er hatte kein gutes Gefühl bei der Sache. Eine Wumme gehörte nicht zu seinem Geschäftsbereich. Damit wollte er auch gar nicht erst anfangen. Deswegen versuchte er, das Ding so schnell wie irgend möglich loszuwerden – und dabei möglichst viel Geld herauszuschlagen. Andere Beute hatte er von der Gartentour schließlich nicht, und in seinem Sparstrumpf war kein Pfennig mehr zu finden.

Manni schlenderte stadteinwärts auf die Plagwitzer Straße. Die Waffe war noch da. Ein Passant kam ihm entgegen und sah ihn aufmerksam an. Vielleicht sollte er sich nicht so oft an die Brust fassen. Er bog links in den Klingerhain. Das Parkstück war durch verschiedene Arme der Luppe von den Villen der KarlHeine-Straße und der Elisabethallee abgetrennt. Hier herrschte an einem Montagmittag völlige Ruhe. Manni bog in den Parkweg und dann gleich nach links in Richtung Elster. Er lief im Schutz der Bäume, nur für den Fall, dass Höker-Hannes seine Meute dabei hatte. Dann konnte Manni unentdeckt die Kurve kratzen.

 

Die Waffe steckte unverändert in der Innentasche seiner Jacke, und Manni hatte immer noch kein gutes Gefühl. Dabei lief alles nach Plan. In seinem Rücken bimmelte eine Glocke viermal. Dann folgten zwei tiefere Glockenschläge. Im selben Moment kam Höker-Hannes über die Brücke vom Palmengarten herübergeschlendert. Allein. Er trug einen langen schwarzen Mantel und einen Hut mit einer breiten Krempe, was ihm ein gespenstisches Aussehen gab. Mit einer Sense über der Schulter könnte er Gevatter Tod spielen.

Nein, Manni hatte bei der Sache kein gutes Gefühl. Er merkte, wie er langsamer ging. Höker-Hannes lehnte sich an einen Baum. Wegen seiner schwarzen Kleidung verschmolz er beinahe mit dem Stamm. Manni blieben noch ein paar Meter. Er griff an seine Brust. Die Waffe war noch da.

Höker-Hannes bemerkte ihn. Er löste sich vom Baumstamm und kam Manni entgegen. «Pünktlich. Sehr gut.» Höker-Hannes sprach mit heiserer Stimme, so als würde er seinen Hals mit Sandpapier auskratzen.

Manni nickte. Er stand vor Höker-Hannes. Aus der Nähe wirkte der Kerl in seinen schwarzen Sachen viel kleiner.

«Nu erzähl mal! Was hast du für mich?»

Manni zog die Pistole aus der Innentasche.

«Gottverdammich, das ist eine Knarre!» Höker-Hannes wich zurück.

Manni nickte.

«He, was denkst du, wer ich bin? Ein Jagdausstatter? Verdammt!»

«Ist ziemlich neu. Kriegst du bestimmt ’nen ordentlichen Batzen für.»

«’nen Batzen? Ich glaube eher an einen Riesenärger. Wo hast’n die her?»

«Gefunden.»

Höker-Hannes guckte blöd wie ein Ochse. Es fehlten nur noch Hörner unter der Hutkrempe. Mannis schlechtes Gefühl wich Ärger.

«Eigentlich will ich’s gar nicht wissen», sagte Höker-Hannes. Seine heisere Stimme klang nun, als müsse er gleich husten. «An deiner Stelle würde ich aufpassen.»

Wollte der ihm drohen? Manni ließ die Pistole um den Zeigefinger kreisen. Das hatte er geübt. «Was nun? Willst du mir Ratschläge erteilen, oder wollen wir Geschäfte machen?»

Höker-Hannes kam näher. Ohne die Waffe zu berühren, inspizierte er Lauf, Verschluss, Abzug und so weiter. «Die ist tatsächlich nicht alt. Hast du die ’nem Schutzmann geklaut?»

«Ich dachte, du wolltest das nicht wissen.»

«Hm.» Höker-Hannes zögerte. Er runzelte die Stirn. «Es ist nur … Die Vögelchen zwitschern, dass gestern einer hopsgegangen ist. Bei einem Bruch in ’nem Garten.»

Woher wusste der das schon wieder? Mannis schlechtes Gefühl kam zurück.

Höker-Hannes richtete sich auf. «Und in diesem Metier hast du ja auch Beziehungen, oder?»

«Ich weiß nicht, wovon du redest.»

«Ich meine, dass ich keine Mordwaffen aufkaufe.»

Manni überlegte. Der Tote sah nicht aus wie ein Erschossener. Und warum sollte jemand erst einen Mann erschießen, um ihm dann noch den Kopf zu zerfetzen? Außerdem war die Schatulle verstaubt gewesen. Da konnte doch keiner wenige Minuten vorher eine Wumme drin versteckt haben, oder?

«Wenn du das Ding bei mir loswerden willst, musst du draufzahlen. Dann würde ich dafür sorgen, dass die Bleispritze verschwindet. Für immer.»

«Ach nee. Lass gut sein!» Manni steckte die Pistole wieder ein.

Höker-Hannes zog den Hut ein Stück nach hinten. Seine Stirn wollte nicht enden – vier Falten, fünf Falten … «Dann werde glücklich mit deiner Mordknarre.»

Manni versuchte, die Gedanken hinter der hohen Stirn zu lesen. Würde der Kerl ihn verpfeifen? Manni klopfte auf die Brusttasche mit der Knarre und sagte laut: «Mit dieser Pistole ist niemand erschossen worden. Und das soll auch so bleiben.»

Die Falten in Höker-Hannes’ Stirn wurden noch tiefer. Da hatte Manni sich in etwas hineingeritten!

Die Frau trug schwarz – vom Hut bis zum Schuh. Heinz Eggebrecht hatte sie auf dem Weg vom Postamt das erste Mal auf dem Lindenauer Markt bemerkt. Vielleicht war sie aus einem der Krämerläden gekommen oder aus einer Haustür getreten. Das hatte er nicht beobachtet. Doch dann lief sie vor ihm die Rietschelstraße entlang und bog an der Nathanaelkirche nach links in die Roßmarktstraße. Nach dem Abzweig zur Burgauenstraße gab es kaum noch Passanten, und Eggebrecht konnte sie gar nicht übersehen. Ihr Gang erinnerte an den einer Königin im Märchen, beinahe schien es ihm, als berührte sie mit den Füßen gar nicht den Boden.

Sie schwebte die Leutzscher Straße entlang. Eggebrecht folgte ihr, auch als sie ein paar Meter weiter nach links in die Hebelstraße bog. Eigentlich hätte er hier geradeaus weitergehen müssen, um nach Hause in die Albertinerstraße zu kommen. Doch dies war sein freier Tag, und er wusste ohnehin nicht, was er in der Kammer bei seinem Vater sollte. Also schlenderte er der schwarzen Dame hinterher. Sie lief gut zwanzig Meter vor ihm. Seit dem Lindenauer Markt hatte sie sich nicht ein einziges Mal umgeschaut. Inmitten der Mietskasernen gab es nicht viel zu sehen. Eggebrecht musste nicht damit rechnen, entdeckt zu werden. Andererseits konnte er auch ihr Gesicht nicht sehen …

Er stellte sich volle Lippen vor und Augenbrauen wie mit der Feder gezogen, außerdem Wangenknochen, die sich unter der Haut abzeichneten, und eine zierliche Nase. Vielleicht hatte die Frau aber auch Gesichtszüge wie eine zerknautschte Tüte. Vielleicht bekam er einen Schreck, wenn sie sich umsah. Eggebrecht musste bei dem Gedanken lächeln. Den Schreck riskierte er.

Sie erreichte die Merseburger Straße. Eggebrecht ging langsamer, um sie nicht einzuholen. Sie stand an der Fahrbahn und wartete. Auf der Merseburger Straße fuhren Lastwagen mit Waren für das Umland, auch Personenwagen donnerten die Straße entlang. Eggebrecht blieb an einer Haustür stehen. Die schwarze Frau schaute auf die Straße. Was er von ihrem Profil sah, sprach nicht für die zerknitterte Tüte. Sie drehte sich allerdings nicht so weit herum, dass Eggebrecht ihre Gesichtszüge hätte erkennen können.

Zwischen zwei Lastwagen schlüpfte sie auf die andere Straßenseite. Eggebrecht folgte ihr, so schnell der Verkehr es zuließ. Als er die andere Straßenseite erreichte, sah er die schwarze Frau bereits nach rechts in die Cranachstraße biegen. Zwischen den Mietshäusern wirkte sie in ihrer eleganten schwarzen Kleidung wie ein Fremdkörper, so als hätte sich ein Reh in eine Wüstenei verlaufen.

Sie verschwand aus seinem Blickfeld. Er wusste, dass ihr nur ein paar Meter bis zur nächsten Straßenecke blieben, also sputete er sich. Dabei merkte er, wie ihm der Spaziergang guttat. Der Müßiggang gab ihm Ruhe. Er tat einfach ein paar Tage nichts. Er zog keine Aufträge an Land, führte keine Telephonate mit Redaktionen, sondern lief eine Weile durch die Stadt und schaute eleganten Damen hinterher …

Eggebrecht erreichte die Straßenecke – die Frau war verschwunden. Die Mietskasernen warfen lange Schatten. Sie schienen müde zu sein von den kurzen Tagen. Die Märzsonne kämpfte gegen das Leipziger Wintergrau, noch mit spärlichem Erfolg. Bäume oder gar Knospen gab es hier nicht. Wohnte die schwarze Dame hier? Das Reh in einer Oase im zweiten oder dritten Stock?

Was soll’s, dachte Eggebrecht. Für Frauen interessierte er sich zurzeit wie für Rennautomobile: Er sah ihnen gern nach, brauchte sie aber nicht. Die letzte Liaison mit einer dieser Künstlerinnen in Berlin war gerade erst zu Ende gegangen. Er konnte nicht einmal sagen, woran das lag oder wer von beiden die Trennung ausgesprochen hatte. In den letzten Jahren traf er immer auf die falschen Frauen. Davon brauchte er erst mal eine Auszeit.

Er schaute die Straße hinunter. An der Ecke zur Reuterstraße stand ein Lastwagen vor einer Baustelle. Zwei Arbeiter verschlossen die Laderampe, offenbar nahte der Feierabend. Bei dem Wagen handelte es sich augenscheinlich um ein älteres Modell, denn einer der beiden begann, mittels einer Kurbel den Motor in Gang zu setzen. Die Maschine brüllte kurz auf und tuckerte dann vor sich hin. Der Mann mit der Kurbel sprang ins Fahrerhaus, und der Wagen rollte los. Vor dem Eckhaus wurden Stapel von Pflastersteinen sichtbar. Eine Plane verdeckte vermutlich weitere Baustoffe.

Hinter den Baumaterialien stand ein Bär von einem Mann. Er trug eine dicke Arbeitsjacke und wandte Eggebrecht den Rücken zu. Eggebrecht kamen die Bewegungen des Kopfes unter der Prinz-Heinrich-Mütze bekannt vor. Er sah trotz des Gegenlichtes, dass der Mann sich unterhielt – mit wem, blieb ihm verborgen. Der Mann schritt zur Straßenecke. Diesen Gang, den kannte Eggebrecht genau. Aus dem Schatten trat eine Frau an die Seite des Mannes – die schwarze Frau. An der Ecke wandten die beiden sich stadteinwärts. Eggebrecht sah das Profil der Frau. Sie hatte sich bei dem Mann untergehakt. Sie sah älter aus, als er erwartet hatte. Aber sonst: Charakterwangen, Stupsnase, Lidstrich.

Auch auf das Gesicht des Mannes fiel ein Strahl der tiefstehenden Abendsonne. Eggebrecht zuckte zusammen, als er ihn erkannte: Die Frau lief Arm in Arm mit seinem Vater.

Konrad Katzmann schaltete das Radio ein, er brauchte Ablenkung. Das Orchester spielte die spanische Rhapsodie von Ravel. Wie jeden Wochentag sendete die Mitteldeutsche Rundfunkgesellschaft nach Wetterdienst, Presseschau und Börsennachrichten Musik von Schallplatten. Katzmann hatte die Ansage verpasst, so wusste er nicht, welches Orchester auf der Platte zu hören war, die gerade gespielt wurde. Es war ihm auch nicht wichtig. Die Papiere auf dem Tisch zeigten das Arbeitspensum für den Nachmittag an: ein Stapel Blätter, den er normalerweise in einer halben Stunde gesichtet hätte. Nur sausten seine Gedanken immer noch umher wie ein Schwarm Fliegen.

Katzmann sah die Papiere durch. Sie behandelten einen Überfall auf den Genossen Kutscher. Der SPD-Landtagsabgeordnete war bei einer Veranstaltung von einer rechten Schlägerbande angegriffen worden und musste im Krankenhaus behandelt werden. Leistner wollte ein Porträt des Genossen im Blatt haben, so schnell wie möglich. Und nun lagen die Dokumente auf dem Tisch in Katzmanns Souterrain-Bude: eine Abschrift von Kutschers Aussage bei der Polizei, eine Reihe von stichpunktartig hingekritzelten Augenzeugenberichten, ganz obenauf zwei kurze Artikel aus der LVZ.

Natürlich lehnte Katzmann jeden gewaltsamen Überfall ab, auf einen Sozialdemokraten erst recht. Nur befürchtete er, dass Leistner einen Propaganda-Artikel erwartete. Der Chefredakteur selbst war nicht zu sprechen gewesen und hatte den Kollegen Krause von der Politik mit den Unterlagen geschickt. Katzmann fragte sich, warum Krause den Text nicht gleich selbst verfasste – die von der Politik wussten sowieso immer alles besser.

Ob seine persönliche Beziehung zu Kutscher in der Redaktion bekannt war? Die längst vergangene Affäre mit der heutigen Liesbeth Kutscher? Das konnte er sich nicht vorstellen. Dennoch kam ihm die Sache komisch vor.

Er nahm den ersten Artikel zur Hand.

Gemeiner Überfall

Am Wochenende ist eine Veranstaltung der SPD im Nordpol in Wiederitzsch brutal überfallen worden. Eine Horde von einem Dutzend Stahlhelm-Schergen ging mit Knüppeln auf die friedliche Versammlung los. Den Arbeitern gelang es, die braune Bande zurückzuschlagen. Allerdings wurde der Gastredner Wolfram Kutscher, Landtagsabgeordneter der SPD, von den Verbrechern am Kopf verletzt. Er musste im Hospital behandelt werden. Dem Vernehmen nach geht es Kutscher den Umständen entsprechend gut.

Katzmann schaute auf den Zeitungsausriss. Nachdem er das Datum vom Montag der vergangenen Woche registriert hatte, legte er das Blatt beiseite. Der nächste Ausriss war auf den vergangenen Freitag datiert.

Abgeordneter Kutscher aus Hospital entlassen

Der bei einem hinterhältigen Überfall verletzte SPD-Politiker Wolfram Kutscher nimmt seine politische Arbeit wieder auf. Seine Kopfverletzung sei zufriedenstellend verheilt, sagte Kutscher unserer Zeitung. Von rechten Verbrechern werde er sich nicht einschüchtern lassen. Wann Kutscher wieder an Landtagssitzungen teilnehmen kann, ließ er vorerst offen. Kutscher war bei einem Überfall von Stahlhelm-Schergen auf eine Parteiveranstaltung in Wiederitzsch mit einem Knüppel niedergeschlagen worden.

Das war’s. Mehr LVZ-Artikel fand er nicht in den Papieren. Nur diese knappen Worte – und nun sollte Katzmann das Pamphlet dazu schreiben … Warum kamen sie damit zu ihm?

 

Im Radio fiedelte das Orchester, und Katzmanns Gedanken schwärmten wieder aus – geradewegs zu Liesbeth Kutscher. In seinen ersten Leipziger Wochen war er ihr sehr nahe gekommen. Seinerzeit hieß sie mit Nachnamen noch Weymann. Zehn Jahre lag das zurück … Ob er Liesbeth treffen würde, wenn er mit Kutscher sprach? Und würde sie ihn wiedererkennen?

Katzmann dachte an sein Spiegelbild und an alte Photographien von ihm. Da gab es erhebliche Unterschiede. Nein, er hatte keinen Bauch bekommen wie viele seiner Kollegen, und abgesehen von den Geheimratsecken gab es auf seinem Kopf auch noch etwas zu kämmen. Nur sah er jetzt eben aus wie ein Mann und nicht mehr wie ein Junge im Anzug. Hatte Liesbeth sich stärker verändert als er?

Das bekam er nur heraus, wenn er sie traf. Er nahm die Blätter und suchte nach einer Adresse … Die Kutschers wohnten in der Bismarckstraße 21. Vornehme Gegend für einen Sozi, dachte Katzmann. Oder gab es da zwischen den Villen auch bescheidenere Bauten?

Katzmann überlegte. Wenn er zu Eggebrecht nach Lindenau fuhr, konnte er den Weg über die Bismarckstraße nehmen. Er schaute auf seine Taschenuhr: zehn nach sechs. Noch ein bisschen zu früh, um in den Leipziger Westen zu fahren. Andererseits, wenn er gleich startete, konnte er sich in Ruhe ein Bild von Kutschers Wohnumfeld machen.

Als Katzmann das Radio ausschaltete, klang es, als habe jemand mit einer riesigen Fliegenklatsche auf die Musiker gehauen: Ein Klack, und es herrschte Ruhe in der Kiste.

Katzmann nahm den Motorradmantel und den Helm vom Haken. Er faltete das Blatt mit der Adresse, steckte es ein und verließ die Wohnung.

Das Motorrad musste bald wieder zur Reparatur. Katzmann hörte im Tuckern des Motors schon wieder ein Geräusch, das nicht dahin gehörte. In letzter Zeit passierte das immer häufiger. Die NSU kam in die Jahre. Sein Verhältnis zu der Maschine entwickelte sich wie eine Affäre kurz vor ihrem Ende: Wann immer es ging, zickte sie herum, und ihn störte jede Kleinigkeit … Auf der anderen Seite hatte er sich an die NSU gewöhnt. Vielleicht flammte die Liebe nach einer Generalüberholung wieder auf.

Katzmann steuerte das Motorrad an den Straßenrand. Das Gespann rollte in Schrittgeschwindigkeit. Er schaute über den gusseisernen Zaun zum nächsten Hauseingang: Nummer 19. Liesbeth wohnte offenkundig nur ein paar Meter weiter.

Er tuckerte im Schatten der Prunkbauten stadtauswärts. Die Fassaden sahen aus, als hätten die Stuckateure hier einen Wettbewerb ausgetragen. Verzierungen in Form von Engelsfiguren, Blumengestecken, Laubblatt-Ensembles – ein Garten Eden des Überflusses pappte an den Hauswänden. Katzmann war schon länger nicht mehr in dieser Gegend gewesen, hierher verschlug es einen Reporter einer SPD-Zeitung nicht oft. Wieso wohnte ein sozialdemokratischer Abgeordneter in so einem Bonzenpalast?

Katzmann passierte die Moschelesstraße und rollte weiter. Nach der Eckvilla schaute er in einen Garten, der im Sommer wohl die natürliche Antwort auf die Stuckgebilde an den benachbarten Fassaden darstellte. Im Dämmerlicht des endenden Winters wirkte das Grundstück trist wie ein Acker nach der Ernte. Gegen Jahreszeiten half auch Reichtum nicht – dieser Gedanke tröstete Katzmann immer, wenn er seine Eltern besuchte, und auch jetzt.

Er stoppte die Maschine, setzte Brille und Helm ab und verstaute sie im Seitenwagen. Inmitten des Gartens stand eine Villa. Am Eingang entdeckte er die Hausnummer 21. Hier wohnte Liesbeth. Hier hätte auch die Belegschaft einer mittelgroßen Druckerei mitsamt Familien ein Zuhause gefunden. Aus zwei Fenstern neben dem Eingang schien elektrisches Licht auf die Bismarckstraße. Die beiden oberen Stockwerke machten den Eindruck, derzeit nicht in Benutzung zu sein. Der Eingang der Villa sah aus, als hätte der Architekt einen Turm an das Haus gebaut. Über der Tür fand im Erker des ersten Stocks ein Wintergarten Platz – mit Fenstern so groß wie Kleiderschränke. Darüber ragte eine verzierte Turmspitze in den Himmel. Katzmann malte sich aus, wie Liesbeth da oben am Abend einen Liebesroman las, während das Hausmädchen unten das Esszimmer in Ordnung brachte. Das passte zu der Villa, es ging nur überhaupt nicht mit seinem Bild von Liesbeth Weymann zusammen. Hatte sie ihre Jugend im Arbeiterbezirk im Leipziger Westen unter einem Villengrundstück begraben? Und was sagte ihr Vater dazu, der alte Kämpfer für das Gerechte in der Welt?

Im Eckzimmer des Erdgeschosses wurde das Licht eingeschaltet, und Katzmann konnte das Familienglück beobachten. Drei Lockenköpfchen hüpften durch den Raum, die Mädchen mochten zwischen drei und acht Jahren alt sein. Dann schritt eine Frau mit aschblondem Haar und einem Tablett in den Händen am Fenster vorbei. Katzmann erkannte sie sofort, dabei hatte sie sich durchaus verändert. Ein bisschen sah sie aus, als sei sie die reiche Tante der jungen Liesbeth von damals. Mit ihrem Jäckchen über dem Kleid passte sie in das stuckverzierte Esszimmer der Bismarckstraßenvilla. Sie war der Typ Frau geworden, der mit großer Geste Flügeltüren öffnete. Hatte sie sich der Villa angepasst? Oder war sie hierher gezogen, weil die Frau mit der großen Geste schon immer in ihr gesteckt hatte?

Liesbeth stellte das Tablett auf einen Tisch, der aussah, als fänden in diesem Raum regelmäßig Tafelrunden von Rittern in Rüstung statt. Ein Mann betrat das Zimmer. Er ging auf einen Gehstock gestützt und trug einen Mullverband um den Kopf. Das musste Kutscher sein. Er setzte sich an die Stirnseite der Tafel.

Katzmann wollte die bürgerliche Idylle nicht mehr sehen. Ja, auch er bewohnte mit Frieda ein Haus in der Dresdner Antonstadt, ja, auch er musste nicht darben. Und er gönnte jedem Menschen auf der Welt Wohlstand. Aber ihn störte die Äußerlichkeit des Prunks, das großbourgeoise Gehabe …

Er schnappte die Brille samt Helm, stieg auf die NSU und startete durch. Ohne sich umzuschauen, lenkte er das Gespann auf die Straße.

Eine Hupe brüllte. Katzmann drehte den Kopf nach hinten. Ein Lieferwagen wurde rasch größer. Bremsen quietschten. Katzmann gab bis zum Anschlag Gas. Der Lieferwagen hinter ihm wurde wieder kleiner und hupte unverdrossen – die Karre ließ ihn an Rumpelstilzchen nach der Verwandlung in ein Automobil denken.

Die NSU mit ihrem Seitenwagen wankte, als Katzmann um die Kurve zur Plagwitzer Straße fuhr. Die Geschwindigkeit kitzelte im Bauch. Ein Blick nach rechts, einer nach links, in beiden Richtungen nahten Autos aus Dutzenden Meter Entfernung. Katzmann bretterte, ohne abzubremsen, auf die Plagwitzer Brücke. Ein Hupkonzert – dabei reichte ein Zug am Gasgriff, und Katzmann entfernte sich von der Kreuzung, ohne einem der Automobile nahe zu kommen.

Er fuhr mit Wut im Bauch, aber wusste nicht recht, woher der Zorn kam und wogegen er sich richtete. Warum brachte es ihn auf, dass eine längst Verflossene in einer Bonzenvilla mit der Familie ihr Abendmahl einnahm? Oder lag es nicht an Liesbeth und an der Vergangenheit? Fürchtete er, seine eigene Zukunft gesehen zu haben – als Salonlinker mit Frau und Kindern in immer größeren Wohnungen? Sein Vater sagte immer, wer Verantwortung trage, werde konservativ. Hatte der alte Reaktionär doch recht, wenn er so tat, als sei das ein Naturgesetz?

Katzmann bog in die Elisabethallee ein und gab Vollgas, als er aus der Kurve fuhr. Der Fahrtwind blies die Gedanken weg. Vor ihm lag Lindenau. Dort wartete Heinz mit einem Mordfall – eine bessere Ablenkung konnte Katzmann sich nicht vorstellen.

«Die müssen den Kerl regelrecht abgeschlachtet haben.» Heinz Eggebrecht versuchte, seinem Freund mit den Händen anzudeuten, wie sein Gesicht aufgeschlitzt würde.

Katzmann sagte nichts. Er trank einen Schluck von seinem Bier und guckte skeptisch.

«Mein Gartennachbar hat ihn gefunden. Der Kopf war zerdroschen, das Gesicht total zermanscht. Wahrscheinlich wurde er mit einer Mistgabel malträtiert.»

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