Das Proust-ABC

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Из серии: Reclam Taschenbuch
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Apfelbäume

Als direkte thematische Verwandte der ►Weißdornhecke bescheren in Sodom und Gomorrha auch blühende Apfelbäume dem Erzähler eine unverhoffte Begegnung mit dem Schönen. Das Erlebnis hat alle Merkmale einer ekstatischen Offenbarung wie sonst nur eine unwillkürliche Erinnerung: eine plötzliche, unerwartete Begegnung, die nicht bewusst herbeigeführt werden kann, ein Augenblick, der die Essenz eines bestimmten Zeitabschnitts – hier des Frühlings – festhält. Damit gehört der Anblick der Apfelbäume zu jenen Begebenheiten, die eine indirekte Aufforderung an Marcel enthalten, Schriftsteller zu werden und die Schönheit schreibend festzuhalten. Erst sehr viel später jedoch versteht er diese Botschaft, die von den Apfelbäumen genauso wie von der Weißdornhecke, Unwettern oder►Venedig an ihn ergeht.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen Apfelbäumen und Weißdornbüschen wäre jedoch hervorzuheben: Zwar erinnern auch die Apfelbäume an entzückende junge Mädchen in Ballkleidern, aber es regnet und sie stehen mit den Füßen im Schlamm: Wie in seiner Kindheit erlebt der Erzähler einen Augenblick vollkommener Schönheit, er erlebt ihn jetzt indes vor einem düsteren Hintergrund, vor dem Hintergrund des gerade erst in einer ►»Unstetigkeit des Herzens« erfahrenen Verlusts der Großmutter und in Vorwegnahme des künftigen Schmerzes, den Albertine ihm noch bereiten soll. Sehr viel später im Roman, nach Albertines Tod, wird er seinen immer wieder unerwartet aufwallenden Schmerz vergleichen mit einem »kalten Wind wie jener, der in Balbec über die schon rosigen Apfelbäume gestrichen war«. Waren die Weißdornbüsche noch vornehmlich aus der Perspektive eines von der natürlichen Schönheit überwältigten Kindes beschrieben, so sehen wir die Apfelbäume durch die Augen eines Erzählers, der den Schmerz kennt und die Qualen der ►Eifersucht erfahren hat.

Aquarium

Zur Entstehungszeit von Prousts Roman herrschte in Paris eine regelrechte Unterwasser-Manie, welche von Architektur über Inneneinrichtung, Theater, Malerei, Literatur, Fotografie bis zum frühen ►Film und Mode nahezu alle kulturellen Bereiche erfasste. Der Jugendstil fand in den zunehmend auch wissenschaftlich erforschten Meereskreaturen ein unerschöpfliches Repertoire organischer Formen und Farben. Für die Weltausstellung im Jahr 1900 wurde in Paris das damals weltgrößte Aquarium gebaut, an dessen Wänden man unterirdisch entlangging; der Eingangsbereich war als rundum bewachsene Unterwasser-Grotte gestaltet. Die beliebte (auch von Proust erwähnte) Theaterform der Feerie, deren Hauptattraktion im furiosen Wechsel überreicher Bühnenbilder und Kostüme bestand, ließ ihre märchenhaften Verwandlungen ebenfalls in imaginären untermeerischen Reichen spielen. Proust folgt dieser Mode und wendet sie zugleich in charakteristischer Weise: Die Unterwasser-Szenerie ist im ►Roman nicht bloß eine jener zeittypischen Kulissen, über die ►Bergotte klagt, sie seien zwar hübsch, verkitschten aber die Leidenschaften der klassischen Tragödien (wie Racines Phädra) zu einer »Liebesaffäre zwischen Seeigeln«. Proust gestaltet die mondäne Welt des Faubourg Saint-Germain in fortgesetzten ►Metaphern zu Unterwasser-Bühnen, ihre ►Salons zu Aquarien, durch die der Erzähler gespült wird: Die ►Farben dieser Räume schillern grünlich oder bläulich, bevölkert sind sie von so pracht- wie geheimnisvollen, merkwürdig undefinierten »Kreaturen«, deren Kleidung und Wohnstätten schillern wie »Schalen aus Perlmutt«. Damit bietet zum einen die mondäne Welt für den Erzähler eine Welt voller überraschender Schönheit, zum anderen aber zeigt sie sich als eine Welt der Zweideutigkeiten und Geheimnisse: Die Kreaturen dieser Feenreiche wandeln ständig ihre soziale oder auch geschlechtliche Identität, ihr wahres Gesicht ist hinter ihren vielgestaltigen Erscheinungen nicht zu erkennen. Die bizarre Unterwasserwelt wird so zur Metapher für die Unergründlichkeit und Scheinhaftigkeit der Salongesellschaft. Die eigentümliche Zwittrigkeit der Meereskreaturen führt den Erzähler zugleich auf die Spur von ►Hermaphrodismus und ►Homosexualität. Das Wogen und Werden des mondänen Ozeans ist getrieben von uneingestandenen, ja verbotenen und damit immer auch potentiell vernichtenden Leidenschaften.

Prousts Salonbeschreibungen überblenden die zeitgenössische Unterwasser-Mode mit der viel älteren Wasser-Symbolik der ►Moralistik, dem »Ozean der Leidenschaften«, wie ihn die klassische französische Tragödie des 17. Jahrhunderts, insbesondere die in Sodom und Gomorrha oft erwähnte Phädra Racines, in Szene setzt. Auf diese Weise gibt Proust seinen Salon-Aquarien jene abgründige Tiefe zurück, die Bergotte in den modischen aquatischen Inszenierungen vermisst: Wenn er das mondäne Aquarium mit seinen reizenden Nereiden und Okeaniden zugleich als Palast des Neptun beschreibt, ist auf Prousts Bühne jene rächende, strafende Gottheit präsent, jene Verkörperung rasender Leidenschaft, die bei Racine Phädra vernichtet; als ihre Inkarnation im Roman erscheint immer wieder der unberechenbar in schäumenden Zornessturm ausbrechende ►Charlus. Bei Marcels zweitem Balbec-Aufenthalt wirkt der »Speisesaal […], der gefüllt war mit grüner Sonne« wie ein Aquarium, dessen Bild Proust hier eine sozialkritische Note abgewinnt: Der Erzähler bemerkt, wie die arbeitende Bevölkerung sich die Nase an den Scheiben plattdrückt, und fragt sich, »ob die gläserne Wand auf Dauer das Gelage der wundersamen Bestien schützen wird und ob nicht die Schattengestalten, die gierig in der Nacht zuschauen, kommen werden, um sie in ihrem Aquarium einzufangen und aufzuessen«.

Auf dem mondänen Aquarium lässt der Erzähler mal einen faszinierten, selbst von mondänen Ambitionen und Leidenschaften getriebenen Blick ruhen, mal den eines an ►Balzac geschulten ›Zoologen‹, der den letzten Zufluchtsraum einer aussterbenden Spezies beobachtet.

Aristokratie

Schon in Combray ist Marcel angetan von den Kirchenfenstern, die in bunten Bildern die ruhmreiche Geschichte ihrer adeligen Stifter, der Guermantes, erzählen. Hier bildet sich in ihm, dem Kind gehobener Bürger, die Vorstellung, hinter den prächtigen Farben und den wohlklingenden Namen des örtlichen Adels verberge sich eine allgegenwärtige, mythische Macht, angesiedelt irgendwo zwischen Himmel und Erde. Später, in Paris, wird die ►Strohmatte im Hauseingang der Guermantes zur symbolischen Grenze, die ihn von der geheimnisvollen und begehrenswerten Welt des Faubourg Saint-Germain trennt. Auch wenn im Laufe des Romans die aristokratische Welt entzaubert wird und sie sich im Wesentlichen als Ansammlung wichtig dahinschwätzender, eitler Durchschnittsgestalten entpuppt, kann sich die kindliche Begeisterung verwandeln in eine Faszination, die gerade die negativen Seiten der Aristokratie, ihre Selbstgenügsamkeit und ihre Beschränktheit, als Bedingungen für ein eigenständiges Universum erkennt: »In dieser Weise schließt der schwergewichtige, kaum von Fenstern durchbrochene Bau der Aristokratie, der wenig Licht einfallen lässt und den gleichen Mangel an emporgerichtetem Schwung, aber auch die gleiche massive, blinde Kraft aufweist wie die romanische Architektur, verdrießlich die gesamte Geschichte in seinen Mauern ein.« Indem die Aristokratie in ihrer Selbstüberschätzung die eigentlichen, großen historischen Ereignisse als Nebensächlichkeiten in ihren »schwergewichtigen Bau« einfügt und sie »nur maskiert, entstellt, verkleinert im Namen eines Besitztums oder in den Vornamen einer Frau« auftreten, wird ein gewohntes Wahrnehmungsschema durchbrochen, der herkömmliche Blick auf die Geschichte relativiert und eine neue Perspektive gewonnen. So beschränkt und verschlossen gegen den gesellschaftlichen Alltag und die Tagespolitik die Aristokratie auch sein mag, sie erfüllt damit im historischen Raum – ohne sich dessen bewusst zu sein – eine vergleichbare Funktion wie die sonst vom Erzähler geschätzten Überraschungen, seien es die unwillkürliche ►Erinnerung, ein plötzlicher Perspektivwechsel oder die Begegnung mit einem unbekannten Kunstwerk.

Ab Sodom und Gomorrha kündet der Roman immer deutlicher vom nahenden Untergang dieser obsoleten Gesellschaftsschicht, die sich in ihre Burg oder auch in ihr ►»Aquarium« gerettet hat: Die adeligen Selbstbestätigungsrituale, die Marcel auf der Matinee und der Soiree der Guermantes erlebt, werden in den Beschreibungen des Erzählers begleitet von Zeichen nahender Zerstörung wie Donnergrollen, Erdbeben oder Schwefelregen. Im Ersten Weltkrieg schließlich vollzieht sich das angekündigte Menetekel, Paris erscheint als ein künftiges Pompeji, das die Lebensweisen der Aristokratie als Kuriosität für Archäologen bewahrt.

Arzt


Vater Adrien Proust mit Sohn Robert (sothebys.com)

Proust stammt aus einer erfolgreichen und renommierten Medizinerfamilie, ►Vater wie ►Bruder waren zu seinen Lebzeiten weit bekannter als er: Sein Vater war Generalinspektor des französischen Gesundheitswesens und setzte den hygienischen »Sperrgürtel« durch, der die Weiterverbreitung der Cholera in ►Europa verhindern sollte. Sein Bruder war Chirurg, führte die erste erfolgreiche Prostataentfernung Frankreichs durch und beschäftigte sich auch mit dem ►Hermaphrodismus. In seinen Schriften zur Hygiene zeigt der Vater Adrien Proust sich ganz entschieden dem Humanismus und der Aufklärung verpflichtet: Sein Hygienekonzept sucht in Anlehnung an die antike Selbstsorge einen harmonischen Ausgleich zwischen ►Körper und Geist; die christliche Körperfeindlichkeit sieht er als einen zivilisationsgeschichtlichen Rückschritt. In den Roman gehen immer wieder zeitgenössische Kenntnisse der Medizin ein, die Proust aus der umfangreichen Bibliothek seines Vaters bezieht. Gerade an den Arztfiguren wird jedoch deutlich, dass er dessen optimistisches Körper- und Menschenbild nicht teilt: Den Ärzten gesteht Proust im Roman wenig Kompetenz und Würde zu. Widersprüchliche Diagnosen und Therapievorschläge entlarven die Willkür ihrer Kunst; ihr Interesse gilt weniger einer korrekten Diagnose oder der Heilung des Patienten, als ihn als Kunden an sich zu binden. Die Ärzte des Romans fallen immer wieder durch moralische Zweifelhaftigkeit oder spezifische Dummheit auf: Keiner kann die Großmutter retten, auch wenn jeder eine andere bedeutungsvoll vorgetragene Diagnose ihrer Krankheit bietet; Professor E vermag kaum zu verbergen, dass er den Tod seiner Patientin nicht als Unglück, sondern als Erfolg sieht, insofern dieser seine Diagnose bestätigt, und Cottard als einziger Arzt, dessen medizinische Kompetenz öfter gelobt wird, kann keinen Satz formulieren, ohne eine falsche Redewendung zu gebrauchen.

 

Mit seinen lächerlichen Arztfiguren knüpft Proust direkt an die Tradition europäischer Komödien an, in denen es vor geldgierigen und geltungssüchtigen Quacksalbern wimmelt. Die geschilderten Eigenschaften belegen darüber hinaus zwei Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Wesens, die der Roman immer wieder geltend macht: Erstens gibt sich, wenn der Arzt nur heilt, um Ruhm und Geld zu gewinnen, die Nächstenliebe einmal mehr als verkappte Eigenliebe im Sinne der ►Moralistik zu erkennen. Zweitens zeigt sich besonders bei Cottard in der Kombination von fachlicher Kompetenz und sozialer Dummheit, dass der Mensch nicht als personale Einheit existiert, sondern sich aus verschiedensten Teilen zusammensetzt, die nicht einmal miteinander kommunizieren müssen. So wie Charlus einen Mann und eine Frau in sich beherbergt, so wie im erwachsenen Erzähler das Kind weiterexistiert, wohnen in Cottard eben ein Genie und ein Dummkopf zusammen. In ►Jean Santeuil fällt Prousts Karikatur der Medizin noch ausgewogener aus: Hier profitieren die Ärzte – wie in den klassischen Komödien – nicht zuletzt von der überspannten Imagination und Hypochondrie ihrer Patienten, den Künstlern.

Austern

Als Statussymbol unter den Nahrungsmitteln gehören sie im Roman zum weiten Feld der gesellschaftlichen Eitelkeit und des ►Snobismus. Auf den Erzähler üben sie eine ästhetische Faszination aus, die nicht frei von Ekel ist: Einerseits bewundert er ihre kontrastreiche Form, die Rauheit mit Glätte vereint und den Charakter des Meeres en miniature wiedergibt – er nennt sie »kleine steinerne Weihwasserbecken« –, andererseits aber mag er sie nicht essen und empfindet den gleichen Abscheu vor ihnen wie vor den ►Quallen am Strand von Balbec, die ihm bei all ihrer Schönheit dennoch sein Badevergnügen verleiden. Albertine hingegen liebt Austern über alles. Wie alle Schnecken, Muscheln und Fische gehören sie damit im Roman zu jener Gruppe dubiosen Getiers, das immer wieder in Zusammenhang mit dem zwiespältigen Verhältnis des Erzählers zum ►Sex gebracht werden kann: Mit Albertine geht es ihm wie mit den Austern; von ihrer Schönheit immer aufs Neue fasziniert, bleibt ihm der eigentliche Genuss versagt. Zugleich kann der Erzähler sein ebenfalls von Anziehung und Distanz geprägtes Verhältnis zur Homosexualität hier verbergen: Mollusken sind häufig Zwitter, ihr natürlicher ►Hermaphrodismus spiegelt die schillernde geschlechtliche Identität des Meeresgeschöpfes Albertine.

Auteuil

Geburtsort Marcel Prousts (10. Juli 1871); damals noch grüner und ländlicher Außenbezirk von Paris, ist Auteuil heute Vorstadt. Das Haus des Onkels mütterlicherseits, Louis Weil, diente neben dem Haus in Illiers als Vorbild für Combray. Angeblich fand in Auteuil jenes »Drama meines Zubettgehens« statt, das später zu einer Schlüsselstelle im Roman wurde, wenn die ►Mutter abends von dem Gespräch mit einem Kollegen ihres Mannes vereinnahmt war.

Autobiographie

Nachdem der Mensch sich im 18. Jahrhundert als freies Individuum entdeckt hatte, beschloss er im 19. Jahrhundert, dies auch für die Nachwelt festzuhalten, und die Autobiographie kam in Mode; berühmte und völlig unbekannte Leute schrieben ihre Lebensgeschichte auf. Als literarisches Modell dienten dabei unter anderem die Confessiones (Bekenntnisse) des Augustinus (354–430), eine christliche Lebensbeichte, die nicht nur über äußere Ereignisse, sondern auch über Bildung, moralische Verfehlungen, Zweifel und schließlich die Bekehrung ihres Autors berichtet.

Prousts ►Roman scheint auf den ersten Blick dieser Tradition – in besonders phantasievoller Weise – zu folgen und ist auch immer wieder als verschlüsselte Autobiographie gelesen worden, in der jedes Motiv im Roman zu einem biographischen Ereignis zurückverfolgt werden kann. Dass eine solche Lesart nicht im Sinne des Autors ist und die – natürlich vorhandenen – Übereinstimmungen zwischen Leben und Werk nicht im Zentrum seines Interesses standen, zeigt sich auf den zweiten Blick darin, dass alle zwingenden Elemente fehlen, mit denen sich eine Autobiographie als solche auszuweisen pflegt: Alle wichtigen Daten des Erzählers, mit denen normalerweise eingeleitet wird, sind im Unklaren: Geburtsjahr und -ort, Namen und Beruf der Eltern sind zwar für Proust bekannt, nicht aber für den Erzähler seines Romans. Nicht einmal dessen Name steht fest; auf über 1000 Seiten fällt er zweimal und auch das nur im Tonfall eines hypothetischen Spiels: »Nennen wir ihn Marcel«. Chronologie und Länge der beschriebenen Lebensabschnitte lassen sich nicht bruchlos rekonstruieren; in Balbec scheint der Erzähler mal noch ein Kind zu sein, dann schon ein sexuell ambitionierter Jüngling. Des Weiteren fehlt die bei allen Autobiographien des 19. Jahrhunderts so beliebte Geste der schonungslos ehrlichen Offenlegung aller Lebensumstände, wie sie das Vorbild Augustinus schon im Titel vorgibt (auch Rousseau schreibt Confessions). Im Gegenteil: Der Ich-Erzähler führt sich bei Proust gleich zu Beginn als jemand ein, dem man aufgrund seines Zustands keinen Glauben schenken kann; er ist ein ►Erwachender, noch im Halbschlaf, der selbst nicht genau zu sagen vermag, an welchem Ort und in welchem Zeitabschnitt seines Lebens er sich befindet. Genauso wenig kann man feststellen, in welchem zeitlichen Abstand der Erzähler sich zu dem befindet, was er schildert, aus welcher Position heraus er erzählt oder schreibt. Mit seinem berühmten ersten Satz beginnt der Roman ganz bewusst in der Unschärfe, setzt sich damit ab von einer Tradition der Wahrheitstreue und schafft stattdessen die neue Gattung der fiktiven Autobiographie – eine »Autofiktion«, in der nicht ein Leben erzählt, sondern eines erfunden werden darf. Dabei knüpft er nicht an die Tradition satirischer Schelmen-Autobiographien der frühen Neuzeit an, sondern spielt mit den traditionellen Mustern »authentischer« Autobiographien, um den Weg zur Erkenntnis der subjektiven Wahrnehmung zu erzählen: Der Roman ist ein bisschen Erlösungs- oder Bekehrungsgeschichte (sein Held kommt auf steinigen Wegen über das Offenbarungserlebnis der unwillkürlichen ►Erinnerung zu seiner wahren Berufung, dem Schreiben), ein bisschen Entwicklungsroman (nach vertaner Zeit und Liebesleid findet er eine sinnvolle Aufgabe) und ein bisschen Autobiographie (Proust tauchte einmal Toastbrot in den Tee), eindeutig zu fassen ist er aber mit keiner dieser Kategorien.

Automobil

Löst als Mittel der Beschleunigungserfahrung die ►Eisenbahn ab. Sosehr er diese geliebt hat, so skeptisch steht der Erzähler dem die Bewegungsmöglichkeiten in jede Richtung steigernden Automobil gegenüber. Der Zug fährt in festgelegter Abfolge nur die vorgesehenen Bahnhöfe an, er konfrontiert den Reisenden dort nicht mit realen Eindrücken, sondern gibt ihm lediglich über eine Namenstafel symbolisch zu verstehen, wo er sich befindet, und ermöglicht so eine Reise durch die eigene Phantasie, entlang der individuellen und unverwechselbaren, mit jedem ►Namen verbundenen Assoziationen des Reisenden. Das Automobil dagegen löst diese angenehme, die imaginierte Einzigartigkeit eines jeden Ortes respektierende Form der Reise auf: Aus immer anderen Richtungen nähert man sich in rasender Geschwindigkeit den Orten, je nach Blickwinkel scheint ein Ort in mehrere zu zerfallen, oder mehrere Orte fließen durch die Reisegeschwindigkeiten in einen – die Reise im Automobil führt nicht wohlgeordnet von einer Vorstellung zur nächsten, gestützt durch die Assoziationskraft der Namen, sondern hier verschwimmt die Landschaft in einem Rausch namenloser Bilder.

In ihrer Flüchtigkeit, ihrer Unschärfe und ihren illusionistischen Effekten ähneln die Eindrücke einer Autofahrt den impressionistischen Bildern ►Elstirs; je mehr er diese im Laufe seiner Balbec-Aufenthalte schätzen lernt, desto mehr kann der Erzähler auch den Verlust der in seiner Phantasie so scharf umgrenzten Orte verschmerzen und die Ausflüge im Automobil genießen. In der Aufhebung heiliger, jedoch nur in der inneren Welt des Erzählers existierender Orte und Grenzen gleicht damit die Wirkung einer Autofahrt dem Effekt jener Bemerkung ►Gilbertes gegen Ende des Romans, man könne bei einem Spaziergang in ►Combray leicht über eine Abkürzung von Swanns Welt zur Welt der Guermantes gelangen. So wie durch diese unerhörte Zusammenführung völlig verschiedener Gebiete die Weltordnung von Marcels Kindheit zusammenbricht, löst die Erfahrung des beliebigen Perspektivenwechsels bei einer Autofahrt jede Möglichkeit einer verbindlichen, individuellen Topographie auf. Wie bei seiner Begegnung mit dem ►Impressionismus steht der Erzähler dieser »impressionistischen« Beschleunigung seiner Wahrnehmung durch das Automobil zwiespältig gegenüber: Wenn er auch auf die Dauer ihre ästhetische Faszination genießen lernt, so empfindet er sie doch im Zusammenhang mit Albertine immer als bedrohlich: Wie schon das Fahrrad wird das Automobil zum Symbol ihrer Ungreifbarkeit, Undurchschaubarkeit und Flüchtigkeit. Allein die Vorstellung, zu welchen Eskapaden die untreue und geschwindigkeitsversessene Geliebte das Automobil bequem nutzen oder genutzt haben könnte, steigert die ohnehin ständig am Erzähler zehrende ►Eifersucht. Zwar genießen er und Albertine gerade bei ihren Autofahrten Momente ungewohnter Vertrautheit und Sinnlichkeit, der Erzähler ist sich aber bewusst, dass diese Fahrten nur eine Art ›bewegter‹ Gefangenschaft darstellen – indem er Albertines Bewegungsdrang nachgibt und mit ihr fährt, begeben sie sich gemeinsam auf eine ziellose Flucht; nie gelangen sie an einen Ort, an dem er sie kontrollieren und besitzen könnte, er kann lediglich verhindern, dass sie ihm alleine davonfährt. Diese bis zuletzt zwiespältige Haltung zu einem Gefährt, das einerseits die Topographien von Phantasie und Erinnerung zerstört, andererseits einen rauschhaften, flüchtigen Bildgenuss ermöglicht, einerseits die Geliebte in ihrem eigentlichen Element leben lässt, dabei aber andererseits ihre Flüchtigkeit umso schmerzlicher hervorhebt – dieser Zwiespalt unterscheidet Prousts Haltung zum Automobil von der seiner enthusiastischen und technikoptimistischen Zeitgenossen wie zum Beispiel den Futuristen, die es als Mittel zur Befreiung von räumlichen und zeitlichen Zwängen feiern.

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