Totkehlchen

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Из серии: Kommissar Modrich #3
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8

Das Schlimmste, das Johannes Baldauf jemals erlebt hatte, war der Christopher Street Day vor zwei Jahren in Berlin. Er war kurz zuvor mit seiner Frau und seinem heranwachsenden Sohn in die Hauptstadt gezogen. Das Sanitärunternehmen, für das Baldauf fast zwei Jahrzehnte im ostwestfälischen Oelde gearbeitet hatte, war von der internationalen Konkurrenz geschluckt worden. Fast die Hälfte der 250 Angestellten stand auf der Straße. Baldauf hatte das große Glück gehabt, als einer der Ersten gefragt worden zu sein, mit nach Berlin zu kommen, wo der neue Eigentümer seinen Stammsitz hatte. Wobei das mit dem Glück so eine Sache war. Johannes Baldauf fielen Veränderungen schwer. Er war in seinem fast fünfzig Jahre langen Leben nie gerne gereist und auch nur einmal über die deutsche Landesgrenze hinausgekommen. Kurz nach dem Mauerfall hatte er mit zwei Freunden eine dreiwöchige Reise nach Budapest gemacht. Noch heute erzählte er bei jedem Anlass, wie unfassbar günstig Speisen und Getränke damals in der ungarischen Hauptstadt waren und wie sehr sich die Zeiten und Sitten seither geändert hätten. Die wenigen Freunde, die Baldauf und seine Frau Martina noch besuchten, waren aus der alten Heimat Westfalen. In Berlin hatten die Baldaufs keine engen Kontakte knüpfen können. Oder wollen. Der Besuch des Christopher Street Days machte Johannes Baldauf diese Stadt noch suspekter als zuvor.

„Überall Multikulti, jeder scheint hier mit jedem zu vögeln“, sagte er und verzog dabei angewidert sein Gesicht, während sein Sohn Frank dem bunten Treiben des CSD aufmerksam folgte. Ein Transvestit auf Plateausohlen näherte sich Frank mit riesigen Schritten und blieb unmittelbar vor ihm stehen. Franks Gesicht steckte plötzlich in einem künstlichen Dekolleté, er wurde von zwei kräftigen Armen gepackt und hochgehoben. Der Kuss, den er bekam, war ein überaus intimer.

In diesem Augenblick brannten bei Johannes Baldauf alle Sicherungen durch. Das wilde Kriegsgeschrei, das er anstimmte, ließ die umstehenden Besucher des CSD wie auf Kommando herumfahren. Sie sahen einen völlig entfesselten Mann, der erst einen Mülleimer aus seiner Verankerung riss, um dann mit demselben auf den Transvestiten und seinen bedauernswerten Sohn einzuschlagen. Körperlich eigentlich hoffnungslos unterlegen, war es die unbändige Wut, die Johannes Baldauf an diesem Tag um ein Haar zu einem Mörder werden ließ. Zwei der unzähligen Schläge hatten den Transvestiten schwer am Kopf getroffen, sodass dieser erst taumelte und dann zu Boden sank. Frank Baldauf lag blutüberströmt auf dem Bürgersteig und hielt schützend die Hände vor sein Gesicht. Wären dem Transvestiten nicht zwei couragierte CSD-Besucher zur Hilfe geeilt, wer weiß, was noch alles geschehen wäre. Mit vereinten Kräften wurde Johannes Baldauf niedergerungen und so lange festgehalten, bis die Polizei vor Ort war und ihn in Gewahrsam nehmen konnte.

Tatsächlich musste man Baldauf bereits zwei Stunden später wieder laufen lassen, weil der Transvestit im allgemeinen Chaos verschwunden war und sein Sohn vor lauter Angst keine Aussage machen wollte. Die Zeugen, die Baldauf schlussendlich überwältigt hatten, sagten lediglich aus, dass der Transvestit und Baldauf offenbar in eine Schlägerei verwickelt waren und sich die Verletzungen vermutlich daraus ergeben hätten. Baldauf selbst hatte auf Notwehr abgestellt und zudem betont, dass er seinen Sohn in Gefahr sah. Zu Hause angekommen, nahm Baldauf sich Frank noch mal vor.

„Um deinen Vater zu verteidigen, machst du dein Maul wohl nicht auf? Aber wehe, es kommt so eine Tucke daher und will dir ihre Zunge bis zum Anschlag in den Hals stecken! Das scheint genau dein Ding zu sein, richtig? Ich weiß nicht, was bei dir schiefgelaufen ist, aber ich komme mehr und mehr zu dem Entschluss, dass es damals eine Fehlentscheidung war, dich nicht abzutreiben. Hätte ich mich mal durchgesetzt.“

Frank Baldauf schnappte nach Luft und sah seinen Vater ungläubig an.

„Ja, du hast schon richtig gehört. Du warst ein Unfall. Eigentlich hättest du von einer Gummiwand abprallen und dann im Müll landen sollen. Das Scheißding ist aber geplatzt und wir hatten den Salat. Na ja, kein Wunder, dass du dich nun in eine solche Richtung entwickelt hast.“ Baldauf zog seine Spucke hoch und spie Frank vor die Füße. „Von heute an bist du nicht länger mein Sohn. Geh deinen Weg, lass dich meinetwegen von jedem Dahergelaufenen begrapschen. Ist mir ab sofort wurscht. Was deine Mutter daraus macht, geht mir ebenfalls am Arsch vorbei.“

Martina Baldauf arbeitete seit knapp sechs Monaten in einem Berliner Kinderkrankenhaus. So gelang es ihr wenigstens während der Schichten, dem täglichen Wahnsinn, der sich zu Hause abspielte, zu entfliehen. Sie hasste ihren Mann. Mit jedem Tag wurde es schlimmer. Viel länger würde sie es mit ihm nicht aushalten. Frank war nun alt genug und konnte auf eigenen Beinen stehen. Zur Not würde sie eine Zeit lang mit ihrem Sohn zusammenleben. Irgendwo weit weg von diesem Scheusal. Warum wurden solche Menschen niemals zur Rechenschaft gezogen?

Als Alexej Sobukov Monate später die Wohnungsklingel der Familie Baldauf betätigte, hatte Martina Baldauf Frühschicht.

9

Freds Albtraum riss Guddi aus ihren Träumen. Seit einer gefühlten Ewigkeit hatte sie nicht mehr so tief und fest schlafen können. Die Ärzte hatten ihr gestern noch mal Mut gemacht, ihr den Eingriff sehr präzise erklärt. Es konnte eigentlich nichts schiefgehen. Im Vergleich zu den beiden ersten OPs, bei denen die Ärzte gebetsmühlenartig auf das hohe Risiko hingewiesen hatten, schien es jetzt fast so, als wollte das gesamte Ärzteteam jegliches Restrisiko allein durch positive Gedanken von vornherein ausschließen. ‚Vielleicht hilft das ja tatsächlich‘, dachte Guddi, als sie sich ins Bett legte und nach kurzer Zeit eingeschlafen war, obwohl Fred sie noch länger mit Fragen zu seinem Zwillingsbruder löcherte. Fred hatte, im Unterschied zu Leo, keine körperlichen Schäden davongetragen. Allerdings war er seit den schrecklichen Stunden in der Gewalt der Entführer trotzdem ein anderer Mensch geworden und benötigte die Hilfe eines Psychotherapeuten. Er kam weder mit der Tatsache klar, dass sein Bruder plötzlich nicht mehr mit ihm herumtollen konnte, noch schaffte er es, die schrecklichen Bilder jener Stunden in der Lagerhalle aus dem Kopf zu bekommen. Den Moment, als sich der letzte Schuss löste und seinen Bruder traf. Die Sekunden, als das Leben aus Leo wich. Die panischen Schreie seines Vaters, der mit ansehen musste, wie ein völlig entfesselter Kurt Heppner seinen Sohn zum Krüppel machte.

Aber auch Fred hatte mitbekommen, dass die Ärzte, die sich um Leo kümmerten, diesmal sehr viel optimistischer waren als bei den vorangegangenen Operationen. Er wünschte sich nichts mehr, als endlich wieder mit Leo im Garten Fußball zu spielen oder mit dem Mountainbike loszuradeln, bis ihnen die Zunge vor Durst und Erschöpfung fast bis zum Boden hing. Aber natürlich musste er auch jedes Mal, wenn er seinen Bruder im Krankenhaus besuchte – und das war beinahe täglich – der Realität ins Auge blicken. Und diese war leider grausam. Leo Faltermeyer lag in einem Spezialbett und konnte an einem guten Tag lediglich seinen Kopf und die Finger seiner rechten Hand bewegen. Dieser Anblick machte Fred jedes Mal fertig. Sobald sie das Krankenhaus verlassen hatten, weinte er hemmungslos in den Armen seiner Mutter und wollte für den Rest des Tages von allen nur noch in Ruhe gelassen werden.

‚Morgen wird alles gut‘, hatte er sich vor dem Zubettgehen geschworen.

Jetzt saß er, schweißgebadet und mit weit aufgerissenen Augen, neben seiner Mutter im Bett und gab einen lang gezogenen, pfeifenden Ton von sich. Guddi fasste Freds Arm. Dabei merkte sie, dass ihr Sohn offenbar noch immer schlief. Er nahm sie jedenfalls nicht wahr, sondern starrte vor sich hin und ließ den pfeifenden Ton zu einem dunklen Stöhnen anschwellen. Jetzt nahm Guddi Fred in die Arme und flüsterte ihm beruhigende Worte ins Ohr. Es war nichts mit Zusammenhang, ihr fiel aufgrund der eigenen, bleiernen Müdigkeit nichts wirklich Sinnvolles ein.

„Mami“, begann Fred schließlich leise, „ich habe geträumt, dass Leo wieder laufen kann!“ Guddi musste sich zusammenreißen. Sie hatte mit solch einer Reaktion ihres Sohnes rechnen müssen. Das alles war, wie der Therapeut mehrfach betont hatte, ein entscheidender Schritt zur Verarbeitung seiner außergewöhnlichen persönlichen Situation. Jetzt aber zog es ihr doch den Boden unter den Füßen weg. Sie kämpfte mit den Tränen, wollte für Fred aber Stärke zeigen. Ob das so richtig war, wusste sie nicht. Sie tat es eher intuitiv.

„Das ist doch toll, Fred. Und ich bin mir sicher, dass, wenn wir beide ganz fest daran glauben, dein Traum auch in Erfüllung geht!“

Fred schluchzte nun laut und bekam den folgenden Satz nur schwer über die Lippen.

„Es waren Maschinenbeine, Mama. Leo hatte Maschinenbeine!“

Guddi wollte losschreien, wusste aber, dass nichts anderes die Situation besser beruhigen würde als eine zärtliche Umarmung. Sie hielt Fred ganz fest und wiegte ihn hin und her, so lange, bis er sich tatsächlich beruhigt hatte und wieder eingeschlafen war. Maschinenbeine. Mit diesem Bild im Kopf war es ihr unmöglich, noch einmal Schlaf zu finden. Gudrun Faltermeyer war eine überaus starke Frau, die nun allerdings vor ihrer bislang härtesten Prüfung stand.

10

Dass die Tiere im Dortmunder Zoo an diesem Morgen unruhiger waren als sonst, hatte weniger mit den zahlreichen seltsamen Gestalten in Uniformen und weißen Ganzkörperoveralls zu tun, sondern vielmehr mit der Tatsache, dass der Zoo seit dem Fund der Leiche Daniel Lehmeiers gesperrt worden war und die Tierpfleger ihren Schützlingen kein Futter bringen konnten.

 

Modrich und Frobisch hatten von den Kollegen der Spurensicherung ebenfalls Overalls in Empfang genommen und umgehend übergezogen, während Thea Brammenkemper in einigem Abstand vor dem Gehege der Giraffen stand und nervös an einer Filterzigarette zog.

Doktor Klaus Gahmen, Chef der Spurensicherung, beugte sich gerade über den abgetrennten Kopf des Opfers, während Modrich und Frobisch sich entsetzt dem Rest der Leiche näherten. „Moin Peer“, sagte Gahmen, als er den Kommissar erblickte.

„Hi Klaus“, erwiderte Modrich. Als er Gahmens fragenden Blick in Richtung Frobisch bemerkte, fuhr er fort.

„Stimmt ja. Du warst vorhin gar nicht dabei. Darf ich dir Gregor Frobisch, unseren neuen Polizeichef vorstellen? Herr Frobisch löst Kurt ab, der … Na ja, du weißt das ja alles.“

„Es ist mir nicht entgangen“, nickte Gahmen und reichte Frobisch seine Hand.

„Auf gute Zusammenarbeit. Oh, ich hoffe, Sie finden es nicht unhöflich, dass ich den Handschuh nicht abstreife. Keine Sorge, ich habe die Leiche bislang nicht berührt.“

Frobisch schienen Gahmens Worte nicht sonderlich zu interessieren. Stattdessen gab er ihm nur flüchtig die Hand, um sich sogleich zum Kopf der Leiche herunterzubeugen.

„Da scheint jemand sehr wütend auf den Zoodirektor gewesen zu sein“, nuschelte Frobisch. Gahmen sah zu Modrich hinüber, der ratlos mit den Schultern zuckte. „Wut war sicher im Spiel“, bestätigte Gahmen, „darüber hinaus aber auch noch Kraft, Technik und eine gewisse Präzision.“

Modrich war froh, dass Klaus Gahmen wieder zurück im Team war. Er schätzte den Chef der Spurensicherung für seine schnellen und präzisen Analysen. Gahmen war fast zwei Jahre wegen eines schweren Herzinfarktes dienstunfähig geschrieben und konnte nie vollwertig ersetzt werden. Nun, nach einem lebensrettenden, fast sechsstündigen operativen Eingriff, war er wieder im Vollbesitz seiner Kräfte und lieferte den Ermittlern bisweilen entscheidende Hinweise auf den Tathergang und ein mögliches Motiv. Mit Guddi konnte Modrich vorerst nicht rechnen, deshalb war es umso wichtiger, dass er Gahmen wieder an seiner Seite wusste. ‚Mal sehen, was der Neue so draufhat‘, dachte Peer und blickte zu Frobisch, der immer noch den Kopf des Opfers inspizierte.

„Chef, was ist denn so interessant an dem Kopf?“, fragte Modrich. „Oder hoffen Sie, dass er noch eine Aussage macht?“

Frobisch ignorierte Modrichs Anmerkung und beugte sich noch ein wenig tiefer herunter. Gahmen sah Peer abermals irritiert an und wollte gerade etwas sagen, als Frobisch herumschnellte und die beiden triumphierend anlächelte. „Der Täter ist offenbar Raucher. Sehen Sie hier.“

Gahmen und Modrich hockten sich nun neben Frobisch und begutachteten den Kopf. Auf der linken Wange war eine Brandwunde zu sehen, die die Größe eines Centstückes hatte. „Offenbar war auch eine Menge Hass und Verachtung im Spiel“, ergänzte Frobisch. Gahmen nickte. „Das sieht in der Tat aus, als hätte der Täter nach der Enthauptung in Ruhe zu Ende geraucht und den Glimmstängel im Gesicht seines Opfers ausgedrückt.“

Modrich erhob sich und resümierte. „Dann müssen wir ja nur noch die Kippe finden und die DNA analysieren. Und schwupps, haben wir den Täter.“

Gahmen wiegelte ab. „Gut möglich, Peer. Aber so leicht wird das dann eventuell doch nicht. Die Tat scheint nicht von einem Amateur begangen worden zu sein. Ein Hieb mit einer solchen Präzision kann nur von jemandem ausgeführt werden, der Erfahrung im Umgang mit Schwertern oder ähnlichen Waffen hat. Der Täter wusste exakt, wie er sein Werkzeug zu führen hatte. Die eigentliche Tat hat vermutlich nur wenige Sekunden gedauert. Das war kein Anfänger, und es würde mich sehr erstaunen, wenn der Typ so blöd ist und einfach seine Kippe liegen lässt. Es sei denn, er will, dass wir ihm auf die Schliche kommen.“

Frobisch nickte zustimmend. „Ich sehe das ganz ähnlich. Trotzdem sollten wir hier alles absuchen. Letzten Endes müssen wir herausfinden, ob die Brandwunde im Gesicht des Opfers tatsächlich von der Zigarette des Täters stammt. Dafür müssen wir sie aber erst einmal finden. Und wenn er uns wirklich auf seine Fährte locken will, sollten wir diese Einladung, höflich wie wir nun einmal sind, nicht ausschlagen.“

„Vielleicht ist es aber auch weniger eine Einladung, sondern vielmehr eine Falle!“, konterte Peer und dachte an den ‚Erlöser‘-Fall, bei dem Guddi und er sich leichtsinnig in akute Lebensgefahr gebracht hatten.

In diesem Moment bekam Peer eine SMS. Verdammt, er musste sich endlich angewöhnen, das Ding stumm zu schalten, solange er im Einsatz war. Es war Guddi.

‚Bin jetzt im Krankenhaus. Geht gleich los. Drück uns die Daumen. Melde dich, wenn du kannst!‘

„Kommissar Modrich, geht es Ihnen nicht gut?“, fragte Frobisch besorgt.

Peer fuhr sich nervös durchs Haar und schüttelte hektisch den Kopf. Es machte den Eindruck, als wollte er dunkle Gedanken loswerden.

„Alles gut soweit“, erwiderte er, „ich müsste nur heute Nachmittag dringend nach Aachen. Der Sohn meiner Kollegin wird gerade ein weiteres Mal operiert.“

Frobisch schien keinen Plan zu haben, wovon Peer sprach.

„Gudrun Faltermeyer. Sie ist seit unserem letzten Fall beurlaubt. Sie wissen nichts darüber, richtig?“

Frobisch schüttelte den Kopf. „Um ehrlich zu sein, hatte ich genug eigene Baustellen, um mich eingehend in die Vitae meiner neuen Mitarbeiter einzulesen. Frau Faltermeyer ist für mich noch ein unbeschriebenes Blatt. Im Vergleich zu Ihnen, Modrich!“

„Dann sollte ich Ihnen das beizeiten alles erzählen. Ich finde, Sie sollten wissen, wer zu Ihrem Team gehört und warum dieses Team im Moment nicht vollzählig ist.“

Frobisch sah Peer zustimmend an. „Sie haben recht. Was halten Sie davon, wenn ich Sie heute Abend abhole und wir in die Kneipe Ihres Vertrauens gehen? Was ich so gehört habe, sind Sie da ein Mann vom Fach.“ Frobisch huschte ein Lächeln übers Gesicht. „Und manchmal auch fürs Grobe!“, ergänzte er.

Peer runzelte die Stirn. Sein Ruf eilte ihm wieder einmal voraus. „Halb acht würde bei mir passen. Meine Adresse haben Sie sicher, oder?“

Frobisch nickte. „Was halten Sie davon, wenn ich hier für Sie weitermache und Sie jetzt schon zu Ihrer Kollegin fahren?“

Peer schaute einigermaßen verdattert.

„Ich meine das durchaus ernst, kann es mir aber auch gern wieder anders überlegen. Also: Sehen Sie zu, dass Sie hier wegkommen. Bis heute Abend.“

11

„Es gibt vermutlich nichts Schlimmeres für einen Jungen als das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Wenn dein Vater dich spüren lässt, dass du für ihn ein Versager bist, ist es so, als würde jemand den Stecker bei dir ziehen.“

Johannes Baldauf wachte langsam auf. Die Betäubung ließ ihn nur ganz allmählich das wahrnehmen, was um ihn herum passierte. Sein Nacken schmerzte höllisch, was offenbar daran lag, dass er rücklings auf dem Ehebett lag und sein Kopf am Fußende des Bettes herabhing. Seine Erinnerungen an die letzten Stunden waren mehr oder minder ausgelöscht. Jemand hatte an der Wohnungstür geklingelt. Das war’s, was Baldauf noch wusste.

Die Schmerzen hielten ihn nur für eine kurze Zeit davon ab, den Kopf zu heben. Schließlich wollte er wissen, woher die Stimme kam. Vor allem aber musste er möglichst schnell herausfinden, warum Kopf und Hals die einzigen Teile seines Körpers waren, die er spürte.

Musik erklang. Jemand hatte wohl das Radio eingeschaltet, das im Flur auf der Anrichte stand. Es lief derselbe Sender, den seine Frau immer hörte, wenn sie von der Arbeit kam und entspannen wollte. Deutsche Schlager hatten es Martina Baldauf angetan. Ihre Helden waren Karel Gott, Howard Carpendale und Roland Kaiser. Ihren Hochzeitstanz hatten Johannes und Martina Baldauf zu Ti Amo hingelegt. Baldauf hatte mit Schlagern selbst nichts am Hut, kannte aber durch Martinas Faible fast jeden Song aus dem Effeff.

Rocky von Frank Farian war einer der vielen Schlagerklassiker, die er abgrundtief verabscheute. Warum lief dieser Schund ausgerechnet jetzt? Baldauf wollte protestierend die Hand heben, musste aber sogleich feststellen, dass sie ihm nicht gehorchte, sondern schlaff auf dem Bett liegen blieb.

„Sie sagte: Rocky, ich hab noch nie ein Kind bekommen. Ich will es dir gern geben!“

Irgendjemand sang den Refrain mehr schlecht als recht mit. Ein scheußlicher osteuropäischer Akzent kam hinzu. ‚So muss es klingen, wenn Klitschko singt‘, dachte er.

Baldauf drehte seinen Kopf in alle Richtungen, konnte aber niemanden sehen.

„Ich sagte: Kopf hoch, Baby, lehn dich an mich. Es wird schon irgendwie gehen!“

Ein Mann tanzte durch den Flur und spielte dabei Luftgitarre.

„Sie sagte: Rocky, ich habe solche Angst zu sterben. Ich weiß nicht, was da noch kommt!“ Bei diesem Satz tanzte er ins Schlafzimmer und kniete sich hinter Baldaufs Kopf auf den Teppich.

„Niemand weiß, was da noch kommt, oder?“

Panik erfasste Johannes Baldauf. Über ihm schwebte bedrohlich das irre Gesicht eines Mannes, den er noch nie zuvor gesehen hatte und der ihm offenbar mithilfe eines Schlagertextes etwas Wichtiges mitteilen wollte.

„Was wollen Sie?“, krächzte Baldauf, „Was haben Sie mit mir gemacht? Ich spüre meinen Körper nicht mehr.“

Das Gesicht näherte sich Baldauf bis auf wenige Milli­meter.

„Gibt es einen neuen Morgen in einer anderen Welt?“

Alexej Sobukov griff hinter sich und zog einen schwarzen Koffer zu sich heran. Baldauf erkannte aus den Augenwinkeln, dass es sich dabei um einen Arztkoffer handelte.

„Was soll das werden? Machen Sie mich sofort los oder ich …!“

Sobukov stand abrupt auf und tanzte zu den letzten Takten von Rocky. Mit einer eleganten Drehung landete er wieder auf dem Teppichboden, diesmal jedoch fixierten beide Knie Baldaufs Kopf. Triumphierend hob er die linke Hand.

„Oder du wirst was? Jungchen, du hast keine Ahnung, mit wem du’s hier zu tun hast. Ist aber auch überhaupt nicht kriegsentscheidend. Möchtest du eigentlich gar nicht wissen, warum ich mir ausgerechnet dich ausgesucht habe?“

Baldauf versuchte zu nicken, schaffte es aber nicht.

„Ich werde es dir erklären. Aber zuerst kommt die Arbeit, dann das Vergnügen.“

Baldauf hatte keinerlei Optionen. Er lag da und konnte nur hoffen, dass dieser Irre ihn nicht töten würde. Und was zum Geier hatte der Typ da zwischen seinen Fingern? Sobukovs Hand schnellte vor und befestigte eine Wäscheklammer auf Baldaufs Nase. Verzweifelt versuchte er, weiterhin normal durch die Nase zu atmen, aber es gelang ihm nicht.

„Bitte den Mund jetzt ganz weit öffnen!“, säuselte Sobukov und griff in seinen Koffer. Mit einer winzigen LED-Taschenlampe leuchtete Sobukov in Baldaufs Mund.

„Ui, das sieht aber gar nicht gut aus. Bitte notieren Sie: Backenzahn unten rechts kariös, Extraktion unvermeidlich. Von Zahnpflege hast du die letzten Jahre nicht so viel gehalten, nicht wahr, Jungchen?“

Sobukov blickte sich um und schüttelte den Kopf.

„Na so etwas. Meine Assistentin hat wohl bereits ihre Mittagspause angetreten. Aber was soll’s: Den einen Zahn kann ich mir auch selber merken. Leider sind mir die Betäubungsmittel ausgegangen, aber ich denke, so ein kleines bisschen Zahnweh wirst du verkraften können. Oder, Jungchen?“

Baldauf wollte losschreien, heraus kam aber nur ein heiseres, gutturales Röcheln. Als Nächstes musste er den Kopf irgendwie aus der Umklammerung bekommen, um zu verhindern, dass der Wahnsinnige weiter in seinem Mund rumwerkeln konnte. Sobukov schaute sich die zwecklosen Versuche seines Opfers kurz an, um dann blitzschnell einen trockenen Handkantenschlag auf das Jochbein seines Opfers zu platzieren. Baldauf spürte, wie ihm der Schmerz die Sinne zu rauben drohte. Sobukov drehte seinen Kopf, als wollte er genau beobachten, wie lange es wohl dauern würde, bis sein Opfer vor Schmerzen losschreien würde. Aber Baldauf tat ihm diesen Gefallen nicht.

„Der Radiosender meint es heute besonders gut mit uns“, sprach Sobukov plötzlich mit heiterer Stimme. „Spitz deine Ohren doch mal, Jungchen, was sie gerade spielen.“

Baldauf hörte im Hintergrund den Refrain von Abschied ist ein scharfes Schwert und brach in hysterisches Lachen aus. Das alles musste ein schlechter Traum sein. Vermutlich würde er gleich daraus erwachen und bereits den frischen Kaffee aus der Küche riechen können, den ihm Martina, sofern sie nicht bei der Frühschicht war, jeden Morgen zubereitete. Ein weiterer kräftiger Schlag seines Peinigers ließ ihn abrupt verstummen.

 

„Jungchen, das ist genau dein Problem. Du hast einfach keinen Respekt. Weder vor der Kunst noch vor deinem Sohn. Und warum ist das so? Weil du schlichtweg ein dummer Mensch bist!“

Ehe sich Baldauf fragen konnte, was sein Sohn Frank mit alldem hier zu tun hatte, griff Sobukov erneut hinter sich und reckte nun beide Hände in die Luft.

„Du hast die Wahl: Bohrer oder Zange? Langsam oder schnell? Schmerzhaft oder sehr schmerzhaft? Hm, was meinst du?“

Nach einer kurzen Pause, in der Baldauf nur noch panisch die Augen aufreißen konnte, fuhr Sobukov fort.

„Oh, ich sehe schon: Du möchtest, dass ich das entscheide. Nun gut, wenn dem so ist, dann machen wir uns mal flott ans Werk!“

Das Geräusch des Bohrers mischte sich mit dem letzten Refrain, den Roger Whittaker mit samtweicher Stimme vortrug.

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