Der Erzähler Rudolf Steiner

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»Kleider und Hüllen vom Wesen der Sache.« (Marie von Sivers)

Nur einige Monate nach dem besprochenen Brief holt Steiner die vermutlich versäumte Antwort auf die Frage von Martha Asmus an anderer Stelle nach. In einer »privaten Lehrstunde« in Berlin-Schlachtensee vom 7. Juli 1904 schließt er an eine esoterische Betrachtung zu den drei (symbolisch-mythologisch zu verstehenden) Elementen Feuer, Luft und Wasser und den Begriffen des Seins, des Lebens und des Bewusstseins eine kleine Methodologie der theosophischen Dogmatik an, die wie eine systematisch entwickelte Antwort auf die Frage von Martha Asmus wirkt.

Zugleich macht er an dieser Stelle deutlicher, was er noch 1892 mit der gegenüber dem Pionier der Theosophie in Deutschland, Wilhelm Hübbe-Schleiden (1846–1916), luftig hingeworfenen Metapher von einer »geistigen Schwimmkunst« (GA 30, 511) praktisch meinen könnte. Hatte Steiner an dessen Buch »Das Dasein als Lust, Leid und Liebe«55 vor allem auszusetzen gehabt, dass Hübbe-Schleiden darin »Bilder« und »Sache« verwechsle (GA 30, 511), so stellt er andererseits Bilder als notwendige Mittel dar, die, tätig ergriffen, zu spiritueller Erfahrung hinführen. Dafür nutzt er die mit dem Element des Wassers verbundene Metaphorik, mit der er ein distanziertes, mäßig engagiertes Klassifizieren einerseits einer tätigen und existenziellen Auseinandersetzung mit Esoterik andererseits gegenüberstellt. Die Tiefe des Wassers sowie das Schwimmen (im Sinne des Einsteigens: in das Element und den Verlust des festen Bodens sowie die Notwenigkeit, tätig zu sein) sind dabei Leitmetaphern.56

»Die intuitive Weisheit des Orients strömt in einem tiefen Bette. Nur der Forscher, der sich in das für die Erkenntnis gefährliche Element wagt, kann den Grund erreichen … Man kann ohne geistige Schwimmkunst bei dem Werke auskommen. Das Wasser der mechanischen Naturerklärung, zu dem der Verfasser … uns führt, reicht kaum bis an die Knöchel« (GA 30, 511).

Die damit verbundene qualitativ-dynamische Metaphorik des Flüssigen und der Bewegung wird Steiner in dem Moment, in dem er selber nun auf das theosophische Gedankengut zurückgreift, explizit wieder aufnehmen. Allerdings bleibt die Leitmetaphorik hier nicht das Wasser, an dieser Stelle wird es das Feuer.

Der Inhalt der besagten esoterischen Stunde ist von einer ihrer drei Teilnehmerinnen, Marie von Sivers (1867–1948), der wesentlichen Initiatorin von Steiners theosophischer Arbeit und seiner späteren Frau, 57 in stichwortartigen Notizen aufgezeichnet worden. Wegen ihrer grundsätzlichen Bedeutung gebe ich sie in einem größeren Auszug wieder.

»Wir haben uns bemüht, von den verschiedenen Standpunkten den Dingen nahezukommen und Begriffe flüssig zu erhalten, anzuheften an die Dinge. In jeder Form des Begreifens nur eine Hülle für das Wesen zu sehen, ist ein wichtiger okkulter Satz. Das Wesen muss in uns leben. Wir müssen uns fortwährend Kleider und Hüllen vom Wesen der Sache machen, uns aber bewusst sein, dass in diesen Hüllen und Kleidern das Wesen der Sache gar nicht enthalten ist. In dem Augenblick, wo wir eine Ausdrucksform für das innere Wesen der Sache gefunden haben, haben wir das Esoterische exoterisch gemacht. Niemals kann also das Esoterische anders mitgeteilt werden als in exoterischer Form. Bilde fortwährend Formen des Begreifens, aber überwinde zugleich immer diese selbstgeschaffenen Formen des Begreifens …

Es ist unmöglich, in einer Dogmatik-Lehre das Um-und-Um einer Wahrheit zu sehen; die Dogmatik ist nur der zweite Moment. Erst wenn man sie überwunden hat, hat man die Wahrheit der Dinge selbst eingesehen. Daher der wichtige Satz: Der Mensch muss, um die Wahrheit zu erkennen, dogmatisieren, aber er darf nie im Dogma die Wahrheit sehen.

Und damit haben wir das Leben des Wahrheit suchenden Menschen, der das Dogma umschmelzen kann im Feuer des Begriffs. Daher schaltet der Okkultist in freiester Weise mit dem Dogma« (GA 89, 253 f.).

Aus dieser kleinen »Dogmatik-Lehre«, die einerseits theosophische Dogmen fordert und sie andererseits als sekundär situiert, hebe ich die folgenden Merkmale hervor:

1. Zunächst wird auf die Beweglichkeit und in eins damit auf die Mehransichtigkeit (d.h. umgekehrt immer auch Perspektivität) einer esoterischen Darstellung hingewiesen; eine Aussage (genauer: ihr Gehalt) ergibt sich nur aus dem Durchgehen durch einzelne Standpunkte oder Ansichten. Die qualitativen Metaphern »flüssig« und »umschmelzen« deuten auf substanzielle Beweglichkeit und Metamorphose hin. (Vgl. meine Ausführungen zum Unterschied von Definieren und Charakterisieren in der Einleitung)

2. Zwischen der symbolischen Ausdrucksform oder dem Dogma und dem damit intendierten Prozess, dem Wesen, besteht eine Differenz und sogar Distanz. Sie dürfen nicht miteinander verwechselt werden. Anders gesagt: Theosophische Dogmen oder Aussagen sind nicht mit (der) Wahrheit identisch, wenn sie auch in einem heuristischen Bezug zu ihr stehen. Wahrheit steht zunächst lediglich für Differenz gegenüber dem Dogma.

3. Das Verhältnis zu den einzelnen Dogmen ist eines der De-Konstruktion: Sie sollen einerseits gebildet, konstruiert werden, andererseits aber auch fortwährend überwunden, d. h. destruiert werden.58 Das Verhältnis zu den Dogmen ist in bestimmtem Sinn ambivalent und paradox.

4. Der Umgang mit der Dogmatik geschieht denkend – nicht »schwärmerisch« oder »gläubig« (s.o.). Darauf deutet die Metapher vom »Feuer des Begriffs«. Das Feuer verrichtet Arbeit und verwandelt Substanzen durch einen längeren Prozess, ganz anders als der ephemere »Blitz«, der für momentane Einsicht steht und der natürlich auch in solchen zusammenhängen prominent ist, etwa in Platons siebtem Brief.

5. Die Beziehung zum Dogma ist eine freie; die Geltung des Dogmas darf insofern nicht vorausgesetzt werden.

6. Es gibt im Prinzip keine esoterische Form; alle Ausdrucksformen sind bereits exoterisch. Von daher und aus Punkt 4 ergibt sich, dass das Verhältnis von Denken und symbolischem Gewand demjenigen von Esoterik und Exoterik entspricht, die damit notwendig aufeinander bezogen bleiben. Esoterik und Exoterik sind ineinander verwunden.

7. Esoterik wird nicht institutionell verstanden, sondern individuell und persönlich, wie bereits 1892 in der Hübbe-Schleiden-Rezension: »Vertiefung in sein Inneres« (GA 30, 511). Sie, die persönliche Vertiefung, ist der Angelpunkt, nicht die Institution.

Gandhi und das Motto der Theosophischen Gesellschaft

Mit dem wohl aus dem »Mahabharata« stammenden Motto »Keine Religion höher als die Wahrheit«59 geben die Vertreter der 1875 begründeten Theosophischen Gesellschaft, an die Steiner anschließt, nicht nur ihrer kosmopolitischen Haltung Ausdruck. Sie formulieren zugleich einen Grundsatz, demgemäß jede Lehrmeinung einer bestimmten Konfession überschreitbar sei auf eine (?) Wahrheit hin, die allen Religionen zugrunde liege bzw. sich in ihnen finde. Damit wird Wahrheit zu einem Gegenbegriff von Dogma (als Lehrmeinung einer Konfession), allerdings nicht in der Form des Gegensatzes, 60 sondern im Sinn der überschreitenden Tendenz auf ein Höherstehendes hin, das auch wiederum ein Vermittelndes sein muss. Die Religionen in diesem Sinn enthalten zwar Wahrheit, aber sie verkörpern sie nicht in ausschließlicher Form; demnach ist Wahrheit immer mehr oder noch etwas anderes als sie. Wir finden uns in einer ähnlichen begrifflichen Konstellation wieder wie in dem Verhältnis von Bild und Sache, Hülle und Wesen, Exoterik und Esoterik, Dogma und eigener Erfahrung, die zwar wie Wahrheit und Wahrhaftigkeit61 unterschieden werden müssen, aber nicht ohne einander existieren.

Offensichtlich spielt dieses Motto im Denken des charismatischen indischen Aktivisten der Gewaltlosigkeit und Freiheitskämpfers Mohandas Karamchand Gandhi (1869–1948) eine initiale Rolle. Seine Lehre von (der) »Wahrheit« (sanskr. Satya) orientiert sich an dem genannten Motto und spiegelt dessen Formulierungen wieder.62 Gandhi selber war mit der Theosophie seit seiner Studienzeit in England wohl vertraut. Biographisch hatte ihm die Theosophie den Wert der eigenen hinduistischen Tradition erkennen lassen. Seine Einstellung zu den Religionen zeigt sich in der Folge in ausgesprochener Toleranz. »Für mich sind alle Hauptreligionen in dem Sinn einander gleich, dass sie alle wahr sind.«63 Ähnlich hieß es bereits bei Blavatsky: »Es … kann nur eine absolute Wahrheit im Kosmos geben … wir wissen: wenn sie absolut ist, so muss sie auch allgegenwärtig und universal sein; und in diesem Fall muss sie jeder Welt-Religion zugrunde liegen … «64 An den nachbarschaftlichen Formulierungen lässt sich freilich auch erkennen, dass zwischen Toleranz und dem Überlegenheitsanspruch auf »absolute Wahrheit« nur eine schmale Grenze gezogen ist. Absolute Ansprüche machen, insofern sie Wahrheit oder Wahrheiten verdinglichen (s.o. Fichte und Schelling), tendenziell intolerant. Mit dem Anspruch auf absolute Wahrheit entsteht eine Dogmatisierungswirkung. Das gilt selbst, wenn nicht ein ›Besitz‹ dieser Wahrheit, nur deren ›Kenntnis‹ in Anspruch genommen wird. Vermieden wird diese Wirkung, wie wir schon seit Lessing wissen, wenn von einem dynamischen Bezug auf Wahrheit, konkret von Wahrhaftigkeit gesprochen und eine entsprechende Haltung kultiviert wird. Das scheint schon der alte Sanskrit-Satz, den das Motto aufgreift, gewusst zu haben: »Satyannasti paro dharmah«. Als beste Übersetzung des Satzes gilt dem Indologen Helmuth von Glasenapp zufolge: »Es gibt keine höhere Pflicht als die Wahrhaftigkeit.«65

Meinung, Wahrhaftigkeit, Forschung

Für seine Zeitschrift »Luzifer-Gnosis« eignet sich nun Steiner das theosophische Motto in der folgenden Form an: »Keine menschliche Einzelmeinung stehe über der Erforschung der Wahrheit.«66 Damit greift Steiner die Form des Mottos der Theosophischen Gesellschaft auf, aber er profanisiert es, indem er an die Stelle der Religion die Meinung setzt. Und er ersetzt auf der anderen Seite des Satzes die Wahrheit durch die Erforschung der Wahrheit. Nicht nur hat er so eine Dynamisierung vorgenommen, einen »Prozess« auf etwas hin (Erforschung) anstelle des bloßen »Ziels« (der Wahrheit) gesetzt, er hat diesem Prozess als »Erforschung« auch eine Gediegenheit verliehen, welche die bloße »Suche« nach Wahrheit zum Beispiel nicht hätte. Gleichzeitig, so scheint es, evoziert er ein Muster, das am Beginn der abendländischen Rationalität steht, nämlich die Unterscheidung zwischen der Doxa (δόξα) als bloßer »Meinung« und der Episteme (ἐπιστήμη) als Erkenntnis, Wissenschaft oder Erforschung.67 Damit nimmt er stillschweigend eine Verschiebung vor vom östlich orientierten weltreligiösen Kontext der Theosophischen Gesellschaft in den philosophischen Kontext der westlichen Tradition, die sich auf das antike Griechenland bezieht. Religion wird zu Forschung, absolute Wahrheit zur Erforschung der Wahrheit.

 

Auch hier gibt es wiederum die Gefahr der Verdinglichung von Wahrheit (oder dessen, der sie vertritt68) und der Unterschätzung des diskursiven Prinzips der vielen und als solchen anerkannten Meinungen. Faktisch hat Steiner mit seiner Editionspraxis in der Zeitschrift auf das diskursive Prinzip großen Wert gelegt, indem er heterogene Autoren zu Wort kommen ließ. Mit dem Stichwort der »Erforschung« setzt er einen bestimmten Akzent: Forschung (der Prozess) steht über der (festen) Meinung. Und die Autorität von Personen, wie berechtigt sie sein mag, steht nicht über dem Wahrheitsanspruch – im Sinn jenes anderen, verwandten Mottos: »Amicus Plato, sed magis amica veritas.«69 Die Autoritätszuschreibung von Personen bis hin zur Dogmatisierung ihrer Aussagen ist nämlich ein allgemeines Phänomen, auch in Philosophie und Wissenschaften.

Was nun die praktische Konstitution einer gesellschaftlichen Organisation angeht, ist man mit einem solchen antidogmatischen Motto gewissermaßen schlecht beraten. Denn eine gesellschaftliche Form verlangt ein Maß an Festigkeit und Identität, das durch bestimmte Bekenntnisse wie das eines Glaubens an Reinkarnation und Karma oder an die Existenz unsichtbarer Meister festgeschrieben werden könnte. Nun hat sich aber Steiner wie schon die frühen Theosophen solchen Festschreibungen verweigert. Gerade aber weil das Motto keine Festschreibung ist, sondern eine Handlungsanweisung, hängt es von der persönlichen Haltung jeder einzelnen Person ab, ob und inwieweit sie einen undogmatischen, offenen Habitus und eine entsprechende Erkenntnishaltung einnehmen kann und der Grad einer undogmatischen Haltung der Einzelnen wird ebenso von der entsprechenden Kultur in einer Gesellschaft gefördert oder gehemmt. Gleichwohl sind es immer bestimmte Inhalte, diese und nicht jene, die einer Beschäftigung, einem Studium, einer Forschung zugrunde liegen. Das geht nicht ohne Verbindlichkeit. Zugleich aber soll diese Verbindlichkeit, wie ich in der Folge und in diesen Studien insgesamt zeigen möchte, eine möglichst freie sein. Und frei heißt nicht beliebig oder willkürlich. Um ein Motto handelt es sich also, das die Lektüre eines jeden Satzes muss begleiten können.

Die Schwierigkeiten eines solchen Anspruchs auf Offenheit haben Helmut Zander zur Formel eines »Dogmas der Dogmenfreiheit« inspiriert.70 Der besprochenen Fundierungsordnung zwischen Dogmen im Sinne von (inhaltlichen) Lehraussagen und den Formen ihrer (methodischen) Überschreitung und der beschriebenen Aufgabe eines undogmatischen Umgangs damit wird er mit seinen Ausführungen indessen nicht gerecht. Auch konfundiert er in seinem retorsiven Argument die Bedeutungsebenen von Dogma im Sinne einer inhaltlichen Aussage inklusive des Geltungsanspruchs mit der eines Mottos im Sinne einer (regulativen, aber tendenziell offenen und immer prekären) Handlungsanweisung – der Aufforderung zu Beweglichkeit, zur Selbstständigkeit, zur Selbstverantwortung. Motto und Dogma sind nicht das selbe und die beiden Begriffe bewegen sich nicht auf derselben Ebene.

Gesellschaften wie die Anthroposophische indessen sind mit solchen Ansprüchen prinzipiell Gesellschaften an der Grenze zwischen Scheitern und Gelingen. Für Steiner jedenfalls bleibt die »Dogmatik« ein notwendiger Gegenbegriff, den er als Widerhalt braucht, von dem er sich aber unentwegt abstoßen muss.71 Und Dogmen im Sinn von Lehraussagen verstehen sich in seinem Kontext als Voraussetzungen, Mittel, Vehikel, aber nicht repetitiv zu zitierende Inhalte vermeintlich eigenständiger Erkenntnis.72

Ästhetische Differenz, hermeneutische Distanz, dialogische Konstellation

Die bisherigen Darstellungen zusammenfassend und zugleich weiterführend, skizziere ich drei Lektüreregeln zu Aspekten der Darstellungsform, der Geltung und des Kontextes von Steiners (Lehr-)Aussagen, die sich in der Konsequenz weniger im Sinne von bloßer Ambiguitätstoleranz als einer explizit geforderten methodischen Auseinandersetzung ergeben. Es handelt sich gewissermaßen um Leseanweisungen, Lektüreregeln, die ich in Steiners Werk vorfinde und die den ambivalenten Status des Dogmas berücksichtigen, ja, von ihm gefordert werden, vielleicht kann man auch sagen: ihn erlösen.

Ästhetische Differenz: Darunter verstehe ich das Absehen vom semantischen Gehalt einer Aussage und die Aufmerksamkeit auf ihre Art oder Form. Da es besonders in Steiners Werk sehr unterschiedliche Arten oder Formen von Aussagen gibt, spreche ich sehr allgemein von einer Differenz, also einem »Absehen von« und einem heuristischen »Hinsehen auf«. Es ist ein Achten auf den Unterschied, bei dem zunächst offenbleibt, was die Art der Aussage jeweils ausmacht. Die Regel bedeutet in ihrem Kern einen Vorrang des Wie vor dem Was, wobei das Was nicht bedeutungslos wird. Dafür gibt es im anthroposophischen Kontext verschiedene Vorarbeiten, 73 in konkreten Arbeitszusammenhängen wird Goethes Satz »Das Was bedenke, mehr bedenke Wie?«74 als Motto oder Orientierung gerne zitiert. Grundlegende Studien stehen aber aus.

Im konkreten Kontext einer historisch-kritischen Vorgehensweise, die ich in diesen Studien auch im Blick habe, findet die Regel ihre Anwendung beispielsweise darin, dass ich darauf achte, was Steiner aus einer bestimmten belegbaren literarischen Quelle (also etwa Scott-Elliots Schrift »The Story of Atlantis«) »gemacht« hat, also wie er sie aufgreift, verarbeitet, verwandelt, »kohärent verformt«.75 Ich komme auf das Beispiel in der letzten dieser Studien zurück. In der Differenz ist im Unterschied zur Quelle das Eigenständige zu finden, nicht in einer naiv prätendierten Kontextlosigkeit oder überzeitlichen »Schau« oder »Hellsichtigkeit«. Dies gilt, sofern es sich um historisch-quellenkritische Arbeiten im Kontext von Geschichte handelt. – Für die Philosophie gilt ähnliches, aber in anderer Art, nämlich als Erfahrung im Denkprozess, auf die folgendermaßen hingewiesen werden kann: »Worauf es vor allem ankommt, ist die daran [an der Bewegung des Begriffs, U.K.] gemachte Erfahrung, dass etwas im Bewusstsein vorkommt, welches dadurch, wie es auftritt, über das Bewusstsein hinausweist.«76 – Inwieweit historisch-quellenkritische Forschung und immanent-begriffliche Philosophie miteinander vermittelbar sind, ist eine eigene Frage, die bislang nicht systematisch bearbeitet wurde, durch Steiners Verständnis esoterischer historischer Forschung aber aufgeworfen wird.77

Wohlgemerkt handelt es sich um eine Leseanleitung, also eine methodische Maxime, keine ontologische Aussage. Über den genauen Zusammenhang zwischen Darstellung und Gehalt etwa im Sinn des Satzes form follows function den man auch verstehen könnte als form shows meaning ist damit noch nichts gesagt. Das Wahre und das Schöne sind zwei unterschiedliche Kategorien und es muss einer eigenen Untersuchung vorbehalten bleiben, wie Gehalt und Darstellungsart in Steiners Werk und grundsätzlich ineinander vermittelt sind.

Hermeneutische Distanz: In einer bekannten Formulierung aus Steiners »Philosophie der Freiheit« ist die Rede davon, man müsse sich der Idee (in unserem Kontext, nicht identisch damit: den Dogmen) »erlebend gegenüberstellen«, sonst gerate man unter ihre »Knechtschaft« (GA 4, 271, Ausgabe 19182).78 Es ist also nicht die Rede von einem erlebenden ›Eintauchen‹ oder einem Verlust der Distanz, sondern einer dezidierten Distanzierung, die gleichwohl den erlebenden Bezug, die Verbindung nicht aufgibt.79 Die Distanzierung schafft Abstand, macht insofern sichtbar und setzt zugleich im Sinne der stoischen oder phänomenologischen »Epoché« (= Enthaltung der Zustimmung oder Ablehnung) die Geltung einer Aussage außer Kraft. Der erlebende Bezug wiederum ist Grundlage des Verstehens, aber zugleich auch der Eigenständigkeit und Selbstverantwortung, die einer Aussage Geltung aus sich verleihen können. Er unterscheidet sich von einer unbeteiligten oder gar zynischen Distanziertheit oder Teilnahmslosigkeit. Er unterscheidet sich genauso vom distanzlosen Zitat, blinder Bestätigung. Das Stichwort der Knechtschaft bezeichnet den nicht gewünschten dogmatisch-abhängigen Bezug.

Dialogische Konstellation: Einen großen Teil seiner Aussagen trifft Steiner dezidiert in lauschender, antwortender, möglicherweise sogar responsiver80 Haltung gegenüber seinen Zuhörern. »Ich höre auf die Schwingungen im Seelenleben der Mitgliedschaft, und in meinem lebendigen Drinnenleben in dem, was ich da höre, entsteht die Haltung der Vorträge.« (GA 28, 444, vgl. 451). Vermutlich gilt diese Abhängigkeit vom Kontext weit mehr, als Steiner explizit deutlich macht. Viele, wahrscheinlich alle der praktischen Gründungen etwa in der Pädagogik, der Medizin oder der Landwirtschaft gehen auf die Initiative oder Anfrage anderer zurück, auf die Steiner dann erst »sprudelnd« antwortet. Selbst die theosophische Karriere Steiners ist ohne die Initiative und permanente Unterstützung von Marie von Sievers, später Marie Steiner oder anderer wie Michael Bauer oder Carl Unger nicht denkbar. Steiners Werk ist deshalb in eminenter Form eingelassen in sein Umfeld, Teil von persönlichen Konstellationen81 und weitgehend nur von da her verstehbar. Konstellationsforschung in diesem Sinn ist ein Desiderat, weil sie die Konstellationen aufzuweisen vermag, in welchen sich Steiner bereits befindet. Das gilt schließlich nicht nur auf Personen bezogen, sondern ebenso auf das kulturelle Umfeld und die Bildungsinfrastruktur (also Steiners Bibliothek zum Beispiel).

Im Feld dialogischer Konstellationen allerdings, auf die es mir hier hermeneutisch ankommt, ist insbesondere der Situation Steiners als eines (je) Anderen Rechnung zu tragen. Jeder Andere nämlich, im Sinne der Philosophie von Emmanuel Levinas (1906–1995), steht hermeneutisch prinzipiell höher als ich, in Asymmetrie82 zu mir, insofern ich, was von ihm kommt, grundsätzlich nicht berechnen kann. In diesem Sinn bereits ist Steiner ein Anderer. Mit seinem starken Werk ist er das sogar in besonderer Weise. Der Andere im Sinne von Levinas freilich zeichnet sich nicht in erster Linie durch seine Stärke aus, sondern durch seine Verletzlichkeit. Die verletzlichen Seiten am Werk Steiners zeigen sich zwar in der möglichen Kritik, mehr aber noch in der allgegenwärtigen Möglichkeit des Nicht-Verstehens. Das Nicht-Verstehen kann darauf zurückgehen, sich nicht auf einen verwandelnden Standpunkt begeben zu wollen; es kann aber auch darin bestehen zu meinen, das Werk, die Worte, die Sätze in der bloßen Wiederholung verstanden zu haben. Die Worte Steiners dürfen nicht in der Art eines Echos wiederholt werden, das als Antwort leer bleibt. Sie müssen verantwortet werden, indem sie sich in der Antwort zu einem Eigenen verwandeln. Indem sie Möglichkeiten aktivieren. Auch Steiners Werk muss gegebenenfalls unbequem befragt werden. Es bedarf unserer Fragen. Es muss sich durch unsere Fragen weiterentwickeln.

Auch insofern sind dialogische Konstellationen immer asymmetrisch strukturiert. Allerdings wechselweise asymmetrisch, nicht festgefroren. Steht das Ideal der Augenhöhe für den zwangslosen Zwang besserer Argumente und eines entspannten Austausches, für das gegenseitige sich frei lassen und sich frei fühlen im Gespräch, so birgt es die Gefahr der Nivellierung und des bequemen Einverständnisses. Tiefer und grundlegender als Augenhöhe liegt Asymmetrie. Vielleicht wird Augenhöhe durch Asymmetrie erst ermöglicht. Asymmetrie: das Bemerken des Andersseins, das Geltenlassen von Diversitäten, die Sphäre der Möglichkeiten, der Irritation und Anziehung, der allmählichen Entwicklung, der tastenden Suche, der Angewiesenheit auf Inspiration, der Mühsal des Verstehenwollens, der überraschenden Einsicht: der dialogischen Konstellation. Das freie und gleichwohl nicht willkürliche bilaterale Spiel83 dieser Konstellation lässt, wo es nicht festhakt, Dogmatisierungswirkungen nicht zu und löst, wo es kultiviert wird, die Verkrustungen vorhandener Dogmatisierung auf. Dann freilich ist es ein Feld der Konstellationen, in dem Steiner nicht der einzige Bezugspunkt sein kann und nicht die einzige Person ist, die erzählt.

 

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