Читать книгу: «Rette mich wer kann!», страница 2
DER HÖCKERSCHWAN
Der Höckerschwan Korbinian,
der gab mit seinem Höcker an:
„Wer ohne Höcker geht durchs Leben,
den dürfte es normal nicht geben!“
So lästert er. Doch dies Gemecker
ging andren tierisch auf den Wecker.
Jüngst sah der Korbi ganz entzückt
’ne Schwänin und war hoch beglückt.
Brunhilde lebt jedoch – o Pein –
auf Nachbars Grundstück ganz allein.
Da wirft sich Korbi in die Brust,
umwirbt die Maid ganz selbstbewusst,
rückt peu a peu zum Zaun heran,
denn ihn erfasst’ der Liebe Wahn.
Er steckt den Kopf durch enge Maschen,
’nen Blick von Hildchen zu erhaschen,
da macht es plötzlich einfach: „Klick …“
Er kriegt den Kopf nicht mehr zurück.
Der Korbi macht ein Mordsgezeter.
Sein ganzer Stolz, der schwarze Höcker
ist ihm im Weg. Und Korbi schreit:
„So helft mir doch, Ihr lieben Leut’!“
Doch alle Tiere groß und klein,
die stör’n sich nicht an seinem Schrei’n.
Wer andre pausenlos verlacht
muss sehn, wie er sich selbst los macht.
Und als der Korbi sich befreit
geschieht ihm neues Herzeleid:
Das Hildchen zog von dannen still
mit seinem Konkurrenten Bill.
Und dieser Schwan, man glaubt es nicht,
trägt k e i n e n Höcker im Gesicht!
ist glatt rasiert wie auf ‘nem Poster!
Der Korbi ging deshalb ins Kloster …
SEIFEN-OPER
„Ich darf ja noch nicht gratulieren“, meinte meine Tochter, drückte mir einen Schmatz auf die Wange und ein Geschenk in die Hand, das einem überdimensionierten Knallbonbon nicht unähnlich war. „Aber noch nicht öffnen!“, drohte sie mir neckisch mit erhobenem Zeigefinger. „Erst in zwei Tagen an deinem Geburtstag!“ Sagte es und verschwand.
So lange sollte ich noch warten? Ich zupfte ein bisschen an den beiden überstehenden Geschenkpapierenden, die mit einem goldenem Band verziert waren. Ob ich einfach mal fester daran zog? Vielleicht platzte dann das Ganze und ich wusste, was sich darunter verbarg. Vielleicht war es ja nur eine Rügenwalder Teewurst? Aber das Päckchen roch nicht. Oder eine Dose Cola? Aber es gluckerte nicht. Also nahm ich mir ein Herz und zog kräftig an beiden Enden. Das Papier riss. Zum Vorschein kam eine durchsichtige, zylinderförmige, gefüllte Röhre. Jetzt packte mich die Neugier erst recht. Ich rupfte alles aus der Verpackung. Oben und unten wurde der Zylinder von je einem glasklaren Plastikdeckel mit einem drei Zentimeter hohen Rand gehalten. Im unteren Deckel steckten drei Fläschchen, die nach außen rund und zur Mitte des Zylinders spitz zuliefen. Sie bildeten so seinen „Körper“. Alle drei besaßen einen Druckverschluss, aus dem man ihren Inhalt entnehmen konnte. Aber welchen? Die Aufschriften waren kaum lesbar. Ich nahm die Flaschen einzeln aus dem Deckel und entzifferte mit Mühe: „Lait corporel“, „Gel douche rafraichissant“ und „Shampooing conditionnant léger.“ Aha! Wenn mich mein restliches Schulfranzösisch nicht im Stich ließ, handelte es sich um Körpermilch, Duschgel und Shampoo. Praktisch! Wenn ich verreiste, brauchte ich nicht ständig drei verschiedene große Flaschen mitzuschleppen. Ich erinnerte mich dunkel, dass meine Tochter mir erzählt hatte, sie selbst besäße auch einen solchen Behälter, um den man sie beneidete. Wunderbar! Vorläufig verschwand er jedoch in der Tiefe meines Toilettenschrankes bis zur nächsten Reise. Zu Hause konnte ich mich bei meinen Sauberkeitsorgien aus großen Flaschen bedienen.
Kurz darauf bekam ich eine Einladung zu einem Vortrag: „Die Nebel von Avalon – Mystik oder Klimaveränderung des Regenwaldes?“ Wenn ich auch nicht recht wusste, um was es ging, wollte ich auf alle Fälle am Abend dabei sein.
Eine Stunde vorher beschloss ich, kurz unter die Dusche zu springen, um sauber und erfrischt dem vortragenden Professor Dr. Dr. gegenüber sitzen zu können. Besondere Ereignisse erfordern besondere Vorbereitungen: Ich holte das „Knallbonbon“ zu seiner ersten Bewährungsprobe aus dem Schrank. Ich legte meine Kleider ab samt meiner Brille und stieg in die Duschkabine.
Das Wasser plätscherte angenehm, ich bekam Lust, laut zu pfeifen. Ich tastete nach meinen drei Flaschen – und erstarrte. Welche war nun für was? Die Aufschriften konnte ich jetzt schon gleich gar nicht entziffern, denn ohne Brille war ich blind wie ein Maulwurf. Dusche abdrehen, aussteigen und Brille aufsetzen? Was für ein Aufwand! Ich entsann mich, dass das Duschgel blau, das Shampoo hellgrün und die Körpermilch weiß gewesen waren. Das kriegte ich ohne Brille hin! Um durch den Wasserdampf besser sehen zu können, riss ich die Augen bis zum Anschlag auf, tropfte mir aus einem der Behältnisse etwas in die Hand und verteilte es im nassen Haar. Warum schäumte das denn nicht? Vielleicht hatte ich zu wenig genommen? Ich legte nach und kippte mir dieses Mal eine ordentliche Portion auf mein Haar. Der Effekt war derselbe wie vorher.
Mich durchzuckte ein schrecklicher Gedanke: Ob ich vielleicht die falsche Flasche erwischt hatte? Ich hielt sie durch den Wasserschleier ans Licht. Schreck lass nach! Ich hatte die Körpermilch erwischt! Kein Wunder, dass die nicht schäumte! Jetzt aber her mit dem Shampoo! Nach mehreren wiederholten Wäschen hatte ich das Gefühl, nicht mehr wie eine Ölsardine zu glänzen, sondern langsam zum Normalstatus zurückzukehren.
Meine Haut an den Fingern begann bereits schrumpelig zu werden, als ich die Dusche endlich verließ. Verflixt! Es war schon viel zu spät! Meine Haare hingen mir um den Kopf wie die Zweige einer Trauerweide.
Der Vortrag hatte längst begonnen. Ich zwängte mich leise durch die Reihen bis auf einen letzten leeren Stuhl. Rechts von mir rückte eine füllige Blondine, auf der anderen Seite eine hagere Rothaarige von mir ab. Wahrscheinlich umgab mich ein Duft wie sämtliche Gerüche eines orientalischen Basars.
In der Pause vertrat ich mir mit einem Glas Sekt in der Hand im Foyer die Beine. Meine beiden Nachbarinnen tuschelten miteinander und warfen beziehungsreiche Blicke auf mich. Die Blonde wogte schließlich auf mich zu:
„Es ist eigentlich nicht meine Art, auf Fremde in dieser Form zuzugehen, aber darf ich Sie etwas fragen?“ Ihre Hand mit dem O-Saft zitterte leicht. „Sagen Sie …“, sie rückte mir noch ein bisschen näher auf die Pelle, „… sagen Sie, was ist das für ein Parfum, das Sie tragen?“ Ihre blauen Augen schauten erwartungsvoll. Auch die Rothaarige kam auf dünnen, schwarzbestrumpften Beinen auf mich zugestöckelt: „Ach ja“, flötete sie beipflichtend, „das würde uns nämlich beide interessieren!“
Parfum? In der Hektik meines verspäteten Aufbruchs hatte ich ganz vergessen, ein paar Tropfen an mir zu verteilen. Es konnte sich also nur um die Hinterlassenschaft meiner Shampoo-Körpermilch-Oper handeln! Wie sollte ich mich jetzt aus der Affäre ziehen? Die Wahrheit sagen oder schummeln? Ich entschied mich für letzteres. Wahrscheinlich würde ich die Damen sowieso nie im Leben wiedersehen, da durfte ich ruhig mal dick auftragen. Ich neigte mich also zum Ohr der Vollbusigen und flüsterte, als ob ich beim Secret Service sei: „Lait corporel!“ Ich nickte bekräftigend, nahm einen Schluck Sekt und blickte verschwörerisch in die Runde, als ob ich befürchtete, unliebsame Mithörer zu entdecken. Wenn sie jetzt Französisch sprach, war ich geliefert. Sie hätte sofort meinen „Körpermilch“-Schwindel durchschaut. Dann war Schlagfertigkeit gefragt.
Aber ich hatte Glück. „Aha!“, nickte sie verständnislos. „Joop? Armani? Elisabeth Arden? Es riecht sehr teuer!”, setzte sie erklärend hinzu.
Ich schüttelte energisch meine Sauerkraut-Haare. Hurra! Ich war auf dem richtigen Dampfer. „Ma fille!“, flüsterte ich im gleichen Verschwörerton wie vorher. Natürlich war ich mir darüber im Klaren, dass ich lediglich „meine Tochter“ übersetzt hatte. Die Rothaarige sah mich bewundernd an. „Mafije“ … plapperte sie verständnislos nach. Ihren kugelrunden Augen konnte ich ansehen, dass sie nur Bahnhof verstand.
„Noch nie gehört!“, erklärte auch die Blonde. „Aber sehr empfehlenswert! Cheers!“ Sie hob ihr Sektglas, ihre rote Kollegin tat es ihr nach, beide tranken mir zu. Ich erwiderte mit einem tiefen Schluck aus meinem Glas. Klippe umschifft! Insgeheim klopfte ich mir auf die Schulter. Gut gemacht!
Ich gestehe, vom Rest des Vortrages habe ich nicht mehr viel mitgekriegt. Mein selbst kreierter Duft vermischte sich quasi mit den Nebeln von Avalon. Seitdem überlege ich immer wieder, ob ich mir meine einzigartige Komposition nicht patentieren lassen sollte. Leider ist das Shampoo bereits so gut wie aufgebraucht. Und ob ich die einmalige Duftnote je wieder so hinkriege?
ZU RISIKEN UND NEBENWIRKUNGEN …
Ich traue keiner Wettervorhersage mehr. Stimmt sowieso meistens nicht.
Wie gut, dass ich schon fortgeschrittenen Alters bin. Dann ist man nämlich sein eigener Wetterprophet. Unabhängig von Wetterfröschen jeglicher Couleur kann man seine persönlichen Vorhersagen treffen. Allerdings klappt das nur bei denjenigen, deren Propheten-Gene von Großvater auf den Vater und von diesem auf einen selbst weitergereicht wurden. Mein Opa konnte zum Beispiel wegen seiner Gicht sagen, wann das Wetter umschlug. Mein Vater hatte dafür seine Kriegsverletzung. Ich benutze jetzt dafür mein Knie. Seit sich das Rheuma darin eingenistet hat, kann ich wunderbar das Wetter prognostizieren: Stufe 1 für leichte Wetterumschwünge, Stufe 2 für Orkane und Blizzards und Stufe 3 tritt bei Erdbeben und Tsunamis in Aktion. Die Stufen 2 und 3 sind mir allerdings bisher erspart geblieben. Aber Stufe 1 ist doch schon mal ein netter Einstieg.
Tagsüber habe ich ja nichts gegen diese Art Wettermeldungen. Nur nachts würde ich gern ein paar Stündchen schlafen. Wie gut, dass ich im Wartezimmer vom Doktor über das Wundermittel „Schmerz ade“ oder „vale dolores“ – wie die Lateiner sagen – las. Ich also hin zur Apotheke, das Zeug gekauft und ab ins heimische Badezimmer.
Als ich die Dolores-Flasche öffnete, strömte mir ein wahrhaft umwerfender Geruch von Knoblauch-Kampfer-Ammonial-Wein- und Himbeergeist mit einem Schuss Petroleum entgegen. Mir wurde leicht schwindelig. Aber ich wollte das Gebräu ja weder trinken noch inhalieren, sondern nur mein Knie damit einreiben. Da darf man nicht immer zimperlich sein. Was soll ich sagen? Drei Tage später war ich schmerzfrei! Gut, die Haut warf Blasen und die Fliesen im Badezimmer fielen durch den penetranten Geruch herunter. Aber die Wandbekleidung wollte ich sowieso schon lange auswechseln.
Da entdeckte ich, dass Hannibal, mein Kater, voller Zecken saß. Warum sollte ihm das Mittel nicht auch helfen? Er sträubte sich zwar, aber Dolores würde auch bei ihm Wunder wirken. Und richtig: Jetzt ist er völlig von Zecken befreit. Allerdings auch vom Fell. Als süßer gregorianischer Nacktkater räkelt er sich nun in seinem Körbchen. So ist er ohnehin viel pflegeleichter.
Einige Tage später erzählte mir Frau Müller aus dem Nachbarhaus, ihre Tochter habe sich aus der Schule Läuse mit nach Hause gebracht, aber das Anti-Läuse-Mittel habe nichts genützt. Ich empfahl ihr Dolores und überließ ihr den halben Flascheninhalt.
Bereits zwei Tage später sah ich das kleine Mädchen fröhlich durch den Garten hüpfen. „Meine Läuse sind alle tot!“, erzählte es mir freudestrahlend. „Zusammen mit den Fliegen in unserer Wohnung, der Maus unter der Waschmaschine und den Blattläusen auf den Topfpflanzen konnte Mutti alles zusammenkehren. Zur Schule brauche ich im Moment auch nicht. Seit ich mit meinem Dolores-Kopf dort war, leidet unsere Lehrerin an Atemnot. Jetzt habe ich zusätzlich noch ein paar Tage Ferien!“ Sprach’s und hopste vondannen. Ich war hoch zufrieden mit meinem Mittel und wartete darauf, dass mir Frau Müller den Rest von Dolores zurückgab.
Eine Woche später knallte es fürchterlich in der Nachbarschaft. Feuerwehr und Krankenwagen rückten an. Ich stürzte auf die Straße, um nach der Ursache des Aufruhrs zu forschen. Da stürmte mir Frau Müller völlig aufgelöst entgegen, in der Hand die Dolores-Flasche mit dem Rest der Flüssigkeit. „Sie!“, schrie sie mit überkippender Stimme, „Sie mit Ihrem Teufelszeug!“ Sie schwenkte die Flasche vor meinen Augen und keifte weiter: „Ich dachte, ich könnte vielleicht den Maulwurf, der seit Wochen meinen Rasen ruiniert, auch damit beseitigen! Aber das Zeug hat die ganze Grünfläche gesprengt! Ich verklage Sie auf Schadensersatz!“ Wütend warf sie mir die Flasche vor die Füße. Sie zerbrach. Die Flüssigkeit sickerte auf die Betonplatten. Ich verstand die Welt nicht mehr. Bisher war doch alles so gut gelaufen! Allerdings hatte ich von „Maulwurfbekämpfung“ in der Gebrauchsanweisung auch nichts gelesen.
Während ich noch über den völlig überzogenen emotionalen Ausbruch meiner Nachbarin nachdachte, zerbröselten durch Dolores’ Einwirkung die Betonplatten unter meinen Füßen. Ich stürzte ins Haus und riss den Beipackzettel von „Schmerz ade“ aus der Verpackung. Vor meinen Augen tanzten die Buchstaben, als ich las: „Zu den riesigen Nebenwirkungen befragen Sie weder Ihren Arzt noch Ihren Apotheker, sondern alarmieren Sie umgehend Umweltschutz, GSG 9, THW, Katastrophenschutz und die nächstgelegene Hubschrauberstaffel …“
Dann umfing mich eine gnädige Ohnmacht.
DAS LÜFTCHEN
Ein Lüftchen hockt auf dem Balkon.
Seit Stunden schon.
Es kam, um sich mal auszuruh’n –
und nun?
Erst streichelt’s eine Tüllgardine,
die aus dem Fenster weht. Doch Flix, die Biene,
kriegt bei der Wackelei ’nen Schreck –
und fliegt weg.
Jetzt pustet’s Lüftchen in ‘ne Flasche.
Das tutet! Und die Plastiktasche?
Die bläht sich nur. Sagt nichts. Bleibt stumm –
schade drum.
Es hebt zwei Blätter hoch empor,
raunt Max, dem Brummer, leis’ ins Ohr,
der fällt darauf von seiner Blüte –
meine Güte!
Ein Spinnennetz wird abgerissen,
eine Geranie umgeschmissen.
Nun schiebt’s ’ne Raupe vor sich her –
was noch mehr?
Nun krabbelt’s Lüftchen aufs Geländer,
kracht polternd auf den Schirmeständer.
Die Ameisen drunter flüstern bang:
„Weltuntergang …?“
Was will das Lüftchen denn noch machen
nach all den vielen dummen Sachen?
Da zischt’s auf Nachbars Würstchengrill,
der heiße Dampf wird plötzlich kühl …
Ein Wölkchen steigt zum Himmel hin:
Da kichert’s drin.
WO IST ADAM?
Der Gerichtssaal war mal wieder wie an den vorausgegangenen Verhandlungstagen zum Bersten voll. Heute sollte die Verteidigung ihr Plädoyer halten. Knisternde Spannung machte sich breit. Würde das Gericht den Ausführungen des Verteidigers folgen?
Es war vier Sekunden vor 10.13 Uhr. Das anwesende Publikum erhob sich. Richter, Schöffen, Staatsanwalt und der Verteidiger des Angeklagten betraten den Gerichtssaal. Die Protokollführerin nahm an der Tastatur ihres PCs Platz. Nachdem sich alle wieder gesetzt hatten, bat der Vorsitzende um Ruhe und forderte den Verteidiger auf, mit seinem Plädoyer zu beginnen.
Dieser in seine schwarze Robe gehüllte seriöse Herr, der bereits aus vielen Verteidigungsschlachten als Sieger hervorgegangen war, stand auf, hüstelte ein wenig und hielt seine Rede aus dem Stegreif, ohne einmal einen Blick auf sein Manuskript zu werfen.
„Hohes Gericht, sehr verehrte Damen und Herren,
die Verteidigung des Angeklagten Adam möchte die Umstände, die zur Verhaftung unseres Mandanten führten, noch einmal zusammenfassen. Dazu muss auf den fraglichen Tag zurückgegriffen werden, an dem das geschah, was dem Angeklagten jetzt zur Last gelegt wird.
Es war in der Frühe des 21. Mai, eines herrlichen Vor-sommertages. Die Sonne strahlte von einem makellos blauen Himmel. Die Luft wehte lau, die Vögel sangen und jubilierten. Auch der Angeklagte hatte allen Grund, mit sich und der Welt zufrieden zu sein. Glücklich und aller Sorgen ledig lebte er – seit er denken konnte – auf dem palmenumsäumten FKK-Gelände ‚Eden‘ der bekannten Immobilienfirma Paradies GmbH & Co. KG.
Idyllisch in die Landschaft eingebettet dehnte sich dieses wunderschöne Fleckchen Erde scheinbar grenzenlos bis an den Horizont. Alles, was kreuchte und fleuchte, wuchs, blühte und gedieh hatte hier seinen Platz, gehegt und gepflegt von der Obersten Naturschutzbehörde und dessen aufmerksamem Landschaftshüter G. Er ließ stets seine Augen über Flora und Fauna wachen und griff ordnend ein, wenn es zum Wohl aller geboten schien.
Der Angeklagte konnte jederzeit seinen Nahrungsbedarf nach Herzenslust aus der Natur decken. Schließlich war er von einem Schlaraffenland umgeben, wie es sich jedes Lebewesen nur in seinen kühnsten Träumen vorzustellen vermag.
Seit er außerdem eine Lebensgefährtin zugesellt bekam, litt er auch nicht mehr unter der quälenden Einsamkeit, die ihn gelegentlich dazu verleitet hatte, ausdauernde Selbstgespräche zu führen. Wie er sich allerdings im Stillen eingestand, war es jetzt schon wieder zeitweise so, dass er sich gelegentlich nach dem Alleinsein sehnte. Seine Gefährtin war sehr mitteilsam und nervte ihn hin und wieder mit ihrem ständigen Geplappere. Aber er tröstete sich damit, dass er nicht alles haben könne und ertrug das pausenlose Geschwätz mannhaft.
An jenem Morgen, auf den die Verteidigung Bezug nimmt, wünschte der Angeklagte jedoch dringend für sich zu sein: Seine Begleiterin hatte ihm während der ganzen letzten Nacht ihre neuesten Apfelverwertungsrezepte aus der Postille ‚Die tüchtige Hausfrau‘ vorgelesen. Der Angeklagte spürte daher jetzt eine bleierne Müdigkeit in den Knochen. Trotzdem wollte er zeitig aufstehen, um sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen, bevor seine Lebensgefährtin aufwachen und ihn mit einer weiteren Tirade überschütten konnte.
Er erhob sich leise von seinem Heulager, dehnte und streckte sich, trat aus der gemeinsamen Laubhütte im FKK-Gelände und genoss die wärmenden Sonnenstrahlen auf seiner Haut. Wieder spürte er das unangenehme Ziehen der Narbe, Überbleibsel einer schlecht verheilten Rippen-OP, nahm sich aber vor, diese inzwischen wohlbekannten Schmerzen zu ignorieren. Er suchte nach Essbarem. Auf dem Küchentisch fand er jedoch nur die abgenagten Kerngehäuse der Apfelmahlzeit vom vergangenen Abend. Seine Gefährtin hatte mal wieder vergessen, sie zu entsorgen. Sorgsam sammelte er die Reste ein und trug sie zur Bio-Tonne, bevor sich Ungeziefer darüber hermachen konnte.
Im Moment gab es einen geringfügigen Engpass bei der wildwachsenden Nahrung im Gelände: Bananen und Birnen reiften noch, Kirschen und Erdbeeren waren verbraucht. Das Angebot an Brom-, Heidel- und Himbeeren war zwar umfangreich, aber sie sättigten einen Mann kaum. Der Angeklagte lechzte nach etwas Herzhaftem. Apfelmus, Bratäpfel und Apfeltorte hingen ihm – vorsichtig gesagt – zum Hals heraus. Ihm war nach Knackigem, richtig Herzhaftem … Immer nur Boskop? Ihm stand der Sinn nach Golden Delicious oder vielleicht auch Braeburn.
Gedankenverloren schritt der Angeklagte über die taubenetzte Wiese zur Pumpe. Sie quietschte ein wenig, als er mit ein paar kräftigen Bewegungen den Schwengel in Bewegung setzte. Sauberes, klares Wasser plätscherte aus dem Rohr. Er trank in gierigen Schlucken das köstliche Nass, um sich anschließend mit hastigen Bewegungen das noch leicht schlaftrunkene Gesicht zu waschen. Jetzt kam er sich schon viel erfrischter vor. Was sollten die trüben Gedanken? Er lächelte in die Sonne. Hatte er nicht bisher gut von den köstlichen Früchten gelebt, die ihm quasi in den Mund wuchsen? Nein, er konnte sich wirklich nicht beklagen! Sie hielten außerdem seinen Körper rank und schlank. Er fühlte sich fit und gesund. Gleich würde er sich und seiner Gefährtin ein paar von den köstlichen Boskops zum Frühstück pflücken, anschließend eine kleine Jogging-Runde einlegen – und schon wäre seine Welt wieder in Ordnung.
Zuvor jedoch musste er einem dringenden Bedürfnis abhelfen. Er blickte hinüber zu den fünf Tannen, die in knapp hundert Metern Abstand zur Schlafhütte standen. Sie verbargen ein kleines blaues Häuschen, das auf seinen Wunsch hin bestellt und am Abend zuvor angeliefert worden war. Noch stand er unbenutzt da, der kleine Rixi-Container der Firma Schrott und Söhne. Der Angeklagte und seine Gefährtin waren übereingekommen, sich zunächst nur an dieser Neuanschaffung visuell zu ergötzen und lieber vorher die Gebrauchsanweisung des Häuschens genau zu studieren, um durch unsachgemäße Handhabung nichts an dieser Investition falsch zu machen.
Dem Angeklagten schien jetzt der richtige Zeitpunkt zur Einweihung gekommen zu sein. Mit forschen Schritten näherte er sich und streckte die Hand aus, um die Tür zu öffnen. Abrupt hielt er in der Bewegung inne, als hätte er versucht, glühende Kohlen anzufassen. Was war denn das? Wollte sich da jemand einen Scherz mit ihm erlauben? Über dem Türgriff glänzte ein kleines Metallschildchen: ‚Einwurf 50 Cent.‘ Was bedeutete das? Was waren „Cent“? Er rüttelte an der Klinke. Sie ließ sich nicht bewegen. Dem Angeklagten lag ein heftiger Fluch auf der Zunge. Gerade noch rechtzeitig schlug er sich erschrocken mit der flachen Hand auf den Mund und schluckte das Unwort herunter. Wurde ihnen doch ein falsches Modell des Häuschens geliefert? Sie hatten doch ausdrücklich auf dem Sparmodell ohne jeglichen Schnickschnack bestanden! Der Landschaftsschützer, der ihnen den Katalog vorlegte, war sehr erfreut gewesen, dass sie aus Kostenersparnisgründen auf das Luxus-Modell ‚Verona‘ mit Münzeinwurf, heizbarer Brille und Handwaschbecken verzichtet hatten!
Der Angeklagte trat von einem Bein auf das andere. Wenn er noch länger wartete, konnte er für nichts garantieren. Er musste einfach hinein – egal wie! Nochmals zog er kräftig an der Klinke, trat empört mit dem Fuß gegen die Tür und … hatte Erfolg! Hastig zog er die Tür hinter sich zu. Zwar konnte er sie jetzt nicht mehr von innen verriegeln, aber er hoffte, dass seine Gefährtin sowieso noch in Morpheus Armen lag und keinerlei weitergehende Pläne hegte.
Neugierig musterte er seine Umgebung. Irgend jemand schien schon vor ihm da gewesen zu sein: Auf dem Boden lag die gestrige Ausgabe des ‚Eden-Express‘. Adam angelte danach. Er wollte nicht unbeschäftigt dasitzen, sondern gleichzeitig über das Geschehen ringsum informiert sein. Seine Augen weiteten sich auf die Letterngröße der Schlagzeile, die ihm aus der Zeitung entgegensprang:
‚Unseriöser Apfelhändler gefasst! S. Ch. Lange entlarvt!‘ Adam fiel fast die Zeitung aus den zitternden Händen. S. Ch. Lange? War ihm dieses Individuum, das ihm gestern entgegen kam, nicht gleich seltsam vorgekommen? Auf der Lichtung mit den Pappeln war es ihm begegnet. Adam war zunächst der Meinung gewesen, einem Mitarbeiter der Firma Schrott und Söhne im blauen Monteursoverall gegenüber zu stehen. Die unbekannte Person hatte aber angegeben, sie sei auf der Suche nach Freiwilligen, die für eine namhafte Gourmet-Zeitschrift eine neue Apfelsorte testeten. Das hatte sich Adam nicht zwei Mal sagen lassen und kräftig in den knackig-saftigen Apfel gebissen, den man ihm anbot. Natürlich spukte in seinem Hinterkopf die Mär von Schneewittchen und der bösen Stiefmutter, aber darüber konnte er wirklich nur lachen! In Adams Kopf jagten sich die Gedanken. Wem war er auf den Leim gegangen? Hatte er sich schuldig gemacht? Am besten stellte er sich gleich dem Landschaftsschützer, um Schlimmeres zu verhindern! Je länger er darüber nachdachte, umso mehr schmerzte ihn nicht nur seine OP-Narbe, er hatte obendrein das Gefühl, das abgebissene Apfelstück stecke noch immer in seinem Hals. Kalter Schweiß stand Adam auf der Stirn. Er musste sofort Eva warnen! Sie war viel zu gutgläubig und würde diesem dubiosen S. Ch. Lange noch viel schneller aufsitzen, wenn dieser mit knackigen Äpfeln hausieren ging.
Hastig erhob er sich. Die Zeitung glitt achtlos von seinen Knien auf den Boden. Er griff zur Klinke … aber die Tür ließ sich nicht öffnen. Er trat dagegen, ließ die Klinke immer und immer wieder auf- und niedersausen … nichts.
Im gleichen Moment hörte er den kräftigen Bass des Landschaftshüters:
‚Wo bist du, Adam?‘ Man suchte schon nach ihm! Wahrscheinlich wollte man ihn vor S. Ch. Lange warnen! Dabei konnte er selbst wertvolle Hinweise geben, die zur Ergreifung des Täters führten!
‚Hier! Hier bin ich!‘, schrie Adam. Im gleichen Augenblick hatte er das Gefühl, dass nicht ein Ton nach außen drang. ‚Hier im Container!‘ Seine Stimme kippte vor Aufregung. Dass seine Vermutung richtig war, bestätigte sich sofort. Denn wieder ertönte die Stimme des Aufsehers:
‚Wo bist du, Adam? Melde dich! Es bleibt dir nicht mehr viel Zeit! Ich zähle!‘ Langsam wurde draußen rückwärts gezählt.
‚Neun, acht, sieben… ‘Der Countdown lief unerbittlich.
Adam zog und zerrte an der Tür. Er schrie nach Eva. Er rief. Er kreischte, bis er heiser war.
‚… zwei … eins … zero …‘ Die Stimme des Aufsehers verstummte. Totenstille.
Schluchzend brach Adam im Innern des Häuschens zusammen. In die atemberaubende Stille ertönte ein leises Knacken. Wie von Geisterhand bewegt öffnete sich die Tür. Er stürzte hinaus, rannte über die Wiese, stolperte, fiel hin, rappelte sich wieder auf und schrie:
‚Hallo! Hier bin ich!! Hört mich denn keiner?‘
Alles blieb still. Niemand antwortete. Kein Vogel sang. Der Wind war verstummt. Kein Lüftchen regte sich.
Die Sonne war verschwunden. Am Himmel verkündeten dicke schwarze Wolken kommendes Unheil …“
Nach dieser emotional vorgetragenen Rede, in die er sich mehr und mehr hineingesteigert hatte, wischte sich der Verteidiger ein paar Schweißtröpfchen von der Oberlippe. Dann fuhr er fort:
„Das Ende der Geschichte, Hohes Gericht, ist bekannt.
Zieht man jedoch alle Umstände in Betracht, die zur Inhaftierung des Angeklagten wegen Ungehorsam und Begünstigung eines Straftäters führten, so ist ihm nach Ansicht der Verteidigung schweres Unrecht zugefügt worden.
1. Er handelte in gutem Glauben, als er sich dem Betrüger S. Ch. Lange, der sich ihm unter Vorspiegelung falscher Tatsachen näherte, bei dem vermeintlichen Apfeltest zur Verfügung stellte. Die Schlechtigkeit der Welt war für den Angeklagten noch ein Fremdwort.
2. Die Firma Schrott und Söhne ist nach Auffassung der Verteidigung strafrechtlich rigoros zu verfolgen. Sie lieferte nicht nur eine falsche, sondern obendrein eine mangelhafte Ausführung des Rixi-Containers, die dem Angeklagten die Möglichkeit nahm, pünktlich zum Appell beim Landschaftshüter zu erscheinen. Dieser wiederum gelangte dadurch zwangsläufig zu der Auffassung, der Angeklagte verstecke sich absichtlich, was jedoch – wie ich darlegte – keineswegs zutraf.
3. Nachdem die Immobilienfirma Paradies GmbH & Co. KG in Konkurs ging, stand auch das FKK-Gelände „Eden“ nicht mehr zur Verfügung. Der Angeklagte und seine Gefährtin waren daher gezwungen, sich umgehend nach einem anderen passenden Lebensraum umzusehen. Nach eigenen Aussagen ziehen beide noch immer als Rucksacktouristen durch die Welt. Ein unstetes Leben, was auf die sozialen Bindungen beider keinen günstigen Einfluss hat.
4. Dem Angeklagten steckt noch immer – wie er schon richtig vermutete – das Stück Apfel des S. Ch. Lange im Hals. Wie mehrere Professoren unabhängig voneinander diagnostizierten, ist dies jedoch inoperabel. Es steht zu befürchten, dass sich die Missbildung von Generation zu Generation weitervererben wird.
5. Auf die ihm gestellte Frage: ‚Wo bist du, Adam?‘, konnte er aus den dargelegten Gründen zur rechten Zeit keine Antwort geben. Die Oberste Naturschutzbehörde bzw. der Landschaftshüter weigern sich bis heute beharrlich, Erklärungsversuche für das Missgeschick unseres Mandanten zur Kenntnis zu nehmen. Im Gegenteil: Unter Aktenzeichen 00/05/Eden/A/E vom 21.05.00 – Beweisstück liegt dem Gericht vor – teilte man ihm lediglich mit, dass seine Gefährtin ab sofort lebenslang beauftragt worden sei, ihn mit allen ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zu überwachen, um sein Auffinden jederzeit zu gewährleisten. Allein das, Hohes Gericht, ist nach Ansicht der Verteidigung Strafe genug, Von einer weitergehenden Verurteilung wegen anscheinender Insubordination gegenüber einer Behörde sollte daher abgesehen werden!“
Mit deutlichen Anzeichen der Erschöpfung kehrte der Verteidiger zu seinem Platz zurück und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Im Gerichtssaal war es jetzt so mucksmäuschenstill, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören können. Alle schienen beeindruckt.
„Das Gericht zieht sich zur Beratung zurück.“ Die Worte des Vorsitzenden zerschnitten die Ruhe. Stühle rückten. Schöffen, und Richter und Staatsanwalt begaben sich in den Nebenraum.
Das endgültige Urteil steht noch aus. Nach dem hervorragenden Plädoyer der Verteidigung ist jedoch damit zu rechnen, dass deren Antrag stattgegeben wird. Bleibt der Angeklagte lebenslang unter Aufsicht seiner Gefährtin, so ist gewährleistet, dass er jederzeit auffindbar ist. Denn dafür haben Frauen einen sechsten Sinn.
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