Vom letzten Tag ein Stück

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4.

In unserem Dorf, aus dem Bertram verschwand, als hätte es ihn nie gegeben, lebten etwa 500 Leute. Arbeiter, Bauern, Handwerker und Hausfrauen. Wir waren fast alle katholisch, gehörten also zur Gesamtheit des Christentums römisch-katholischer Prägung, was daran zu merken war, dass wir sonn- und feiertags in die Kirche gingen, mindestens zweimal jährlich beichteten, uns regelmäßig die Kommunion abholten, am Karfreitag und Aschermittwoch kein Fleisch aßen, jede Woche eine Mark in den Klingelbeutel warfen und unser Vieh, die Häuser und Autos segnen ließen.

Die Frauen blieben zu Hause, kümmerten sich um Haus und Hof, um Alte und Kinder. Die Männer gingen schaffen. So nannten sie das. Schaffen gehen. Man sah es ihren Händen an. Wer nicht schwitzte, abends nicht mit leerem Magen und krummem Rücken nach Hause kam, hatte nicht geschafft.

Sie halfen sich gegenseitig beim Häuserbauen und Autoreparieren, arbeiteten viel, waren geschickte Handwerker, die alles konnten, versumpften aber regelmäßig in unseren Kneipen, und die Frauen zuhause sagten: Oh, diese Kerle! Unsere drei Gasthäuser waren gut besucht: Ettens, Arnoldy und das Sonneck. Bitte ein Bit. »Mach mal drei Schnaps, Martha! Und schreib‘s an!«

Wir lebten wie in einem Kokon, der uns schützte, aber damals schon ein Loch hatte, durch das hin und wieder jemand verschwand. So wie Bertram. Bloß dass Bertram nicht deshalb verschwand, weil ihm die Welt in unserem Dorf zu eng geworden war oder weil er woanders eine Arbeit gefunden oder eine Frau kennengelernt hatte.

5.

Die Ratschläge, mit denen wir ins Leben geschickt wurden, hallen noch nach: Passt auf! Geht gerade! Sitzt gerade! Seid pünktlich! Strengt euch an!

Wir hatten freundlich zu sein und alle zu grüßen, die durchs Dorf gingen.

Wir lernten: Zuerst die Arbeit, dann das Vergnügen.

Wir verstanden, dass, wer hoch hinaus will, tief fallen kann.

Wir hörten, dass wir nichts geschenkt bekämen.

Dass nur der frühe Vogel den Wurm fange.

Dass man den Tag nicht vor dem Abend loben soll.

Dass Ordnung das halbe Leben ist.

Dass es ohne Fleiß keinen Preis gibt.

Vor allem sollten wir aus einer Mücke keinen Elefanten machen und nicht aus der Reihe tanzen, was allerdings schnell passieren konnte. Wir sollten den Stier bei den Hörnern packen, aber nicht mit dem Kopf gegen die Wand rennen und die Kirche im Dorf lassen.

Vieles, was wir taten, taten wir aufgrund von Bräuchen und Sitten und weil wir es einfach immer so gemacht hatten. Taufen wurden zügig erledigt, weil Heidenkinder sonst keine Chance auf das Paradies hatten. Hochzeitspaaren wurde geschliffen1, was teuer werden konnte. Starb jemand, so läutete Toni die Glocken. An drei Abenden hintereinander beteten wir in der Kirche den Rosenkranz. Und das ewige Licht leuchte ihnen. Zur Beerdigung gingen alle den Sarg segnen. Die Frauen aus der Nachbarschaft durften danach mit zum Kaffee.

An Fastnacht zogen wir in einem Pulk von Cowboys und Indianern von Tür zu Tür und sammelten Bonbons, Eier, manchmal ein paar Groschen. Wir wussten, bei wem was zu holen war. Sogar Bertram machte mit, wenn er sich auch nicht verkleidete. »Ich bin ein armer König, gib mir nicht zu wenig, lass mich nicht zu lange stehn, denn ich muss bald weitergehn …« Am Aschermittwoch holten wir uns das Aschenkreuz ab. Uns war klar, dass wir irgendwann wieder zu Staub werden würden, denn dort waren wir hergekommen.

Wenn am Gründonnerstag die Glocken nach Rom flogen, kamen die Jungs mit ihren Holzklappern, den Rätschen und Raspeln. Morgens, mittags und abends. »Et löckt Bätklock!« Dann scharfe, schneidende und knallende Geräusche. Für Mädchen verboten, sagten sie, wenn wir mitmachen wollten. Auch Bertram war damals wenig tolerant.

Am Ostermorgen war unsere Kirche voller Gesang, der sicher in den Mauern geblieben ist.

»Halleluja, Jesus lebt, Jesus lebt, Jesus lebt, hallelu-u-ja–a Jesus lebt!« Draußen auf dem Parkplatz vor der Kirche dann Nummernschilder aus Düsseldorf, Köln, Trier. Nachmittags Türme von Cremekuchen. Auf der Wiese warfen wir hartgekochte Eier in die Luft.

An Pfingsten, wenn die Gegend gelb war vom Ginster, baute der Schützenverein auf dem Platz vor der Schule ein Zelt auf. Flatterfähnchen in grün-weiß, vor dem Zelt eine Schiffschaukel und ein billiger Jakob mit allerhand Tinnef. Drinnen eine Drei-Mann-Band und Onkel Nikla, der sein Glas gegen die Musikanten erhob und schrie: »Frau Wirtin, eine Lage für die Mussik!« Sie spielten Kasatschok für uns Kinder und Foxtrott für die Erwachsenen, die schunkelten und lachten und grölten und später, am Stand der Bitburger Brauerei, schwankend von Bier und Schnapsseligkeit, versuchten, uns Kinder nach Hause zu schicken.

Immer wenn die Schützen ihre grünen Anzüge mit Orden und Ehrenabzeichen anzogen, die Hüte mit den Schützenfedern aufsetzten und Fahnen und Gewehre schulterten, schien die Sonne. Für Glaube, Sitte und Heimat.

An St. Martin verbrannten wir nach dem Fackelumzug unterhalb des Berges, an einer Fichtenschonung, alte Reifen und Holz. Das Feuer war weithin zu sehen, erhellte unsere Gesichter und strahlte bis hinauf in den Himmel.

Zu Weihnachten baute Berni, unser Küster, zu Füßen der Madonna eine Krippenlandschaft auf mit einem Ziehbrunnen, Palmen und Schafen und einem Mohr, der den Kopf nickend bewegte, wenn man ihm Geld in den Schlitz vor seinen Knien einwarf.

Schön war das und vieles andere auch, was mir jetzt nicht mehr einfällt, aber auch zu uns gehört hat.

Aber nein, in einer Idylle lebte niemand.

6.

Untereinander sprachen wir Moselfränkisch, einen Dialekt, der etwas Treuherziges und Gemütliches hat und den ein Fremder nicht lernen kann. Wir zählten uns zu den Rheinländern, denen man Fröhlichkeit nachsagt. Aber fröhlich waren wir eigentlich nur an Karneval und vielleicht zu den Dorf­festen. Richtige rheinische Frohnaturen waren kaum darunter. Dass das an der kargen Gegend läge, meinte Bertram. Ich solle mir mal die Weingegenden ansehen, dort ginge es anders zu.

Mit Wein, Weib und Gesang war es bei uns wirklich nicht allzu weit her. Dafür aber mit den Christenpflichten. Anders als Bertram ging ich als Kind gerne in die Kirche. Ich mochte die Heiligenbildchen, die in meinem Gebetbuch lagen. Auch die Bilder der Kreuzwegstationen gefielen mir, wenn sie auch mit einem Schauer verbunden waren. Dennoch konnte ich den Blick nicht abwenden: Wie brutal die Soldaten Jesus durch die Straßen Jerusalems trieben, wie schmerzgekrümmt er unter dem Kreuz lag. Wie gut es war, dass Simon ihm beim Tragen half und Veronika ihm ein Schweißtuch reichte. Die Nägel, das Kreuz, durchbohrte Hände und Füße – die Kirchenwände erzählten Grausames. Von den Kreuzwegbildern konnte ich immer nur einen Ausschnitt sehen. Wenn ich mich zu weit aus der Bank beugte, drehte mir meine Mutter den Kopf zurecht. »Guck nach vorne!«, flüsterte sie.

Zu Hause, über meinem Bett, hing ein Bild von Jesus mit Heiligenschein, der mit beiden Händen ein blutendes Herz mit Strahlenkranz hochhielt, aus dem ein Kreuz aufragte. Das Bild beschäftigte mich. Es schien zu pulsieren. Was machte Jesus da? Woher hatte er das Herz? Ich hatte oft beim Schlachten zugesehen und dachte, dass er es vielleicht daher hätte, obwohl die geschlachteten Herzen anders und längst nicht so schön aussahen.

Ich mochte auch die einfachen Gebete, betete ernsthaft und ehrlich, auch, wenn ich nicht alles verstand und vieles nur auswendig gelernt war. Viele Worte blieben mir ein Rätsel. Gebenedeit zum Beispiel. Ich verstand nicht, weshalb wir ständig um Erbarmen baten und wie das Lamm Gottes es schaffen sollte, uns die Sünden hinwegzunehmen. Trotzdem schien mir alles gut und lebendig, wohl, weil ich etwas zu verstehen glaubte, das über die Bedeutung der Rituale hinausging. Gleichzeitig fühlte ich mich fremd und gar nicht darin aufgehoben. Ich empfand, dass ich mit Christus leiden müsste, ob er mir nah war oder nicht. Ich verstand, dass er für uns Sünder gestorben war, also für unsere Sünden, und dass wir für die Sünden anderer leiden müssten als wären es unsere eigenen, dass wir aber im Leiden eine heilende und reinigende Kraft finden würden.

Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel kommʼ.

Die Kirche war voll damals. Nur Bertram fehlte gelegentlich, was man seinem evangelischen Vater ankreidete. »Dafür kann der Jung nix.« Dass er, wenn er kam, seine Werktagshose trug und die Haare nicht richtig gekämmt hatte, wertete man hingegen als Versäumnis der Mutter, der man nachsagte, nicht besonders ordentlich zu sein.

Für uns hingegen gab es keine Ausnahmen. Kein Widerwort. Sonntagspflicht. Wer nicht in die Kirche geht, kommt nicht in den Himmel.

Die Frisuren saßen akkurat. Auch die Kleider. Keine Knitter, keine Löcher, keine Laufmaschen. Keine Bartstoppeln. Niemand wäre in Jogginghosen gekommen.

Vorne im Altarraum eine riesige Christusfigur aus Holz, mit unnatürlichen Proportionen und trotzdem gut geraten, furchterregend groß, besonders Hände und Füße, aber das hat wohl so sein sollen. Über dem Haupt mit Dornenkrone ein Täfelchen: INRI. Jesus Nazarenus Rex Judaeorum. Riesige Nägel hatte man der Figur durch Hände und Füße gebohrt und ein viereckiges Loch in die Rippen gestoßen. Überdies war die Figur sehr mager, aber jeder wusste ja, was Jesus an seinen letzten Tagen durchgemacht hatte.

Zu Jesu Füßen der Tabernakel, das Taufbecken, der Altar, der Blumenschmuck.

Ganz vorne in den ersten Reihen die Kinder. Mädchen links. Jungen rechts. Frauenseite. Männerseite. Sogar die Heiligen, die von den Fenstern leuchteten, hatten sich dieser Ordnung unterworfen. Auf der Männerseite Aloysius, Sebastian, Antonius von Padua und der gute Hirte. Auf der Frauenseite Margaretha, Agnes, Elisabeth und Anna. Elisabeth gefiel mir am besten. Wohl wegen der Rosen, die sie in der Schürze trug, und die, je nach Licht, rote Muster auf die hellen Bodenplatten warfen.

 

Vom Ducksaal2 aus, wo der Chor saß und ein paar Alte, die glaubten, ein Anrecht auf einen Platz zu haben, trafen Leuchtziffern die linke Wand über einer Madonna mit Jesuskind: 257, 1. Strophe. Finger anfeuchten, blättern im Gebetbuch, Orgelmusik, Gesang: Großer Gott, wir loben dich; Herr, wir preisen deine Stärke. An der Orgel saß Lorse Maria. Alle nannten sie so, also mit dem Nachnamen zuerst. Sie dirigierte nebenbei den Kirchenchor. Schwungvoll griff sie in die Tasten, ließ gelegentlich, je nach Stück, mit den Bässen ihres Instruments den Bau fast explodieren.

Aufstehen. Knien. Sitzen. Lasset uns beten. Weihrauchgeruch.

Stehend bekannten wir unseren Glauben, indem wir uns an die Brust klopften, als wollten wir ihn damit fixieren. Die Fürbitten des Küsters, klar und kräftig vorgetragen, die Kehrreime der Psalmen, das Gemurmel der Gebete empfand ich wie Rauschen in einem Bienenstock. Ob alle sooo gläubig waren, wie sie taten, weiß ich nicht.

Wir Kinder waren gehalten, uns zu schicken. Kein Mucks. Was nicht einfach war, wenn Tante Anni hinter uns saß, die sich ständig im Text verhaspelte und beim Singen eine ungewöhnliche Oberstimme erfand, was in den Ohren schmerzte und dazu führte, dass sie aus dem Takt geriet und ihr die Puste ausging. Dann rückten wir zusammen, die Hand vor dem Mund, unterdrückten das Kichern, wurden rot im Gesicht und platzten manchmal heraus.

Später drängte sich alles an der Kirchentür. Himmes’, Krämers, Klasens, Schellens, Cornesses, Dahms, Willars’, von Landenbergs, Durrys und Arnoldys wünschten sich einen schönen Sonntag, redeten ein bisschen, alles gesund und munter, lieben Gruß zu Hause, was machen die Kleinen? Dann tauchten sie die Finger ins Weihwasser, das ein bisschen abgestanden roch, aber immer nach Segen, als sei es von der Sonne gewärmt worden.

Noch ein bisschen später sah man sie an den Gräbern stehen. Die meisten Gräber lagen um eine alte Linde, in deren Schatten am Sonntag, lange bevor die Messe endete, die Männer standen und redeten.

Damals schon bewunderte ich Bertrams Anderssein, beobachtete, was er tat, war aber gleichzeitig von ihm abgestoßen. Es hatte etwas Herausforderndes, wie er in seinen ausgebeulten Werktagshosen lässig in der Bank saß, nicht mitsang, das Brustklopfen verweigerte und den Messdienern, wenn sie in ihren rotweißen Gewändern mit Opferstöcken durch die Reihen gingen, einen mitleidigen Blick hinterherschickte und einmal sogar schadenfroh auflachte, als einer der Ministranten über eine Treppenstufe stolperte. Nein, die Gläubigen waren keine Gesellschaft für ihn.

»Der wird bald gar nicht mehr kommen«, meinten die Leute und in diesen Worten schwang genausoviel Vorwurfsvolles mit wie Besorgtes. Dass er sich nicht fügen könne, keine Regeln und keinen Anstand hätte, hörte ich sagen und sah in missbilligende Gesichter. Bertram wusste, was die Leute dachten und sagten. Es machte ihm nichts aus. Seine Überlegenheit imponierte mir. Ich hielt ihn für klug.

Sonntags nach der Messe sah ich ihn manchmal in der Pfarrbücherei. Ich verfolgte seine Bücherauswahl, merkte mir die Titel. Sobald er sie zurückbrachte, lieh ich sie aus und las, was er gelesen hatte. ›Robinson soll nicht sterben‹ war dabei, oder ›Kein Winter für Wölfe‹.

In jenen Jahren sprachen wir noch nicht über Bücher. Ohnehin redeten wir kaum. Wir trafen uns auch nie alleine, sondern immer mit anderen. Er hing eher mit den Jungs zusammen und ich mit den Mädchen. Ich erinnere mich an Nachmittage, an denen wir in seinem Schuppen spielten und in einem rostigen Opel, der dort abgestellt war.

Sonntags ging Bertram mit seinem Vater wandern. Sie hatten eine richtige Wanderausrüstung mit Rucksack, festen Schuhen, Regenjacken und einer Vesper und kamen oft erst nachts wieder zurück.

Bei uns waren die Sonntage eher Familientage. Die Vormittage verbrachte ich mit Lesen. Bis zum Mittagessen dauerte es. Mein Vater verspätete sich meist wegen des Frühschoppens und war beim Essen wenig gesprächig. Meine Mutter musste schon nachhelfen, wenn sie wissen wollte, was es an Neuigkeiten gab, wer im Dorf mit wem was angefangen hatte, wer miteinander im Streit lag. Zwischen den Gesprächen die Koteletts. Dazu dampfende Kartoffeln, Salat aus dem Garten mit Schnittlauch, Petersilie und Dill. Und Vanillepudding in geschliffenen Glasschälchen.

Wenn mein Vater keinen Mittagsschlaf machte, was vom Ausmaß des Frühschoppens abhing, fuhren wir zu den Großeltern. Oder raus in den Tierpark nach Lünebach, wo Nasenbären, Strauße, Pfauenziegen und Uhus lebten. Die Pelmer Kasselburg gefiel uns mit den Greifvögeln und dem Wolfsgehege. Auch Manderscheid mit den beiden Burgen, wo wir in einem Ausflugslokal Cola tranken und goldene Fische in engen Teichen füttern durften. Wenn Namenstage auf Sonntage fielen, besuchten wir Verwandte oder wurden von Verwandten besucht. Josefstag, Gertrudstag, Annentag. Natürlich Sankt Matthias. Das war am 24. Februar und der Namenstag meines Vaters. Immer gab es Cremekuchen, Fladden3, Marmorkuchen. Am wichtigsten war der 19. November. Der Namenstag der heiligen Elisabeth von Thüringen. Dann saß meine Großmutter, die Elisabeth hieß, ab zehn Uhr morgens im Sonntagskleid und mit einer Goldkette um den Hals vor dem Telefon und nahm Glückwünsche entgegen.

Bertram kannte keine Namenstage. Sein Kalender ging anders als unserer. Auch das lag an seinem Vater, der regelmäßig für Feste der Tugend, des Geistes und der Revolution sorgte, die immer zu ganz bestimmten Tageszeiten stattfanden und von Musik und französischen Liedertexten begleitet wurden. Die Monate waren anders eingeteilt und hießen Nebelmonat, Schneemonat, Windmonat, Keimmonat oder Hitzemonat. Er nannte sie mit ihren französischen Namen: Brumaire, Nivôse, Ventôse, Germinal oder Thermidor.

7.

Als wir Kinder waren, lebten fast alle in unserem Dorf von dem, was sie aus ihren Gärten und von den Feldern nach Hause trugen. Vor den Mahlzeiten bedankten wir uns für das Essen, sprachen ein Gebet, weil kein Bissen für uns selbstverständlich war und Mühe und Arbeit, aber auch Glück bedeuteten. Wir hatten alles, was wir brauchten, aus eigener Produktion, weshalb Einkäufe im Supermarkt selten und wenn, dann auf das Nötigste beschränkt waren.

Bertrams Vater war einer der letzten in unserem Dorf, der daran festhielt und den Weg in die Stadt mied. Er misstraute den vielen Lockangeboten, den Waren, die von Gott weiß woher kamen, der immer größer werdenden Auswahl in den Regalen und mutmaßte, dass die Verbindung der Menschen mit der Natur abreißen werde und die Kinder in der Schule lernen müssten, wo die Milch herkommt. »Die billigen Supermarktangebote lenken uns von allem Wichtigen ab und lassen uns glauben, dass sie unser Leben besser und glücklicher machen. Sie geben uns das Gefühl, dass wir Land und Felder nicht mehr brauchen. Die Jungen wissen bald nicht mehr, ob sie eine Kuh oder einen Esel vor sich haben.« Ich habe seine Stimme noch im Ohr. Er fluchte auf das Wirtschaftssystem, auf den Kapitalismus und das überzogene Konsumverhalten. Er war der erste, den ich über vergeudete Energien sprechen hörte, über Hitzeperioden und Katastrophen, die auf die Menschen zukämen, wenn wir diesen Lebenswandel beibehalten würden. Er sammelte den Dreck am Berg auf, den die Leute hinterlassen hatten: Plastiktüten, Bierdosen, Zigarettenstummel, Klopapier, Radkappen. Sogar Autoreifen bugsierte er bergabwärts.

Nicht alles, was er sagte, verstand ich. Es war so ein Gefühl für etwas Fernes, Zukünftiges, das er mir vermittelte. Im Dorf genügte das, was er sagte, um ihn zu verurteilen. Narrisch sei er geworden. Gleiches dachten sie über Bertram.

Bertrams Vater kam aus dem Norden und fühlte sich zeitlebens wie ein Ausländer. Er sprach eigentümlich, betonte die Endungen anders als wir und auch nach Jahren in unserem Dorf blieb seine Satzmelodie eine andere. Er sah auch anders aus, hatte flachsblondes Haar und graue, tiefliegende Augen, die er Bertram vererbt hat. In wadenlangen Hosen kam er daher, darüber trug er ein blaugefärbtes Hemd mit steifem Kragen. Sein grauer Filzhut mit der blauen Kordel war auf merkwürdige Weise längs der Krone nach unten geknickt und vorne an beiden Seiten eingekniffen. Ich weiß nicht, wie er es aushielt, aber selbst an heißesten Sommertagen setzte er ihn nicht ab.

Das Leben auf dem Land hatte er sich idyllisch vorgestellt. Ein Einklang mit der Natur. Ruhe hatte er sich erhofft und Beschaulichkeit in einem eigenen Garten mit eigenem Gemüse. Er mochte die alten Holzkassetten in der Bauernstube, das Holzlager im Schweinestall mit den Pflöcken, die Weizenfelder, das unberechenbare Wetter, war er doch in der Stadt mit Wetter nicht wirklich konfrontiert gewesen. Er mochte es, wenn er im beginnenden Herbst alleine draußen war. Dann hatte er das Land für sich und konnte die Kraniche beobachten, wie sie sich formierten und für die Reise nach Süden rüsteten oder die Schwalben, wenn sie abends in den Wind schossen.

Unabhängig wollte er sein, fuhr mit seinem Getreide zur Mühle, backte sein Brot selbst, räucherte Speck und Schinken, bewirtschaftete seinen Garten und die Felder, hielt neben allerhand Vieh schwarze Hühner und einen bunten Hahn, und war stolz, nicht viel hinzukaufen zu müssen.

Sein wertvollster Besitz war ein Grammophon. Es war ein schwarz lackierter Holzkasten mit einem Lautsprecherhorn und der Abbildung eines Hundes, dem die Schriftzeile »His masters voice« galt. An der Seite befand sich eine abnehmbare Kurbel zum Aufziehen der Feder des Antriebswerkes. Zum Grammophon gehörte eine Schallplattenkassette und eine Nadel, die einer speziellen Dose entnommen am Ende des Abtastarms eingesteckt und fest verschraubt wurde. Das Grammophon hatte er mit in die Ehe gebracht und es gehörte zu seinem Sonntagvormittag, wenn er sich in Opern und Operetten verlor, in Konzerten von Haydn und Strauss. Seine Grammophonstunde zelebrierte er ebenso wie die regelmäßige Lektüre der ›Meisterwerke der Dichtkunst‹, von denen er fünf Bände besaß. Gelegentlich holte er auch sein Schifferklavier aus einem eckigen, schwarzen Kasten, spielte Volkslieder, denen man den Norden und das Meer anhörte, ging damit durch die Stube, während seine Finger über die Tasten flogen. Fest hielt er das Instrument über der Brust gespannt, zog es auseinander, dass es mit seinem papierenen Balg Luft zog und sang: »Nimm uns mit, Kapitän, auf die Reise, nimm uns mit in die weite, weite Welt! Wohin geht, Kapitän, deine Reise? Bis zum Südpol, da langt unser Geld! …«4

Man kann sagen, dass Bertrams Vater ein musischer Mensch war. Sein Unwohlsein begann, als die Technik alles überrannte. Er sah keinen Fortschritt in modernen Maschinen und Ställen, verteufelte Pflanzenschutzmittel und Kunstdünger und verzichtete auf höhere Erträge, die ihm diese Neuerungen versprachen. Er war sicher, dass man mit Grund und Boden nicht machen konnte, was man wollte. Es gäbe eine Verpflichtung der Menschen gegenüber ihrem Land und den Tieren. Dass uns das alles noch teuer zu stehen komme. Mit Argusaugen beobachtete er, wie mehr und immer größere Maschinen immer schneller Aussaat und Ernten übernahmen und viele der kleinen Bauern die Höfe aufgaben. Die moderne Tierhaltung war für ihn ein Verbrechen an der Kreatur. Er hasste die engen Legebatterien, in denen die Hühner sich nicht bewegen konnten. Er hasste Bauernhöfe, die zu Industriebetrieben geworden waren. Er hasste die Weizenfelder, von denen er meinte, dass jedem, der sie genauer betrachte, auffallen müsse, dass irgendwas nicht stimmte.

Bertrams Mutter hatte immer schon im Haus gewohnt, träumte allerdings von Amerika, von einer Farm irgendwo in den Südstaaten inmitten leuchtender Felder, im Herbst weiß von Baumwolle.

Sie war eine stille Frau, nickte zu allem, was ihr Mann sagte. Ich habe sie blass und unscheinbar in Erinnerung. Ihr reichten ein labberiger Pulli, Latzhose und Gummistiefel. Aber sie war eine gute Bäckerin. Dann und wann backte sie herzförmige Waffeln, die sie mit Puderzucker überstreute und Bertram stapelweise in die Schule mitgab, so, dass es für die halbe Klasse reichte.

Eigentlich hätte Bertram noch zwei Brüder haben sollen, Zwillinge. Beide waren noch im Säuglingsalter an einer seltenen Krankheit gestorben. Zeitlebens sehnte sich Bertram nach seinen Brüdern. Ein Lied hatte er für sie geschrieben mit einer Melodie aus Morgenlicht und Himmel.

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