Tauben am Fenster und andere Geschichten

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DIE GRÜNE WOLKE

Fuß vor Fuß, irgendwo entlang, irgendwas entgegen. Mein Weg?

Es ist anders gekommen.

Ich werde meine Geschichte erzählen, die Geschichte meines Lebensweges. Der Weg war steil. Senkrechtstart, sagten meine Eltern nicht ohne Stolz. Sie behaupteten, daran nicht beteiligt gewesen zu sein, sie sagten, ich sei ohne sie gegangen, sie seien unten geblieben, am Beginn des steilen Weges, sahen mich hinaufsteigen. Es ist nicht leicht für sie gewesen, mich allein gehen zu lassen, mich höher und höher steigen zu sehen, werden sie später behaupten. Es ist unmöglich gewesen, mich zurückzuhalten, sagten sie später.

Mag sein.

Der Probenraum des Jugendzentrums im Dorf stand uns donnerstags zur Verfügung. Wattiert gepolsterte Wände, das Schlagzeug stand in der Ecke des Raumes, wir durften es benutzen. Hark benutzte es, Max und ich brachten unsere Instrumente mit, Max seinen Bass, ich meine Gitarre. Ich spielte das Solo. Wir probten. Manchmal sang ich. Und irgendwann traten wir auf. Das fühlte sich gut an, wir waren einen Schritt weiter. Es war die Zeit, in der wir uns auf dem Nachhauseweg versicherten, dass wir den Wag gemeinsam gehen werden. Auf alle Zeiten gemeinsam.

Dann kam mein Durchbruch. Hark und Max blieben zurück. Manchmal, wenn ich an die beiden dachte, Tagträume mir blasse Erinnerungen brachten, sah ich sie hinter einer Schranke stehen. Hark winkte verhalten, seinen Drumstick hielt er in der winkenden Hand, nur einen Stick. Hatte er den anderen verloren auf seinem Weg? Kurz erreichte mich die Frage, für die ich keine Antwort suchte.

Mein steiler Weg, mein Durchbruch. Es war der eine Song, der mir zuflog. Zuerst mir zuflog und dann hinausflog. CDs verkauften sich, jeder kannte das Lied und meine Stimme. Senkrechtstart, sagten meine Eltern nicht ohne Stolz. Damals konnte ich sie noch hören. Wie sie es sagten, nicht ohne Stolz. Schritt für Schritt weiter nach oben. Ein weiteres Lied, noch eines, sie kamen geflogen.

Und dann nicht mehr. Plötzlich waren sie fort, meine Lieder. Ich war oben, im Zenith weit nach oben gegangen, meine Füße berührten den Boden nicht mehr. Schritt für Schritt, Fuß vor Fuß. So wäre es gut gewesen. Aber es kam anders. Ich flog.

„Nimm das hier“, sagte jemand, „nimm das hier, Bowie!“ So hieß ich im Zenith: Bowie. Wie der große Bowie. Seinen Namen gaben sie mir. „Nimm das hier, Bowie!“, sagten sie. Und ich nahm, ich flog, die Wolken dicht, neongrün und dicht. Selten kamen die Songs. „Nimm mehr, Bowie!“ Und ich nahm. Die Wolken summten, das Licht grell, um mich herum Geräusch, Lärm, gleißendes Licht. Keine Lieder. Mein Mund voll grüner Wolke, ohne Stimme, ohne Lied.

Schritt für Schritt, irgendwo hin, irgendwas entgegen. Hinein ins Licht, ins gleißende Licht, ins schreiende Neongrün.

„Nimm mehr“, sagte ich zu Bowie. Und ich nahm.

HIMBEEREN, SOMMER 1947

Sie sind reif, die Himbeeren am Tannenberg. Eine wichtige Nachricht für das Dorf. Es wird Marmelade geben für den kommenden Winter, die Kinder werden rote Münder haben, die Mütter werden wenig davon essen, eine Messerspitze voll vielleicht für die Scheibe Brot. Die Kinder werden vom Brot abbeißen und lachen über den Abdruck ihrer Zähne im Brot und in der Marmelade, die kleineren über ihre Zahnlücken. Und die Mütter werden froh sein über den stumpfen Abdruck der kleinen Gaumen. Das Kind wird groß, die schwerste Zeit ist überwunden, werden die Mütter denken und die Kinder lachen.

Sie hat ihr Mädchen bei der Nachbarin gelassen. Der ganze Tag oben auf dem Tannenberg bei der Hitze wäre zu viel für das kleine Kind. Der Nachbarin wird sie später Himbeeren abgeben.

Sie spürt eine starke, frohe Zufriedenheit. In ihren Beutel legt sie eine Flasche Wasser, sie wird davon trinken am Tage. Die Milchkanne mit dem Deckel wird sie in der Hand tragen. Sie ist zu groß für den Beutel.

Die Himbeeren werden die Kanne füllen zunächst, während des Tages werden die Beeren zusammensacken, sie wird nicht mehr voll sein, wenn sie wieder zurück sein wird.

Am Abend, wenn das Kind schläft, wird sie die Marmelade einkochen, etwas Zucker ist noch da, in den Läden gibt es keinen mehr. Während der Zeit der reifenden Früchte sind die Lager schnell leer gekauft.

Schon am frühen Morgen ist dieser Tag heiß, die Straße durch das Dorf staubig. Sie fühlt sich getragen von der Freude auf die Beeren, auf die Gesellschaft der anderen Frauen. Sie weiß, es werden viele oben am Tannenberg sein und die Fahrt dorthin fröhlich. Ihre Beine werden zerkratzt sein, wenn sie zurück kommt. Die kleinen Hände ihres Mädchens werden über die Wunden streichen.

Am Bahnübergang steht der Pferdewagen. Frauen sitzen auf dem Leiterwagen, die seitlichen Bänke sind besetzt, nur hinten auf den Bodenbrettern ist noch Platz. Sie will mitfahren, es ist weit zum Tannenberg. Sie winkt, läuft auf den Wagen zu, ihren Rock rafft sie hoch, hält den Stoff zusammen mit der Kanne in der Hand, der Bauer soll sie mitnehmen. Sie sieht, wie er nach hinten blickt, ihren nackten Beinen entgegen. Sie erkennt diesen Blick nicht, sie sieht, wie er die Bremse des Leiterwagens langsam löst. Und sie läuft eilig dem Wagen entgegen.

Der Deckel der Kanne scheppert leise, als sie den Stoff ihres Rockes wieder fallen lässt.

Frauenhände helfen ihr hoch, ein kleiner Tritt hinten am Leiterwagen nimmt sie auf. Jetzt sitzt sie mit den anderen Frauen auf dem Wagen, die Pferde ziehen an, es ruckt. Ihre Beine schaukeln im Takt der Sandlöcher. Die Frauen kennen sich, sie kennen sich von den langen Warteschlangen vor den Läden, von den Spazierwegen mit den Kindern, sie schwatzen miteinander. Oben auf dem Berg wird es anders sein, die Kannen sind groß und der Winter lang.

Doch sie fühlt diesen Moment, er ist Freude, ein Tag ohne Fürsorge, ein Sonnentag nur für sie allein und ein Tag der Erwartung auf Beeren, auf die Düfte des Tannenberges. Sie verliert sich in diesen Tag, sie beginnt zu singen. Einige Frauen singen zaghaft mit. Ihre Stimmen sind klein, aber sie singen. Am Straßenrand werden Menschen aufmerksam. Wer singt in dieser Zeit? Sie sehen staunend auf die Frauen, sie sehen sie winken vom Wagen herunter, lachen, und sie sehen die schönen schaukelnden Beine der jungen Frau.

Am Berg ist es anders, es wird stiller auf dem Wagen, je weiter das Pferd den Wagen hinaufzieht. Schließlich verstummt das gemeinsame Lied. Das Lauern beginnt. Wer wird wohin gehen? Wo scheint die Sonne am längsten, wo werden die Beeren am süßesten sein?

Sie kennt eine Stelle, sie liegt weiter oben am Berg. Es ist wichtig, dass die anderen ihren Weg nicht erkennen, sie sucht umher, will den Eindruck erwecken, nicht zu wissen, wo sie pflücken wird. Der Bauer auf dem Wagen wartet. Sie auch, sie wartet, bis die anderen Frauen sich zerstreut haben. Seinen Blick spürt sie im Rücken. Auch er soll nicht wissen, wohin sie geht. Dann hört sie die Peitsche des Bauern in der Luft schnalzen, hört das Pferd schnaufend antworten, dann knirschen die Räder des Leiterwagens auf dem sandigen Weg und sie glaubt das Fuhrwerk auf dem Weg zurück ins Dorf.

Jetzt singt sie wieder, sie sucht ihren Weg. Allein. Die Räder des Wagens hört sie nicht mehr. Höher und enger wird der schmale Pfad, Dornen halten sie fest, sie löst sie sorgsam vom Stoff, will den Rock nicht zerreißen, weiter und höher geht sie. Hin zu den Himbeeren, die sie ganz oben in der Sonne weiß, an einer Stelle, die nur sie kennt. Sie wird bald dort sein.

Es ist still am Berg, dort wo die Büsche dicht stehen. Weiter oben in der Sonne kommen die Insekten, vielfältiges, schnelles Surren, ein scharfer, beißender Ton. Sie fühlt die klebrigen Insektenbeine in ihrem Schweiß, streift sie von ihren Armen, aus ihrem Gesicht. Ihr Lied bleibt zurück in dem Gestrüpp von Büschen und Dornen.

Sie fühlt staunend einen plötzlichen, kurzen Schmerz hinter sich, als würde er nicht zu ihr gehören. Als der Schmerz sie erreicht, spürt sie, wie der Beutel von ihrer Schulter gleitet. Das Splittern der Trinkflasche hört sie nicht mehr.

Am nächsten Morgen erst fand man sie. Sie lag weit unterhalb am Berg, an einer Stelle, an der keine Himbeeren wachsen, versteckt unter Farn, unter Tannen.

Der Bauer hatte am Abend zuvor in eine Richtung gewiesen. Es war die falsche. Man fand sie dort nicht, nur Glassplitter und eine leere Milchkanne fand man, bevor es dunkel wurde am Berg.

Jetzt knirschen die Räder des Leiterwagens auf dem Sandweg zurück ins Dorf. Sie liegt allein auf dem Wagen.

Sie liegt auf den Brettern des Wagenbodens, ausgestreckt, die Beine zerkratzt, ein Tuch bedeckt ihren Körper. Ein Arm ist durch die Leitersprossen des Wagens gefallen. Er schaukelt im Takt der Sandlöcher.

EIS, WINTER 1947

Das Mädchen trat aus dem Haus, schloss die Tür hinter sich. Es musste noch einmal nach dem Türgriff fassen, er war ihr unter den Handschuhen entglitten. Sorgsam vergewisserte das Mädchen sich, dass die Tür ins Schloss gefallen war, indem sie mit dem Fuß gegen das Holz der Tür drückte.

Als es die Stufen zum Gehweg hinunter sprang, klirrten die metallenen Schlittschuhe, die es an dünnen Lederriemen trug, heftig aneinander. Das Mädchen schob die Lederriemen über die wollenen Handschuhe in die andere Hand, hob das metallene Bündel Schlittschuhe hoch, versicherte sich, dass der breite Schlüssel, der die Metallkufen an die Schuhe schrauben soll, am Riemen hing.

Dann bog das Kind auf den Gehweg ein an diesem Wintertag. Die Straße still, kalte Feuchtigkeit umschloss das Kind, schloss Geräusche aus, reduzierte auf das Knirschen der kurzen, kleinen Schritte im Schnee. Und das Geräusch des klappernden Metalls.

 

Das Kind hielt inne, legte die Schlittschuhe ab und versuchte, die grauen Strickstrümpfe über die Knie weiter nach oben zu ziehen. Als es misslang, legte es die Handschuhe auf die Schlittschuhe, sorgsam darauf achtend, dass sie nicht mit dem Schnee in Berührung kamen. Der gefrierende feuchte Atem des Kindes hatte sich weißlich auf dem Mantelstoff abgesetzt. Mit dem bloßen Finger zeichnete das Kind in das Weiße, verlor sich für eine kleine Weile in Linien und Kreisen. Dann zog es die Handschuhe wieder an, griff nach den Lederriemen, an denen die Schlittschuhe hingen, und setzte seinen Weg fort, vorbei an Häusern, in denen schon mittags die Lampen eingeschaltet waren, hinein in einen Tag, an dem es nicht hell werden würde.

Als es sich dem See näherte, drangen Rufe und Lachen in die Welt des Kindes. Es stellte sich an das Ufer, dort, wo die Schlittschuh laufenden Kinder vom Eis auf das Ufer sprangen. Laute Sprünge zurück auf das Eis. Das Kind beobachtete konzentriert, durch die Reiffahnen des Atems sah sie die Tobenden, Lachenden auf der Mitte des Sees. Schwünge, schnelle Bewegung der Körper auf dem Eis. Die Lederriemen mit den metallenen Kufen hielt das Kind an den Körper gepresst.

Das Kind entfernt sich, geht am Ufer entlang, dorthin, wo die Büsche dichter werden, der Schilfgürtel breiter. Es hockt sich, zieht die Handschuhe aus, legt die metallenen Schlittschuhe vor sich. Mit dem Schlüssel lockert es die Schrauben, schiebt die Kufen zusammen, so dass sie unter die Schuhe passen würden. Die Halter seitlich der Kufen schiebt es enger, stellt die Schrauben fest, prüft, stellt einen Fuß hinein, ohne die Kufen an den Schuhen zu befestigen. Unschlüssig schaut das Kind zu der entfernteren Uferstelle, dort wäre sicheres Übergleiten vom Ufer zum Eis. Mit vorsichtigen Schritten tastet es sich durch die Weidenbüsche an den Ufersaum. Einsinkender Schuh, schaumiges Geräusch quellenden Eises. Das Kind tritt erschrocken zurück. Tastet wieder zwischen Schilf und Gebüsch, ahnt die Gefahr dieses gelbgräulichen Sumpfes im Schilf.

Durch das graue Schilf hindurch auf dem Eis sieht das Kind eine bunte Mütze, fröhliche Zöpfe unter einer bunten Mütze. Es hört kratzende Kufen auf hohlem Eis, sieht das Kind mit der bunten Mütze, draußen, vor dem Schilf auf dem Eis. Zöpfe und Arme schwenken in froher Fahrt auf den gelbgräulichen Sumpf im Schilf zu. Das Toben und Lachen der Kinder fern auf dem See frieren zusammen zu einem Klang, der sich um das Kind am Ufer legt, eng, einer Wand gleich, aus der es keinen Schritt hinaus gibt, kein warnendes Rufen hinaus dringt. Nur der Blick geht hinaus, hin zu der bunten Mütze und den fröhlichen Zöpfen, die jetzt in das Schilf hineingleiten. Die Kufen kratzen nicht mehr auf dem Eis, nur der aufquellende Sumpf des Ufereises ist hörbar, dann Stille.

Das Kind steht reglos, starrt in das Schilf. Unbeweglich steht es, den Oberkörper zum See hin geneigt, als wolle es auf das Schilf zugehen. Dann beginnt es unschlüssig auf der Stelle zu treten, unruhige Füße. Heftiger tritt das Kind sich drehend in Schlamm und Eis, verharrt unvermittelt einen Augenblick, bückt sich. Seine Hände greifen nach den grauen Handschuhen, es nimmt sie auf, wendet sich ab und geht mit kurzen, heftigen Schritten fort von Ufer und See zurück in den Tag, der nicht hell werden wird.

Am Ufersaum des Sees liegen Schlittschuhe mit Lederriemen.

IM PARK

Es kann überall geschehen, sagt man. Überall. Und ihm ist es im Park geschehen, dort, wo Blätter und Gras grün, Veilchen Kissen bilden, Gänseblümchen nicken.

Dort ist es geschehen.

Dort, wo nadelspitze Narzissen braune Erde durchstoßen, sie zur Seite schieben, so dass sich um ihre dicken Spitzen brüchige Wälle bilden, wo Ameisen, Käfer und Maden Rinde fressen, dass die Bäume nackt stehen, weiß sind und ohne Schutz, wo Leben aus der Erde gleitet.

Dort war ihr Gesicht, er hatte es gesehen zwischen den Ästen und grünem Haar und roten Lippen.

Er hatte es mitgenommen aus diesem Park, damit Ameisen und Käfer es nicht zerfressen. Er hatte es aufgehoben mit seinen Händen.

Ihr Gesicht.

KÄFERGLANZ

Das Gutshaus, die Scheune, gelbe Felder bis an den Horizont, open air in gelben Feldern.

Es ist genau so, wie sie es sich vorgestellt hatte: Die Picknickdecke auf dem Rasen: blau, grau, gelb kariert. Der feine gelbe Streifen wird zum Gelb ihres Kleides passen. Das Gras noch aufgerichtet, so liegt die Decke wellig und gibt an einer Seite einen Blick auf die gummierte Unterseite frei. Wegen der Feuchtigkeit.

Er ist dabei. Er hat sich nicht auf die Decke gesetzt, er sitzt im Gras. Die Hose etwas nach oben gerutscht, das Bein spärlich behaart. Sie ist verwundert.

Die Decke zwischen ihnen, die Sektflasche noch ungeöffnet. Zwei Gläser liegen daneben, das noch aufrechte Gras gibt keine Standfläche. Er, Bauer, ökologischer Hof. Sie, Lehrerin, Grundschule. Umweltaktivistin, immerhin. Mit ihren Kindern hatte sie für mehrere Tage Schulunterricht auf dem Bauernhof gemacht. Dabei war er ihr begegnet. Jetzt macht sie Ferien auf dem Bauernhof. Seinetwegen.

Ob er Haare auf der Brust hat? Sie sieht seine Hände, kräftige, arbeitsame Hände, doch angenehm sauber. Es ist ja richtig, ein Bauer arbeitet heute anders, auch ein Biobauer. Vermietet Zimmer, zum Beispiel. Ein Überbleibsel aus seiner Ehe. Sie ist jetzt fort. Wegen Unvereinbarkeit der Werte, hatte er gesagt.

Jetzt ist er hier, neben der Picknickdecke, sie darauf. Sie sieht die Musiker die Stühle im Eingang der Scheune besetzen. Das Wetter ist gut, die Zuschauer draußen. Die Klarinette! Ob das die Solistin ist? Der Kontrabass, irritiert über den erdigen Untergrund gezogen.

R(h)apsodie, ein klein wenig Verona*. Sie hat ihn eingeladen, er ist gekommen, der Sekt ungeöffnet. Warum nicht, hat er gesagt und gelächelt und ist gekommen. Sie hat inszeniert.

Der angenähte Henkel, an dem die zusammengefaltete Picknickdecke getragen werden kann, drückt unter ihrem Bein. Es wird Druckstellen geben. Sie zieht das Bein zur Seite, drapiert die gelbe Stofffülle ihres Kleides darüber.

Ein Fleck, ein kleiner schwarzer Fleck. Unauffällig versucht sie mit einer Stofffalte den Fleck zu überdecken. Und noch einer, auch einer an der Ausschnittkante.

Die Musiker stimmen, er schaut interessiert zu, scheint die Flecken nicht zu bemerken. Sie weiß ihn abgelenkt, greift nach dem Programmheft, um einen Grund dafür zu finden, die Brille aufzusetzen. Jetzt erkennt sie kleine ovale Tierchen, glänzender Rücken. Sie versucht sie wegzustreichen. Hartnäckig besetzen sie den gelben Stoff, lassen sich nicht wegschieben. Sie gibt auf, ignoriert.

Der erste Satz lenkt ab. Dort das Gutshaus, der Park, die Scheune, die Musik. R(h)apsodie, Verona in Schleswig-Holstein.

Die Tierchen im Haar, vermehrt auf dem gelben Stoff. Der zweite Satz. Die Streicher schmeicheln, die Klarinette schleicht sich in ihr Ohr, das Eternitdach der Scheune wird zu Reet. „Meligethes aeneus“, sagt er leise und beugt sich dabei zu ihr. „Ja, Amadeus“, flüstert sie und genießt seine Nähe und den zweiten Satz.

Es ist gut so, warum sollte sie ihn nicht an die Kultur heranführen? Mozart im Rapsfeld. Natur und Kultur ist kein Gegensatz, gewissermaßen. Klanglich nicht, sogar eine Symbiose – vom Wort her. R(h)apsodie.

Er beugt sich näher und sagt etwas lauter: „Rapsglanzkäfer, Gattung Meligethes, Familie der Nitidulidae.“ Die Klarinette jubelt im dritten Satz. Das Kleid gelb, übersät von kleinen, glänzenden Punkten, ihre Haut reagiert nervös. Die Finger ihrer rechten Hand schieben sich durch das Haar. Mit der linken versucht sie die Käfer vom gelben Stoff zu schieben. Sie kleben beharrlich.

„Der Raps blüht, sie fressen sich in die Blüten“, sagt er. Sie springt auf von der Decke, schüttelt hysterisch an ihrem Kleid. Die kleinen Käfer kleben. R(h)apsodie in gelb. Der dritte Satz beendet. In den Beifall hinein sagt er: „Sie sind resistent gegen unser Gift.“

Ein „Vorläufer“ der aktuell sehr erfolgreichen Hofkonzerte in Schleswig-Holstein waren die Konzerte Klassischer Musik in Scheunen und auf Höfen zur Zeit der Rapsblüte, deshalb „R(h)apsodie genannt. Das Besondere war, dass die Konzerte unter freiem Himmel stattfanden, nur bei Regenwetter in Scheunen. Die Atmosphäre während der Konzerte hatte Picknick-Charakter, man saß auf dem Rasen oder auf Gartenstühlen bei mitgebrachtem Essen und Getränk.

IN ORDNUNG

Irgendwann waren sie mir abhanden gekommen. Schleichend, ich hatte es nicht bemerkt. „Du reagierst nicht“, hatte er gesagt. Da merkte ich es zum ersten Mal.

Und das machte mich aufmerksam. Dieser Satz „Du reagierst nicht“ hatte mich aufmerksam gemacht. Zuerst versuchte ich es mit Selbstkontrolle. Ich ging durch die Stadt. Da, im Schaufenster die Handtasche. Selbstkontrolle. Nichts, gar nichts. Ich wollte sie nicht. Sie lag da im Schaufenster zwischen anderen Taschen, blasses Lindgrün, fester Bügel, vorn die dekorativen Reißverschlüsse und, weil die sitzende Schaufensterpuppe ihre Hand zwischen die Bügel steckte, sah ich im geblümten Innenfutter das Handyfach. Perfekt, die Farbe, das Handyfach, die Reißverschlüsse, doch: Nichts. Ich ließ sie im Schaufenster, ich wollte sie nicht.

Damit hatte es begonnen. Und er? Auch ihn wollte ich nicht. „Du reagierst nicht“, sagte er des Öfteren. Ich kontrollierte. Er hatte Recht, ich wollte nicht, ich wollte nicht ihn, ich wollte nichts. „Bedarfsmangel“, sagte er geringschätzig und ging. Er sagte, er hole Zigaretten und kam nicht wieder. Trauer? Nichts. Wut? Nichts.

Da wurde mir endgültig klar, sie waren mir abhanden gekommen. Meine Emotionen waren mir abhanden gekommen. Ich testete mich, suchte unglückliche Freunde auf. Nichts. Ich ging ins Kabarett, Lachsalven um mich herum. Bei mir? Nichts. Nicht einmal die Verzweiflung über die verlorenen Emotionen fand ich. Nichts.

Dann der Gang zum Psychiater. „Wollen Sie etwas ändern?“, fragte er und sein Blick drang in mein Innerstes. Er wartete meine Antwort nicht ab, er sah, dass ich nichts wollte, schickte mich raus und später die Rechnung.

Den entscheidenden Kick gab mir eine Freundin. Liebeskummer hatte sie wie stets. „Du bist ohne Empathie“, heulte sie und wies mich zur Tür. Als ich draußen auf der Fußmatte stand, begriff ich: Ich würde bald allein sein, ohne Handtasche, ohne Mann, ohne Freunde. Und mir war klar, so gehört es sich nicht für ein Leben. Es gibt Konventionen, die man zu leben hat.

Dann kam mein Entschluss. Ich begann zu sammeln. Ich vergaß zu sagen, zuerst kaufte ich Ordner. Einen schwarzen für Negatives, einen roten für Positives. Den bunten kaufte ich später, als ich merkte, dass sich nicht alles einordnen ließ in schwarz und rot. Dann ging ich sammeln.

Das Paar drüben am Tisch. Er strich leicht über ihre Hand, dann über das Haar. Sie schaute ihn an. Ich suchte den Begriff. Dann fiel er mir ein: Zärtlichkeit. Der Begriff Zärtlichkeit für ihn. Bei ihr musste ich überlegen, erst als sie gegangen waren fand ich den Begriff für sie: Glück. Dann notierte ich kurz skizziert die Handlung: Hand streicheln, Haar streicheln. In Druckbuchstaben darunter: Zärtlichkeit. Strahlender, langer Augenaufschlag: Glück.

Die lindgrüne Tasche aus dem Schaufenster habe ich mir gekauft. Ich trage sie stets bei mir, gefüllt mit Zetteln gleicher Größe und einem Kugelschreiber, damit ich sofort notieren kann. Die Zettel Zärtlichkeit und Glück kamen in den roten Ordner.

Der Bahnhof ist ein sehr geeigneter Platz. Oben auf dem Bahnsteig stehen Bänke, ich setze mich darauf und beobachte. Tränen dort, Abschied. Er kann doch nicht für immer sein? Also nicht der schwarze Ordner. Das war der Moment, an dem ich die Anschaffung des bunten Ordners beschloss. Abschiedstrauer kam in den bunten. Besonders ergebnisintensiv ist es, wenn Kinder und Enkel die Großeltern vom Zug abholen. Kinder laufen auf die Alten zu: Freude, roter Ordner. Das Hoffentlichgehtdasgut-Gesicht, bunter Ordner. Ich bemerkte die Vielfalt.

Auf den Friedhof nehme ich gleich den schwarzen Ordner mit, hefte an Ort und Stelle ab. Weil es dort so eindeutig ist, nehme ich den Ordner gleich mit. Jedenfalls dachte ich es. Es stimmt auch überwiegend, aber eben nicht immer. Die losen Blätter für den bunten Ordner trage ich in der lindgrünen Tasche nach Hause. Gleichgültigkeit, zum Beispiel. Oder Erwartung, eigentlich Erbschaftserwartung. Trotzdem ist es bequem, den Schwarzen gleich dabei zu haben, weil ich dort nur auf der Bank zu sitzen brauche. Ansonsten ist es zu unhandlich, die Ordner mit zuschleppen. Meistens hefte ich am Ende des Tages ab.

 

Ich achte darauf, dass die Ordner sich in gleichem Maße füllen. Neulich merkte ich, dass der schwarze Ordner sich dicker füllte. Also wieder Kabarett. Ich bemerkte, da drüben bleibt das Lachen im Halse stecken, die Einordnung ist nicht leicht. Dort Tränen, Lachtränen, Schmunzeln. Für den Oberbegriff Lachen habe ich eine Extrarubrik angelegt im Roten. So kann das Lachen, das im Halse stecken bleibt, in die Unterordnung.

Was mir die Ordner nützen? Mein Fundus ist groß, inzwischen. Ich kann auf eine breite Palette an Emotionen zurückgreifen. Es ist praktikabel, wenn ich vor einem Kontakt anrufe. „Wie geht es Dir? Was ist passiert?“, frage ich. Dann suche ich im Ordner. Mann weg, wahrscheinlich Zigaretten geholt, abgeheftet unter W wie weg, denn es geht ja auch mal etwas anderes verloren. Entsprechende Emotion: Wut. Dann gehe ich hin. „Unglaublich, diese Kerle, Zigaretten holen nennt man das, unglaublich! Erwürgen würde ich ihn, wenn er nicht weg wäre“, rege ich mich dann auf nach Notiz. „Du bist so wohltuend empathisch“, sagte sie unter Tränen.

Es klappt gut.

Auf keinen Fall dürfen meine Ordner abhanden kommen.

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